Wohlige Wärme

In der „Mitte“ und an den „Rändern“ der Gesellschaft

„Die Fremden stehen für alles schwer Fassbare, Schwächliche, Instabile und Unvorhersehbare im Leben, das das alltägliche Gewusel mit Mahnungen an unsere eigene Ohnmacht und die schlaflosen Nächte mit alptraumhaften Vorahnungen vergiftet. (…) Welche Erleichterung ist es da, (…) in die vertraute, gemütliche und heimatliche, manchmal schwankend, aber tröstlich unangefochtene und erträgliche Welt von Gestern zurückzukehren – eines Gestern, das uns – und mithin mir als einem von ‚uns‘ – gehört, das unser Gestern – nämlich unsere, nicht ihre Vergangenheit – ist, das wir und nur wir allein besitzen (und also auch ge- und missbrauchen dürfen und können, wie es uns gefällt).“ (Zygmunt Bauman, Retrotopia, Berlin, edition suhrkamp, 2017)

Zygmunt Bauman diagnostiziert in „Retrotopia“ eine „Aufteilung in ‚uns‘ und ‚sie‘“, eine Aufteilung der Welt in Freund und Feind, ganz nach dem Vorbild der Thesen von Carl Schmitt, der klare Fronten formulierte, nämlich gegen all diejenigen, die als „Fremde“ markiert werden können und daher als „Feinde“ zu behandeln wären. Zygmunt Bauman vergleicht diese Sicht der Dinge mit „Stammespraktiken in der Maske des Schutzgewährens und Abschirmens der ‚Gemeinschaft‘“ und spricht von „Tribalismus“: Dem zweiten Kapitel der „Retrotopia“ gibt Zygmunt Bauman die Überschrift: „Zurück ans Stammesfeuer“. Er teilt die Warnung Timothy Snyders: „Wir haben wenig Grund zu der Annahme, dass wir den Europäern der 1930er und 1940er Jahre moralisch überlegen oder weniger anfällig für Ideologien sind, wie Hitler sie so erfolgreich propagierte und umsetzte.“ (Timothy Snyder, Black Earth – The Holocaust as History and Warning, 2015, zitiert nach Zygmunt Bauman, Retrotopia)

Kampfbegriffe der Exklusion

Jedes „Wir“ ist Ausdruck der Identität, die Menschen suchen, um das Gefühl einer Gemeinsamkeit zu erleben. Der Ort, an dem sich dieses „Wir“ wohlfühlt, ist die „Heimat“. Dieses „Wir“ kann ebenso inklusiv oder exklusiv definiert werden wie die „Heimat“. Es ist denkbar, dass Menschen, die sich noch nicht an diesem magischen Ort der wohligen Wärme eingefunden haben oder die sich bemühen, an diesen Ort zu gelangen, freundlich eingeladen werden, sich dem diesen Ort konstituierenden „Wir“ unter welchen Bedingungen auch immer anzuschließen. Ebenso denkbar ist, dass der Zugang zu diesem Ort durch die Formulierung bestimmter nur schwer oder gar nicht erfüllbarer Bedingungen begrenzt wird. Dann wird der Begriff der „Heimat“ zu einem das „Wir“ spaltenden „Kampfbegriff“, vielleicht sogar zu einem „Albtraum“.

Die zweite Lesart von „Wir“ und „Heimat“ ist nach den Erfahrungen der Geschichte wahrscheinlicher als die erste. Fatma Aydemir und Hengameh Yaghobifarah haben diese Lesart in dem von ihnen herausgegebenen Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“ (Berlin, Ullstein, 2019) aus der Sicht von Menschen dokumentiert, denen in diversen öffentlichen Debatten abgestritten wird, dass Deutschland – oder das Land, in dem sie gerade leben – ihre „Heimat“ sein oder jemals werden sein könnte. In meinem Essay „Territorialismus oder wie viel Heimat verträgt die Demokratie?“ habe ich versucht, die wesentlichen Botschaften dieses Buches zusammenzufassen.

„Heimat“ ist die geographische Dimension der „Kampfbegriffe“ im Streit um die Zugehörigkeit des „Wir“. Begriffe wie „Geschichte“ oder „Tradition“ bilden die historische Dimension eines exklusiven und exkludierenden Verständnisses von „Heimat“ und „Wir“. Diejenigen, die ein solches Verständnis behaupten und pflegen, versuchen, sich als gesellschaftlich dominante Gruppe zu konstituieren und diese Dominanz an einem gemeinsamen „Stammesfeuer“ zu pflegen. Mit der Metapher des „Stammesfeuers“ ist nicht unbedingt ein kleiner Platz in der Wildnis gemeint. Dieser wärmende Platz kann ganze Länder umfassen, aber allem, was nicht zu diesem Land gehört, wird der Zugang zu diesem heimatlich wärmenden Feuer verweigert. Mauern, Zäune, Stacheldraht sind die äußeren Zeichen der Exklusion. Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antiziganismus sind Modi, in denen Exklusion begründet wird.

Zygmunt Bauman beschreibt die Sucht nach dauerhafter und verlässlicher Exklusion als „Angst“ und „Panikmache“ (Zygmunt Bauman, Die Angst vor den anderen – Ein Essay über Migration und Panikmache, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2016). Der Titel der ebenfalls 2016 erschienenen Originalausgabe ist noch deutlicher: „Strangers at Our Door“, Hannibal ante portas. Es geht um sich öffnende und sich schließende Tore und Türen, Gewährung oder Verweigerung von Zugang, und diejenigen, die vor der Tür warten und sich nicht als so geduldig erweisen wie der Wartende in Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, werden mit pejorativen Bezeichnungen belegt, deren deutlichste der Begriff „Feind“ ist: „Die Nation gegen einen (wie Carl Schmitt dies in seiner Politischen Theologie nennt) zum Feind erklärten Gegner zu den Waffen zu rufen, hat für Politiker auf der verzweifelten Suche nach Wählerstimmen noch einen weiteren Vorteil: Solch ein Ruf hebt die Selbstachtung der Nation und bringt dem Rufenden daher ihre Dankbarkeit ein (…)“

Es ließe sich ein Zusammenhang zwischen der Ankündigung Alexander Gaulands am Abend der Bundestagswahl 2017, er und seine Partei würden die Bundeskanzlerin „jagen“, und den Plakaten einer sich offen als „national“, „revolutionär“ und „sozialistisch“ verstehenden Partei – so steht es auf den T-Shirts ihrer Anhänger – denken. Diese Partei kündigte bei einer vergangenen Wahl auf ihren Plakaten an, nicht nur Plakate zu „hängen“. Ihre im Bundestagswahlkampf 2021 platzierten Plakate mit dem Aufruf, Angehörige der Grünen zu „hängen“, musste sie nach einigem Hin und Her verschiedener gerichtlicher Instanzen immerhin wieder abhängen. Vielleicht lohnt sich eine Analyse im Sinne Ludwig Wittgensteins, der darauf hinwies, dass die Bedeutung eines Wortes sich aus seinem Gebrauch in der Sprache ergibt, oder anders gesagt im Sinne eines Satzes, den ich Gerd Koenen verdanke: „Kontext schlägt Text“.

Die Mitte und die Extreme – Versuch einer Dekonstruktion

„Verlust der Mitte“ ist der ikonische Titel eines 1948 erschienenen Buches des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (1896-1984). Der Inhalt hat auch etwas mit der Metaphorik des rechten Maßes zu tun, was auch immer das sein soll. Ich zitiere den Buchtitel nicht, weil ich die Lektüre des Buches empfehlen möchte, auch wenn sie ein Verständnis der Kulturkritik in der Zeit nach Fall der NS-Gewaltherrschaft sicherlich fördern dürfte. Der Titel ist inzwischen geradezu zu einem Topos politischer und wissenschaftlicher Debatten geworden. Beachtenswert sind die sogenannten „Mitte-Studien“ aus Bielefeld und aus Leipzig. Aus Bielefeld erschien 2019 „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“, 2021 „Die geforderte Mitte – Rechtsextreme und Demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21“. Die Leipziger Forscher*innengruppe nennt ihre Studien inzwischen jedoch – meines Erachtens auch passender – „Autoritarismus-Studien“.

Doch ist die „Mitte“ der wahre Ort wohliger Wärme, Ort des „Stammesfeuers“, von dem Zygmunt Bauman schrieb? Und wer konstituiert die „Mitte“, die „verloren“ beziehungsweise „gefordert“ sein soll? Warum versuchen gleich mehrere Parteien, sich als Vertreter*innen der „Mitte“ zu behaupten? Was bedeutet es, wenn jemand von sich behauptet, sich „in der Mitte der Gesellschaft“ zu positionieren? Und was ist mit denen, die sich nicht in der „Mitte“ befinden, sondern an den „Rändern“, an den „Extremen“? Eine Gruppe von 19 Autor*innen aus dem Umfeld der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main hat in dem Sammelband „Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts“ (Herausgeber*innen sind Eva Berendsen, Katharina Rhein und Tom David Uhlig, das Buch erschien 2019 im Berliner Verbrecher Verlag) die Begriffe der „Mitte“ und des „Extremismus“ dekonstruiert. Die Autor*innen verstehen beide Begriffe als mit einem grundsätzlich klaren, aber oft mehr oder weniger bewusst versteckten politischen Interesse verwendete Kampfbegriffe.

In ihrer Einleitung schreiben die Herausgeber*innen: „Die Fiktion der Mitte befriedet soziale Konflikte, in dem sie Gemeinsamkeit schafft, wobei ihr die Extremismustheorie behilflich ist: Sie stiftet eine Gemeinsamkeit im Negativen, die Gemeinsamkeit, nicht ‚extrem‘ zu sein. Der Antagonismus in der öffentlichen Debatte zwischen der Mitte und ihren Rändern ist ein Reinigungsritual, das abspalten soll, was nicht dazugehören darf. Gesellschaft, in der doch alle leben, wird in arbiträre Teile zersprengt, um sich selbst zu vergewissern, dass es so etwas ‚bei uns‘ nicht gibt.“ Ähnlich verhält es sich mit Begriffen wie Volk, bürgerlich, Heimat – alles Begriffe, die irgendwie der „Mitte“ zugeordnet werden sollen, damit diejenigen, die einen dieser Begriffe in Frage stellen, ausgegrenzt werden können.

Das Buch „Extrem unbrauchbar“ erschien im Jahr der Thüringer Landtagswahl, in der Die Linke und die AfD eine negative Mehrheit erhielten, die manche Kommentator*innen und diverse Vertreter*innen des selbsternannten „bürgerlichen Lagers“ zum Anlass nahmen, beide Parteien als extremistische Parteien zu markieren und damit ignorierten, dass Die Linke sich in den vergangenen über 30 Jahren in weiten Teilen zu einer sozialdemokratischen Partei entwickelt hatte. Dass in der Linken auch ehemalige SED-Mitglieder tätig sind und zum Teil auch Minister*innenämter ausüben, wird immer wieder kritisch angemerkt, vergleichbare Karrieren von Mitgliedern der sogenannten Blockparteien des DDR-Parteiensystems eher ignoriert, denn diese waren durch Beitritt zu ihrem „westlichen“ Gegenstück gereinigt. Es galt und gilt die sogenannte „Hufeisen-Theorie“, in der sich die Parteien des rechten wie des linken Randes angeblich berühren, weil sie einander ähneln. Im Bundestagswahlkampf 2021 erlebten wir ein Revival dieser „Hufeisen-Theorie“, umso mehr, als sich CDU und CSU in ihrer Rolle als geborene Regierungsparteien bedroht fühlten.

Tom David Uhlig interviewte für das Buch die Betreiber der Facebook-Seite „Das goldene Hufeisen“, die die Auffassung vertreten, dass „es keine Mitte gibt“. Was als „Mitte“ wahrgenommen werde, unterscheide sich von Land zu Land und habe auch etwas damit zu tun, ob es so etwas wie eine wirksame und differenzierte politische Bildung gebe: „Was die Mitte tatsächlich kaputt macht, ist das Unvermögen sich ernsthaft mit politischen Konzepten auseinanderzusetzen. Sehr viele Menschen können nicht einmal die Grundzüge der bürgerlichen Gesellschaft beschreiben, von unterschiedlichen Versionen ganz zu schweigen.“ Es folgt die Frage, ob Demokratie nur als parlamentarische Demokratie oder auch in anderen Formen denkbar und machbar wäre, beispielsweise über „eine Demokratisierung aller wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereiche“, wie sie der „Anarchismus“ vertrete. Diese Auffassung muss man*frau nicht teilen, sie ist aber legitimer Teil politischer Auseinandersetzungen in einer Demokratie und über das, was Demokratie ausmacht.

Das Interview zeigt, wie sich „Mitte“ und „Extreme“ – je nach Standpunkt – unterschiedlich definieren lassen. „Extremismus“ – so Sarah Schulz in ihrem Beitrag – ist „kein neutraler, sondern ein politischer Begriff, durchaus auch ein ‚Kampfbegriff‘“. Robin Koss analysiert als Beispiel für den Einsatz dieses Kampfbegriffs die sogenannte „Extremismus-Formel“, die die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) einführte und die nach ihrer Rücknahme in diversen Landtagen von der AfD wieder eingefordert wird. Robin Koss schreibt: „Die Extremismus-Formel erfüllt für die Partei (NR: die AfD) nicht nur eine Immunisierungsfunktion, sie bietet ihr auch das Handwerkszeug, um Demokratieprojekte unter Druck zu setzen.“

Ein binärer Code – eine Gefühlssache

Ingolf Seidel referiert in „Extrem unbrauchbar“ die Geschichte des Extremismus-Begriffs, wie er in der politischen Auseinandersetzung verwendet wird. Erstmals wurde der Begriff 1974 im Verfassungsschutzbericht der Bundesregierung – Innenminister war Werner Maihofer (FDP) – verwendet. „Er ersetzt damit das bis dahin gängige Wort ‚radikal‘, welches noch im ‚Radikalenerlass‘ von 1972 Anwendung findet und mit dem eine Regelanfrage beim Inlandsgeheimdienst für Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst verankert wurde.“

Die Verwendung der Begriffe „extremistisch“ oder „radikal“ suggeriert letztlich, dass die mit diesen Begriffen Bedachten „verfassungsfeindlich“ wären, links wie rechts. Als ideologische Grundlage wird regelmäßig eine popularisierte Version der Totalitarismus-Theorie Hannah Arendts herbeizitiert: „In Deutschland hat die Gleichsetzung von Faschismus / Nationalsozialismus auf der einen Seite und Sozialismus / Kommunismus auf der anderen eine nicht zu unterschätzende Entlastungsfunktion im Umgang mit den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Nach 1989 wandelte sich diese Gleichsetzung in die Formel von den ‚beiden deutschen Diktaturen‘.“ Dana Ionescu spricht in ihrer Analyse der Rezeption Hannah Arendts in Deutschland von einer „Totalitarismustheorie, die eigentlich keine ist“. Sie zitiert die Hannah-Arendt-Forscherin Ingeborg Nordmann: „Arendt arbeitet in ihrer Analyse der totalen Herrschaft zwar Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus heraus, entwickelt aber ‚kein Begriffssystem‘, ‚das als analytisches Raster der historischen Wirklichkeit übergestülpt werden könnte.‘“

Letztlich dominiert – allen Differenzierungen zum Trotz – ein binärer Code, mit dem der jeweilige politische Gegner in die Nähe des jeweilig gegenüberliegenden Extrems geschoben werden kann, um ihn gegenüber Wähler*innen zu verunglimpfen. So geraten lenkende Maßnahmen des Staates in der Wirtschafts-, Sozial- oder auch in der Verkehrspolitik schnell unter Sozialismus-Verdacht, ohne dass näher darüber nachgedacht werden muss, dass es unterschiedliche Formen von „Sozialismus“ gibt, von denen manche demokratisch sind, manche nicht. Von einem Parlament beschlossene Maßnahmen zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen, zur Besteuerung von hohen Einkommen, eine Erhöhung des Mindestlohns schaffen noch lange keine sozialistische Gesellschaft, Parteien, die dies vertreten, sind nicht unbedingt linke und schon gar nicht linksextremistische Parteien. Allerdings werden „Linksextremismus“ und „Sozialismus“ in manchen politischen Debatten gerne miteinander identifiziert. Mitunter geht der „Extremismus“-Verdacht so weit, dass – so Katharina Rhein in ihrem Beitrag mit dem Titel „Politische Bildung als positiver Verfassungsschutz?“ – „Kritik am Staat in der extremismustheoretischen Herangehensweise der Tendenz nach per se als demokratiegefährdend und ‚extremistisch‘“ markiert wird. Auf der anderen Seite verhält es sich mit der Identifikation rechtsorientierter Politik mit dem Begriff des „Faschismus“ ähnlich. Es hilft meines Erachtens wenig, einen Donald J. Trump als „Faschisten“ zu bezeichnen. Es gibt sicherlich Anklänge, aber die alleinige Nennung des Wortes ist aus meiner Sicht unterkomplex und letztlich auch gefährlich. Sie verharmlost das Problem!

Lillemor Kuht konstatiert „die Vorstellung einer guten Mitte mit extremen Rändern, von denen alle Gewalt ausgeht. Entsprechend wird Rassismus fast ausschließlich als Problem eines vermeintlich rechten Randes verhandelt.“ Wer sich zur „Mitte“ zählen darf, kann offenbar gar nicht „rassistisch“, „antisemitisch“, „antimuslimisch“ oder „antiziganistisch“ sein. Wer zur „Mitte“ gehören will, entlastet sich. Darüber, wie rassistisch, antisemitisch, antimuslimisch, antiziganistisch Angehörige der „Mitte“ jedoch sein können und sich auch tatsächlich verhalten, wird der Mantel des Schweigens gebreitet. Die genannten „Mitte“- und „Autoritarismus“-Studien belegen – darauf verweisen Katharina Rhein und Tom David Uhlig – dass nicht nur diejenigen, die sich eindeutig rassistisch etc. äußern, ein Problem sind, sondern auch und vielleicht noch mehr diejenigen, die solchen Äußerungen und Verhaltensweisen nicht gänzlich ablehnend gegenüberstehen“. Sie zitieren ein Beispiel aus der Leipziger Studie „Die enthemmte Mitte“ von 2016: „Lediglich 43 % verneinen entschieden die Aussage, der Einfluss der Juden sei auch heute noch zu groß und nur 50 % der Befragten lehnen eindeutig die Aussage ab, Juden würden mit ‚üblen Tricks‘ arbeiten, um zu erreichen, was sie wollen. Das bedeutet, die Hälfte der Bevölkerung beginnt bei dieser Frage mindestens abzuwägen: Zustimmen möchte ich dem wohl nicht, aber ein bisschen scheint ja wohl was dran zu sein.“

Die zentrale Einsicht des Buches „Extrem unbrauchbar“ lautet letztlich, dass die Begriffe „Mitte“ und „Extremismus“ sich nicht für die politische Auseinandersetzung eignen. Es sollte um die Inhalte gehen, zu denen die Frage nach den Grundzügen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats ebenso gehört wie die vielen Fragen rund um die verschiedenen gesellschaftlichen Debatten, über die in Wahlen und anschließend in den Parlamenten entschieden werden soll: vom Klimaschutz über die Wirtschaftspolitik bis hin zur Gestaltung von Ein- und Zuwanderung, über Bildungs-, Forschungs- und Jugendpolitik zur Frage nach dem Schutz von Minderheiten. Es ließe sich nach Interessen fragen, nach dem finanziellen oder ideellen Profit, den jemand aus bestimmten Positionen erzielt oder erzielen könnte. Mit „Mitte“ oder mit „Extremismus“ hat das nichts zu tun. Mit diesen Begriffen werden Gefühle bedient, die diejenigen, die sie verwenden, natürlich in die gute „Mitte“ rücken, während alle anderen auf Plätze an den Rändern der Gesellschaft verwiesen werden.

It’s the emotion, stupid

Es reicht in der Regel nicht, Themen in den Medien und in öffentlichen wie privaten Debatten zu platzieren. Sie müssen emotional besetzt werden. Vielleicht ist es sogar ein grundlegendes Problem des Klimaschutzes und der Demokratie, dass sich diese Themen nur schwer mehrheitsfähig emotionalisieren lassen. George Lakoff und Elisabeth Wehling haben bei einer Analyse des Wahlerfolgs von Ronald Reagan festgestellt, dass er gewann, weil er über Werte sprach und nicht über Sachfragen: „Einfach ausgedrückt: Es genügt nicht, den Menschen zu sagen, welche Politik man betreiben möchte – man muss ihnen sagen, weshalb diese Politik eine moralische Notwendigkeit ist“. Umgekehrt bedeutet dies, dass man*frau die Politik der politischen Gegner als unmoralisch markieren muss.

Simon Strick spricht in seinem Buch „Rechte Gefühle – Affekte und Strategien des digitalen Faschismus“ (Bielefeld, transcript, 2021) von „emotioneering“ als Strategie, „ein engineering von ‚rechten Gefühlen‘“. Das gilt alters- und schichtenübergreifend. Simon Strick warnt davor, „rechte“ Positionen vorwiegend älteren, sozusagen als ewig Gestrige markierbaren Menschen zuzuschreiben: „Dass rechtspopulistische Parteien insbesondere 50plus Wähler*innen ansprechen, ethnonationalistische Agitation im Netz aber oft von 14- bis 35-jährigen betrieben wird, diese Diskrepanz wird in der Forschung kaum thematisiert.“ Beispielhaft zitiert er die 14jährige „YouTuberin Soph, deren Kanal wegen rassistischen, antimuslimischen und anderen hate-speech-Verstößen am 20. Mai 2019 von der Plattform gelöscht wurde. Die junge Frau hatte „970.000 Abonnent*innen.“

Nur am Rande: auch die Teilnehmer*innen rassistischer und rechtsextremistischer Demonstrationen gehören nur zu einem kleinen Teil der 50plus-Generation an. Dies bedeutet natürlich nicht, dass es in der 50plus-Generation keine entsprechenden Einstellungen gäbe, siehe PEGIDA. Allerdings unterscheiden sich Bereitschaft und Kompetenz zu bestimmten Aktionsformen. Angesichts der „Querdenker“-Demonstrationen lässt sich heute sagen, dass „rechte“ Positionen, Verschwörungserzählungen und „rechte“ Militanz im doppelten Sinne des Wortes „quer“ durch die Gesellschaft und durch die Altersgruppen finden lassen.

Simon Strick präsentiert ein lesenswertes Panorama der Präsenz „rechter“ Gefühle, Themen und Aktionen im Internet. Lesenswert sind – das ist bei wissenschaftlichen Büchern selten der Fall – auch die Fußnoten. 176 Abbildungen und Screenshots illustrieren den Text. Ich hätte mir allerdings gewünscht, die Abbildungen wären in allen Fällen – so weit möglich – etwas größer und vor allem alle farbig abgedruckt worden. Die kleinen Schwarz-Weiß-Bilder tragen möglicherweise dazu bei, die Gefahr, die von diesen Bildern im Netz ausgeht, zu unterschätzen. Aber vielleicht ist das nur mein persönlicher Eindruck. Farbig sind wenige Bilder, so das Titelbild. Es zeigt ein Mädchen, das Schutz suchend und dankbar einen ordengeschmückten Pepe the Frog umarmt, der wissend und selbstsicher in die Ferne schaut. Der Titel des 2017 als anonymes Internet Meme verbreiteten Bildes lautet „He volunteered for Meme War Service“. Pepe the Frog wurde im Wahlkampf Donald Trumps 2016 über die Alt-Right-Bewegung populär und wurde eines der Erkennungszeichen der Identitären Bewegung.

Das Buch hat drei Teile. Im ersten Teil mit dem Titel „Reflexiver Faschismus: Ein Klimamodell“ präsentiert Simon Strick die Grundlagen seiner Analyse, die sich als Ergebnis im dritten Teil mit dem an Lenin mahnenden Titel „Was Tun?“ wiederholen. Im zweiten Teil belegen 15 thematische Fallstudien die Grundthese des Buches. Hier hätte eine andere Formel Lenins gepasst: „Wer wen?“ Ich nenne beispielhaft einige Überschriften: „Nazis weinen“, „Junggesellenmaschinen“, „Rechter Beziehungsalltag“ und „Meine Freiheit Matters“. In einem Untertitel findet sich der Begriff „Gefühlsfaschisten“. Welche Gefühle das sind, illustriert eine kurze Graphic Novel (diese wurde in Farbe abgedruckt): Wir sehen einen Jungen, der traurig und einsam auf einem Sofa sitzt und sich erschießen möchte. Eine Hand greift nach seinem Revolver, wir sehen die Tränen des Jungen, den ein väterlich dargestellter Hitler im Wehrmachtsmantel mit Hakenkreuzbinde in Sicherheit bringt. Den Revolver wirft Hitler weg. Geborgenheit, Schutz, Neuanfang – all das findet sich in dieser Erzählung.

Methodisch orientiert sich Simon Strick an der Affektforschung: „Die Affektforschung ist prädestiniert, um solche Schwellen und Orientierungsarbeiten zu erhellen und zu sortieren, denn ihre zentrale Frage lautet: Wann, wie und warum stellt sich überhaupt etwas als Ereignis ein?“ Diese Frage leitet Simon Strick aus Kathleen Stewarts Buch „Ordinary Affects“ (Duke University Press 2007) ab, ein Buch, dass „eine kleinteilige Ethnograhie völlig banaler Affekte“ bietet. Deren Wirkung: „Subjekte werden in ideologisch-emotionalen Konstrukten beheimatet, die auf der alltäglichen Navigation von disparaten Eindrücken und Situationen aufsetzen.(…) Bevor sich agency (Handlungsmacht) und Radikalität einstellen, vollzieht sich habitation (Beheimatung) und ein provisorisches Zurechtfinden in einem (immer) unübersichtlichen Alltag.“ Die von Hannah Arendt angesichts der Figur des Adolf Eichmann diagnostizierte „Banalität des Bösen“ ist – ich erlaube mir diesen Exkurs – nur der Anfang: wer das „Böse“ zum „Guten“ erklärt, richtet sich dort häuslich ein – wie in einem geschützten und für Fremde, für Feinde unzugänglichen Raum – und strebt Schritt für Schritt an, all das zu eliminieren, zu vernichten, dass in diesen Raum einzudringen droht und dem Wunschbild der in sich geschlossenen und nach außen abgeschotteten eindeutigen Gesellschaft widerspricht.

„Ökosystem“ Faschismus

Das Besondere am Faschismus liegt vielleicht darin, dass dort, wo er erkennbar auftritt, immer wieder abgestritten wird, dass es sich um Faschismus handelt. Simon Strick definiert die Reichweite: „Was ich reflexiven Faschismus genannt habe ist kein Phänomen, das primär zensorisch und / oder strafverfolgend zu bekämpfen wäre. Es ist ein Ökosystem, eine Serie von teilweise tödlichen Klimazonen und Mechaniken, die aktiv ausgebreitet werden. Sie finden fast ideale Bedingungen in demokratischen Systemen, im Plattformkapitalismus und in den Reaktionsgewohnheiten digitalisierter Öffentlichkeiten vor. Es ist ein diskursiver Klimawandel.“

Dies ist nicht das Problem eines einzelnen Staates, es „ist ein Weltproblem“. Der heutige Faschismus ist als „Gefühlswelt“ zu verstehen, der den Rassismus-Vorwurf, den Vorwurf der Diskriminierung umdreht. Als Hillary Clinton die potenziellen Wähler*innen Trumps als „deplorable“ bezeichnete, kleideten sich Menschen mit T-Shirts, die die Aufschrift trugen: „I am a deplorable“. Einerseits sind die „deplorables“ die wahrhaft Diskriminierten, andererseits sind sie stolz darauf, damit auch so etwas wie eine Elite zu repräsentieren. Sie sind die Macher*innen. So tragen manche Neo-Nazis T-Shirts, mit denen sie sich darüber lustig machen, dass Politiker*innen Anschläge „Einzeltätern“ zuschreiben, Aufschrift: „politisch motivierter Einzeltäter“. Simon Strick zeigt die Bilder.

Jede Menge ist mehr als die Summe ihrer Teile. Genau dies trifft auch auf die rechte Szene zu: es gibt ein „Ökosystem“ der „Einzeltäter“. Simon Strick zitiert Martin Sellner, den – so ließe sich sagen – Chefideologen der Identitären Bewegung, der den „Übergang von einer ‚Subkultur‘ zu einer ‚Gegenkultur‘“ fordert, und Milo Yiannopoulos, der „die Alt-Right einmal als ‚1968 von Rechts“ tituliert“ hat. „Die Gesten ‚linker Kritik‘ und deren emanzipativer Arbeit werden übernommen, ohne die Inhalte zu registrieren.“ Anders gesagt: die Inhalte, die „registriert“ werden, sind das Gegenbild, das es zu bekämpfen gilt. Insofern wird „reflexiver Faschismus“ zu einem Faschismus der die erlebte Welt spiegelt, sicherlich in einem Zerrspiegel, aber mit dem Anspruch, dass das Spiegelbild die eigentliche Wirklichkeit beschreibt, sozusagen als unbedarfte Alice auf dem Weg hinter die Spiegeloberfläche, hinter der sie ja tatsächlich faschistoïde Elemente avant la lettre entdeckt.

Der Begriff der „Alternative“ ist Programm, auch im Zitat der TINA-Rhetorik Margaret Thatchers und Angela Merkels, und so erfreut sich die „rechte“ Szene an Bildern von glücklichen Familien wie aus einem Familienfilm der 1950er Jahre: die lächelnde Frau kocht, die Kinder – natürlich ein Junge und ein Mädchen – begrüßen den von der Arbeit heimkehrenden Vater und schauen, ob in seiner Aktentasche vielleicht noch ein Frühstücksbrot für sie übriggeblieben ist (eines der Farbbilder im Buch). Unterschrift des Bildes: „Right Wing Extremism“. Ein AfD-Plakat des Bundestagswahlkampfs 2017 zeigt eine schwangere Frau auf einer Wiese mit Anspielung auf das Netzwerk der „Neuen Deutschen Organisationen“ mit dem Satz: „‘Neue Deutsche?‘ Machen wir selber.“ Auf einem anderen Bild streicheln mehrere Mädchen mit Blumen im Haar den schwangeren Bauch einer blonden Frau. Text: „It’s Okay To Be Scandinavian“. Das AfD-Motto der Plakate zur Bundestagswahl 2021 passt dazu: „Deutschland. Aber normal.“ Auch „Normalität“ ist ein Kampfbegriff.

Simon Strick zeigt Bilder, die die Bedrohung der Zukunft der weißen Bevölkerung darstellen sollen, beispielsweise einen Screenshot mit dem Hinweis, dass die gebärfähigen weißen Frauen weltweit gerade einmal zwei Prozent aller Frauen ausmachten. Wir sehen einen Man of Color, der eine weiße Frau umarmt, ein Nürnberger Christkind of Color. Ein „Meme präsentiert die sinkende weiße Geburtenrate, verursacht durch Feminismus, Pro-Choice-Politik und weiblichen Egoismus: ‚Your great-grandmother: 12 kids. Your grandmother: 6 kids. Your mother: 2 kids. You: an abortion & a dog‘. Die sinkende Kinderzahl von Urgroßmutter zu Hundehalterin ist ein countdown to white extinction. Feminismus zerstöre die weiße heteronormative Familie und das patriarchalische Modell weißer Männlichkeit: Der domestizierte Mann nimmt die mütterliche Position in dieser interspecies pieta (sic!) ein. Dekadenz, Geschlechtsverwirrung, Kulturverfall und Volkstod; Verrat an Männern, Kindern, Ahnen und Rasse – Alles Schuld des westlichen Feminismus. / Alles in einem Bild.“

Die rote Pille der „Metapolitik“

Jedes einzelne Bild ist Zeichen einer großen Erzählung. In dieser Erzählung wird das Gendersternchen zur gefährlichen Waffe. Es kommt nicht von ungefähr, dass die einzige Frage zur Geschlechtergerechtigkeit im Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2021 die Frage nach der geschlechtsgerechten Sprache war: „Es geht aber tatsächlich um unscheinbare Gendersternchen: Bei solchen gefühlten Irritationen im Kleinen setzt die Alternative Rechte an und bietet schnelle Orientierung und Verklarungen. Rechte Agitation ist nicht ‚emotionaler Reflex‘ auf Epochenwandel X, sie ist ein komplexer, diskursiver Prozess der Verkürzung: Von der Alltagswahrnehmung schießt sie zur Welttheorie. Kleine Affekte werden abgeschöpft, aufgeschäumt zur valenten und gerichteten Emotion, durch ideologische Konstrukte stabilisiert und als Weltsichten zementiert.“ Didaktisch formuliert: Reduktion von Komplexität.

Jeder Einzelfall ist Teil dieser großen Erzählung. Ikonisch zitiert werden in der „rechten“ Szene die „Matrix“-Filme der Wachowski-Geschwister“: es reicht, die rote Pille zu schlucken, die rote Pille der „rechten“ – diesmal das Wort in doppeltem Wortsinn verwendet – Gesinnung, die zur Welterkenntnis führen wird. Es geht um die „Gegentheorie“ zu allen anderen Theorien und Erzählungen. Sie ist natürlich die einzig wahre Theorie: „Alles nimmt nun andere Gestalt an. Nach dem Aufwachen aus dem Matrix-Schlaf und dem Beweis eines Unterdrückungsapparats folgt der Weltgegenentwurf.“ So wirkt auch das Manifest Breiviks, das in der „rechten“ Szene eben nicht als Werk eines Psychopathen – Breivik wehrte sich vor Gericht dagegen, als Psychopath be- und verurteilt zu werden – gilt, sondern als Theorie eines „Worldbuilding“-Prozesses: „Diskursive Klimazonen werden errichtet, in denen ‚weiß-Sein‘ und ‚Mannsein‘ als Diskriminierungszustände erwirtschaftet werden.“ In dieser Welt ist ein Anders Breivik kein „Einzeltäter“, und wir sollten ihn auch nicht als einen solchen verharmlosen.

Der Kern: Täter-Opfer-Umkehr, die weiße Mehrheitsgesellschaft wird im weltweiten Maßstab zur bedrohten Minderheit, und der Einstieg in ihre Vernichtung sind Diskussionen über Gender Studies, LSBTIQ*-Diskurse, geschlechtsgerechte Sprache und Debatten über die Gleichheit der Geschlechter. Ein Screenshot zeigt Sitting Bull, der den Betrachter*innen erklärt, er wisse, was es heiße, aus seinem Land vertrieben zu werden, Zeichen des von der Identitären Bewegung vertretenen „Ethnopluralismus“, der jedem Volk seinen angestammten Platz zuweist, den es nicht verlassen solle. Auf die Idee, dass die Angehörigen der First Nations in den amerikanischen Ländern dies auch gegenüber der dort heute dominierenden weißen Bevölkerung hätten einwenden können, kommen die Autor*innen dieses Screenshots offenbar nicht. Martin Sellner spricht von „einer Scheinwelt“, die zu bekämpfen wäre. Simon Strick: „Zentral an diesen Ansprachen ist die Dissidenz, die die Alternative Rechte für sich beansprucht: Ihr Gestus ist der einer Befreiungsbewegung, des antitotalitären Denkens und Handelns.“ Die Konsequenz: „Es geht um Affektschwellen, die Nutzer*innen für sich intuitiv herstellen, um sie dann zu überwinden: vom diffusen Gefühl zur unpopular opinion, von white beauty zu noble racism zu ‚weißer Identitätspolitik‘ zu ‚Ethnonationalismus‘, von ‚Frauen‘ zu ‚Politiker*innen‘ zum ‚Krieg gegen Männer‘.

So entsteht „Metapolitik“, begründet auf einer großen Erzählung: „Ein weißer Kollektivkörper wird etabliert, der sich in einen Zustand der atmosphärischen Belagerung befindet.“ Und „white power“ wird zum „white empowerment“. Simon Strick sieht einen „Kulturkampf“, durchaus in Anlehnung an Samuel Huntingtons „Clash of Civilisations“. „Mit einem zentralen Unterschied: Der Kulturkampf findet nicht global, sondern innerhalb westlicher Nationen und Systeme selbst statt. Er nimmt die Gestalt eines Informationskriegs an, eines Geschlechterkriegs und zahlloser Verteilungskriege um Präsenz, Zugang und Teilhabe. Die Alternative Rechte und der reflexive Faschismus sind aus meiner Sicht die Hauptbetreiber dieses Krieges und auch seine Hauptprofiteure.“

Naives Bürgertum – naive Politik

Das von Simon Strick beschriebene Szenario wäre weniger bedrohlich, gäbe es nicht die Anzeichen einer Anschlussfähigkeit in bürgerlichen Welten. Dies gilt für die Fernsehmoderatorin, die nach der letzten Landtagswahl in Sachsen den Eindruck erweckte, sie hielte die Summe der Stimmen für AfD, CDU und FDP für eine bürgerliche Mehrheit. Es gilt auch angesichts der Ergebnisse der jüngsten „Mitte-Studie“ aus Bielefeld. Beunruhigend ist nach dieser Studie weniger die zum Teil sogar sinkende Zahl der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild, höchst gefährlich ist die sinkende Zahl derjenigen, die zentrale Elemente eines solchen Weltbildes nicht mehr eindeutig ablehnen und die steigende Zahl der „teils-teils“-Antworten. Wer militärische Vergleiche mag, könnte davon sprechen, dass die „rechte“ Szene die sogenannte „Mitte“ langsam sturmreif schieße.

Simon Strick bietet verschiedene Erklärungen für diese Anschlussfähigkeit. Eine Erklärung entnimmt er Ulrich Becks 1986 veröffentlichtem Konzept der „Risikogesellschaft“: „Die Anschlussfähigkeit dieses Faschismus steigt deswegen exponentiell an, weil er die Sprache der postmodernen Risikogesellschaft spricht.“ Unübersichtlichkeit, unklare Lebensverhältnisse, gefühlte Überfremdung auch dort, wo es überhaupt keine ein- und zugewanderten Menschen gibt, Angst vor der Komplexität der politischen Fragen – all das mag dazu gehören. Simon Strick nennt dies ein „Deutungsvakuum“, das die „rechte“ Szene geschickt zu füllen weiß: „In prägnanter Weise gehören die Rechten zu den Wenigen, die überhaupt eine Erzählstrategie zum demographischen Wandel anbieten. Wohlgemerkt ist es eine katastrophische Erzählung ‚weißer Auslöschung‘ – sie scheint für Viele aber attraktiver als gar keine.“

In ersten Reaktionen auf die PEGIDA-Demonstrationen, auf Demonstrationen und Anschläge gegen die Unterbringung Geflüchteter in ihrem Wohnort, markierten prominente Politiker*innen die „Sorgen der Bürger“ vor Ein- und Zuwanderung als ein berechtigtes Interesse und versuchten, dies mit unzureichendem Wohnraum, zu hohen Mieten, prekären Arbeitsverhältnissen zu erklären. Simon Strick zitiert zwei Mal Wolfgang Schäubles Rede im Deutschen Bundestag vom 4. März 2020, wenige Tage nach den Morden von Hanau: „Wer sich angesichts eines als überfordernd empfundenen gesellschaftlichen Wandels auf der Verliererseite wähnt, ist deshalb noch kein Rassist.“ In derselben Rede bat der Präsident des Deutschen Bundestages darum, „die ‚Fremdheitsgefühle‘“ der gegen Ein- und Zuwanderung demonstrierenden Menschen zu akzeptieren. Wer den Umgang mit „rechten Gefühlen“ und „rechten“ Ansinnen nachsichtig akzeptiert oder sich diese sogar zu eigen macht, sollte sich vielleicht auch fragen, warum er*sie in der Vergangenheit jeden Kuschelkurs nach links so vehement abgelehnt hat.

Mich erinnern solche Äußerungen an die frühen 1920er Jahre. Gerichte gestanden den Mördern von Kurt Eisler, Matthias Erzberger und Walter Rathenau sowie den Putschisten von 1920 und 1923 „patriotische Gesinnung“ und damit Strafminderung zu. So weit geht es heute nicht. Aber nach wie vor gibt es eine Beißhemmung mancher Politiker*innen gegen „Rechts“. Eine Veränderung gab es erst nach den Morden vom 19. Februar 2020 in Hanau. Bundesinnenminister Horst Seehofer bezeichnete am 21. Februar 2020 den Rechtsextremismus als „die größte Bedrohung in Deutschland“. Er wiederholte dies am 4. Mai 2021. Zur Genehmigung der Studie über Fehleinschätzungen und Fehlverhalten in der Polizei – Stichwort: Racial Profiling – hat das Bundesinnenministerium sich jedoch noch nicht durchringen können.

Simon Stricks Analyse entspricht der Analyse der Autor*innen von „Extrem unbrauchbar“. Eva Berendsen zitiert in ihrem Beitrag Jagoda Marinić, die „forderte, der gesamte Wortschatz, der sich um das Phänomen ‚Mit Rechten reden‘ etabliert habe, müsse jetzt seziert werden: ‚Wo so manche Rechte von Bürgerkrieg sprechen, interpretieren Rechtsversteher: Ist nur eine Trotzphase. Bitte noch eine Runde Zuwendung!‘“ Es wäre in der Tat an der Zeit, die Argumente zu „sezieren“, mit denen Rechte für sich und für alle anderen gleich mit beanspruchen, recht zu haben. Was meinen sie, wenn sie von „Traditionen“, von „Geschichte“, von „Heimat“, von „Volk“ sprechen? Und – das ist für mich die entscheidende Frage – ist das, was sie damit meinen, mit einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat vereinbar?

Sozialpolitik und Sozialpädagogik taugen nichts gegen die Wirksamkeit „rechter Gefühle“. Simon Strick: „Es gibt endlose Geduld für ‚sich fremdfühlende‘ Weiße und Männer, die mitunter zur Waffe greifen.“ Und ebenso „endlose Anschlussmöglichkeiten“ für das, was Simon Strick als „Risikoproduktion“ charakterisiert. Max Czollek, den Simon Strick mehrfach zitiert, nennt das in seinem Buch „Desintegriert euch!“ (München, Carl Hanser Verlag, 2018) eine „Rhetorik der Zärtlichkeit“.

Die Wirklichkeit ist eine andere: Fremde sind Fremde sind Fremde, und sie bleiben es. Angela Merkel ließ sich zwischen 2003 und 2010 unter dem Beifall ihrer Parteibasis mehrfach dazu hinreißen, „Multikulturalismus“ für „gescheitert“ zu erklären. Das passte eigentlich nicht zu ihrem Sprachstil, wohl aber zur aufgeheizten Stimmung in ihrer Partei, die wiederum die Stimmungen der meisten Medien widerspiegelte. Niemand machte sich die Mühe zu klären, was „Multikulturalismus“ denn eigentlich bedeutet, es reichte, „Fremdheitsgefühle“ zu triggern, um sich politische Mehrheiten zu verschaffen, wie die erfolgreiche Kampagne Roland Kochs gegen die doppelte Staatsbürgerschaft im Jahr 1999 zeigte.

„Fremdheitsgefühle“ ein- und zugewanderter Menschen spielen keine Rolle. Simon Strick: „Sie werden generell als Integrationsverweigerung und Demokratiedefizit ausgelegt“. Verlangt wird eigene Anstrengung, und erst nach erfolgter und erfolgreicher Anstrengung ist Hilfe, Unterstützung, Integration eine Option politischen Handelns. Welche Vorleistungen „Fremde“ jedoch erbringen müssten, bleibt unklar. Und so hat bisher auch niemand versucht zu erklären, was das Gegenbild der „Leitkultur“ bedeutet. Ein ehemaliger Bundesinnenminister hat es mal versucht, aber das Händeschütteln verschwand mit der Pandemie und niemand kann behaupten, dass das Tragen einer Burka in Deutschland ein Massenphänomen wäre oder dass es eine politische Partei gäbe, die das Tragen einer Burka fordere. „Rechte Gefühle“ triggern auch diejenigen, die die Currywurst zum deutschen Kulturgut erheben, das in keiner Kantine fehlen dürfe. Ein Berliner Imbiss bietet inzwischen übrigens eine vegane Currywurst. Schmeckt genauso wie die schweinerne, aber Veganes erleben manche offenbar schon als Bedrohung.

Ein Rezept, eine Gebrauchsanweisung, wie sich dem Gemisch des „reflexiven Faschismus“ mit all seinen Anschlussmöglichkeiten im bürgerlichen Lager begegnen ließe, bietet Simon Strick nicht. Der Wert des Buches liegt in der Analyse und der klaren Botschaft, was nicht hilft beziehungsweise nicht ausreicht, um das faschistisch-faschistoïde Gift unschädlich zu machen: „Verbotsdebatten, Brandmauerreden, Deplatforming oder auch Widerlegung rechter Positionen durch Faktenchecks sind im Optimalfall effektive Maßnahmen. Im schlechtesten Fall verstärken sie rechte Themensetzungen. In keinem Fall sind sie, was gebraucht wird. / Affektive Maßnahmen.“ Wie gesagt: It’s the emotion, stupid!

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Oktober 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 30.9.2021)