Zwei Jahre Zeitenwende – eine durchwachsene Bilanz

Ein Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Martin Aust

„Die Erzählung vom osteuropäischen Widerstand zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war kein großes europäisches Narrativ, nur ein Haufen national bedeutsamer Geschichten in den jeweiligen Ländern Osteuropas. Doch genau diese Geschichten ermöglichten die erneute Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Genau diese Geschichte ermöglichten den Widerstand und die Revolution in der Ukraine. Genau wegen dieser Geschichten sind wir noch immer da und sprechen noch immer unsere Muttersprache.“ (Sofi Oksanen, Putins Krieg gegen die Frauen, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2024)

Die Unabhängigkeit, Integrität und Sicherheit der osteuropäischen Staaten, die sich in den 1990er Jahren aus dem Herrschaftsbereich der Sowjetunion befreiten und sich der Europäischen Union und der NATO anschlossen beziehungsweise erklärten, dies tun zu wollen, ist eine wesentliche Bedingung für die Stabilität der freiheitlichen Demokratien des Westens. Wie wichtig dies ist, wird allerdings auch kontrovers diskutiert. Dier von Putin und dem heutigen Russland ausgehende Bedrohung wird unterschiedlich bewertet. Das Fach Osteuropäische Geschichte kann dazu beitragen, dass Politik und Gesellschaft sich über die historischen Grundlagen und Entwicklungen informieren, sich in den Kontroversen mit all ihren Versionen orientieren und ihre jeweiligen Einschätzungen, Urteile und Vorurteile gegebenenfalls präzisieren oder auch revidieren.

Prof. Martin Aust. Foto: Barbara Frommann.

Martin Aust, Leiter der Abteilung Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn, ist ein wichtiger Partner des Demokratischen Salons und zum zweiten Mal selbst Gast, zum ersten Mal im Januar 2023 in einem Gespräch mit dem Titel „Weltenwenden, Zeitenwenden“. In diesem zweiten Gespräch geht es unter anderem um die Frage, wie es wiederum ein Jahr später ausschaut, zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 aus mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2024 verkündeten „Zeitenwende“? Was hat sich im Fach Osteuropäische Geschichte getan und wie sind die aktuellen Debatten über Krieg und Frieden in Europa zu bewerten?

Dezentrierung der Osteuropäischen Geschichte

Norbert Reichel: Was hat der 24. Februar 2022 für das Fach Osteuropäische Geschichte verändert?

Martin Aust: Es hat sich viel verändert. Wir sind in der Öffentlichkeit lauter und sichtbarer geworden. Schon vor dem 24. Februar 2022 haben einzelne Vertreter:innen unseres Faches immer wieder die Öffentlichkeit gesucht. Nach diesem Tag hat dies ein größeres Ausmaß angenommen. Wir denken, dass wir auch vor diesem 24. Februar viel zur Aufmerksamkeit für Osteuropa hätten beitragen können, aber kaum gehört worden sind. Und wir wollen dafür sorgen, dass sich das nicht noch einmal wiederholt. Deshalb suchen wir die Öffentlichkeit ganz bewusst und stark und finden sie auch.

Zum zweiten läuft im Fach seitdem eine intensive Debatte der Selbstverständigung. Diese kreist um die nicht neue, aber nach wie vor aktuelle Frage, ob wir in der Vergangenheit uns zu sehr auf die Geschichte Russlands konzentriert und die Geschichte der anderen Länder vernachlässigt haben. Die Antwort fällt differenziert aus. Man kann uns sicherlich nicht vorwerfen, dass wir uns nur mit Russland beschäftigt hätten. Wir sind uns aber schon bewusst, dass wir bei den nicht-russischen Geschichten der Region erheblichen Nachholbedarf haben. Das verknüpft sich nicht nur mit der Frage nach der Aufmerksamkeit für einzelne Regionen, sondern verbindet sich auch mit der Suche nach neuen Begriffen und Konzepten im Fach. Stichworte in diesem Methodenwettstreit sind Dezentrierung und Dekolonisierung, zwei Begriffe, die miteinander konkurrieren.

Dezentrierung trifft es meines Erachtens besser. Wir suchen eine Emanzipation von imperialen Blicken auf die Region, von deutschzentrischen wie von russozentrischen Blicken. Dekolonialisierung ist ein etwas schwieriger Begriff, denn er impliziert, die Geschichte Russlands beziehungsweise der Sowjetunion epochenübergreifend an allen Orten als stets kolonial, als kolonialistisch zu beschreiben. Es gibt mit Recht kritische Fragen, ob das tatsächlich die Sachlage trifft. Kolonialismus ist ein Verhältnis, bei dem Andersartigkeit behauptet wird, sei es in der Art einer selbst angemaßten historischen Mission von Kolonialisierern, sei es in Form von Rassismus. Die kritische Frage lautet, ob Kolonialismus das russisch-ukrainische Verhältnis trifft und ob es auch den Geist trifft, aus dem heraus Putin diesen Krieg führt. Putin sagt der Ukraine ja nicht, er führe diesen Krieg gegen die Ukraine, weil die Menschen dort anders wären. Er ist der Auffassung, die Ukrainer gäbe es eigentlich nicht, sondern sie wären einfach auch Russen. Er glaubt, es gäbe eine Identität, die künstlich getrennt worden wäre und jetzt wiederhergestellt werden müsste. Insofern muss kritisch nachgefragt werden, ob der Kolonialismusbegriff weiterhilft, den aktuellen Krieg Russlands zu verstehen und andererseits auch die Geschichte Osteuropas neu zu denken.

Dazu kommt eine weitere Tendenz. Die Kooperation mit Institutionen in Russland liegt selbstverständlich auf Eis. Der Zugang zu Archiven in Russland bietet sich uns zurzeit nicht. Das konzeptionelle Vorhaben, die Geschichte Osteuropas zu dezentrieren, wird auch dadurch unterstützt, dass wir die Geschichte der Region mit Hilfe von Archiven außerhalb Russlands schreiben werden, zum Beispiel aus Estland, Lettland, Litauen, soweit der Krieg das zulässt aus der Ukraine, auch aus Georgien, Armenien, Aserbeidschan und den zentralasiatischen Staaten.

Wir sind zurzeit aber nach wie vor weitgehend im Krisenreaktionsmodus. Ich bin sehr stark damit beschäftigt, Grundlagenwissen ins Gespräch zu bringen. Die Forschung, in die man sich längere Zeit zurückziehen könnte, um sich konzentriert einem bestimmten Thema zu widmen, leidet darunter. Es wäre schon wichtig, wenn es gelänge, den Hebel umzulegen.

Norbert Reichel: Putin sagt, die Ukrainer sind Russen, sie sind dann sozusagen Separatisten. So erklärt sich auch sein Begriff der „militärischen Spezialoperation“. Es ist für ihn eine Polizeiaktion. Dass Putin nach zwei Jahren selbst den Kriegsbegriff verwendet, hat mit der massiven Unterstützung der Ukraine durch den Westen zu tun, den er damit zur Kriegspartei erklärt, ohne es ausdrücklich zu sagen. Mein Eindruck ist der, dass er den Begriff „die sind wie wir“ sehr weit auslegt, er bezieht dies auch auf Staaten, die keine russischen Staaten sind wie die baltischen Staaten oder Moldawien. Dort beruft er sich dann auf angeblich unterdrückte Minderheiten, eine Sichtweise, die er auch im Hinblick auf die Ukraine zuspitzt, wenn er von einem „Genozid“ an der dortigen russischsprachigen Bevölkerung spricht. Man könnte fast vermuten, er beziehe alle Länder in sein Narrativ ein, die bis in die 1990er Jahre hinein nicht zur NATO gehörten, möglicherweise sogar einschließlich der DDR. Eine seiner Forderungen lautet ja auch, die Mitgliedschaft in der NATO auf das Jahr 1997 zurückzusetzen.

Martin Aust: Es ist sicherlich fraglich, ob wir die Intentionen Putins gegenüber anderen Ländern aus der gleichen Motivation erklären können, die er gegenüber der Ukraine anführt. Dahinter würde ich noch ein Fragezeichen setzen. Aber es gibt nicht erst seit Februar 2022, auch schon vorher, genügend Äußerungen von Putin, die diese Absichten erkennen lassen, angefangen mit der Forderung, dass alle NATO-Beitritte auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden sollen bis hin zu Äußerungen über die baltischen Staaten oder über Polen. Auf einem Wirtschaftsforum in St. Petersburg fing Putin an, frei über Peter den Großen und sich selber zu sprechen. Er sagte, er mache eigentlich nichts anderes als Peter der Große. Der habe damals Regionen zu Russland zurückgeholt – so nannte er das. So würde er das jetzt auch machen. Daraus könnte man Ansprüche Putins auf das Baltikum ableiten. Das Argument, er müsse Russen im Ausland schützen, hat er vor einigen Monaten ausdrücklich gegenüber Lettland gebraucht, mit Blick auf die Sprachpolitik und die Staatsbürgerschaftspolitik in Lettland.

Man muss auch ganz hellhörig werden, wenn Putin etwas definitiv ausschließt. Er hat kürzlich ausgeschlossen, dass Russland vorhabe, Polen anzugreifen. Er fügte aber hinzu, es sei denn, es gehe ein aggressiver Akt von der polnischen Regierung aus. Er hat auch unmittelbar vor dem 24. Februar 2022 gesagt, dass er nicht die Absicht habe, die Ukraine anzugreifen. Solche Äußerungen lassen nicht nur aufhorchen, sondern lassen die Alarmglocken läuten.

Norbert Reichel: Anzuschließen wäre die Frage, wann Putin davon ausgeht, dass jemand Russland angreift. Ich erinnere mich an eine Äußerung Gerhard Schröders vor dem 24. Februar 2022, die Ukraine möge „mit dem Säbelrasseln aufhören“. Immer wieder höre ich auch von denjenigen, die im Westen versuchen, Putin zu rechtfertigen, die NATO wolle die Ukraine als „Aufmarschgebiet“ gegen Russland nutzen.

Martin Aust: Wenn man versucht, sich in den Kopf von Putin hineinzuversetzen, stößt man auf diese krude Argumentation, dass Russland im Grunde genommen gar nicht angreife, der Westen hätte ja längst schon Russland angegriffen und die Ukraine wäre das Instrument, über das dieses geschähe. Dieses Argument lässt sich beliebig auf alle weiteren Staaten übertragen, die seit 1997 der NATO beigetreten sind.

Norbert Reichel: Spielt Panslawismus noch eine Rolle?

Martin Aust: Das vermag ich nicht zu erkennen.  

Norbert Reichel: Wenn wir alle ehemaligen Sowjetrepubliken unter den Begriff „Osteuropa“ subsummieren, gehören auch die zentralasiatischen Staaten dazu.

Martin Aust: Damit beschäftigt sich osteuropäische Geschichte nicht erst seit gestern. In der Vergangenheit ergaben sich die Themen allerdings eher aus der Verbindung mit der russischen oder sowjetischen Geschichte, beispielsweise der Instabilität des Zarenreichs zu Beginn des Ersten Weltkriegs, Stalins Kollektivierungskampagne, die man dann im Hinblick auf ihre Auswirkungen in Randregionen der Sowjetunion untersucht.

Ich nenne drei Beispiele, die Dissertation von Jörn Happel über den Aufstand in Zentralasien im Zarenreich 1916 (Nomadische Lebenswelten und zarische Politik – Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2010) sowie die Studie von Robert Kindler über die Kollektivierungsverbrechen in Kasachstan (Stalins Nomaden – Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg, Hamburger Edition 2014, zweite Auflage 2020). Zurzeit gibt es in unserer Abteilung das Dissertationsvorhaben von Hera Shokohi mit dem Arbeitstitel „Anonymität und Omnipräsenz – Erinnerung an stalinistische Verbrechen im post-sowjetischen Kasachstan und der Ukraine“.

Andererseits gibt es für viele Länder oder Ländergeschichten in Deutschland eine Community von Expertinnen und Experten, beispielsweise für Polen, die baltischen Staaten, Tschechien, die Slowakei, auch im außeruniversitären Bereich. Es gibt auch einige Institute, das Nordost-Institut in Lüneburg, das sich mit den baltischen Staaten beschäftigt, das Kollegium Carolinum in München für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei, das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt.

Das sind Ankerpunkte für die jeweiligen Communities. Ich glaube, es kommt auch an den Hochschulen jetzt darauf an, mehr Grundlagenforschung zu betreiben, um die Geschichte der osteuropäischen Länder stärker aus sich selbst heraus zu begreifen. Es wäre eine Bereicherung, wenn es weitere Kollegen und Kolleginnen gäbe, die diese Ländergeschichten um ihrer selbst willen zum Schwerpunkt ihrer Arbeit machten. Dazu wäre es aber erforderlich, die entsprechenden Sprachen zu lernen. Dazu sind die Universitäten zurzeit jedoch sehr schlecht aufgestellt. Es gibt kein grundständiges Sprachangebot. Es kommt viel Improvisation, viel Patchwork auf uns zu, mit Sommerkursen, mit DAAD-Austauschformaten.

Der DAAD ist dabei eine elementare Adresse, es gibt nicht nur das ERASMUS-Programm, auch Sommerkurse, Sprachkurse, Möglichkeiten, sich längere Zeit in dem gewählten Land aufzuhalten. Ob das wahrgenommen wird, hängt allerdings oft von der individuellen Initiative ab, von viel individuellem Engagement. Die Strukturen, die wir gerne schaffen wollen, entstehen nicht von einem Tag auf den anderen.

Eine Politisierung der Wissenschaft?

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass sich diese von dir genannten Institute zunehmend politisiert haben. Ich denke beispielsweise an die Geschichte des Deutschen Polen-Instituts, das mit dem Anliegen der Übersetzung polnischer Literatur ins Deutsche begann und inzwischen ein breites Angebot politischer Analysen gestaltet.

Martin Aust: Ich glaube, das ist Ausdruck eines größeren Wandlungsprozesses in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Als ich in den 1990er Jahren Geschichte studierte, hieß es noch, die Gegenwart wäre nicht Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Man bräuchte einen gewissen Abstand zu den Untersuchungszeiträumen. Alles, was nicht mindestens 30 Jahre zurückliegt, überließ man doch lieber den Politik- und Sozialwissenschaften. Das hat sich seit der Zeit, in der die Erinnerungskultur an Bedeutung gewann, doch sehr gewandelt, weil wir aus dem Umgang mit der Vergangenheit doch auch viel über die Gegenwart lernen. Das hat die Geschichtswissenschaft für Gegenwartsfragen geöffnet. Erinnerung ist ein stark politisierter Gegenstand, sodass dies automatisch dazu führt, dass sich auch die Geschichtswissenschaft viel häufiger zu politischen Fragen positioniert als dies noch vor 30 Jahren der Fall war.

Norbert Reichel: In letzter Zeit wurde der Begriff der „Geschichtspolitik“ meines Erachtens immer häufiger verwendet, in der Wissenschaft ebenso wie in den Feuilletons, die ich als Indikator für kulturelle Entwicklungen sehe, die eben auch die Geschichtswissenschaft erfassen. Feiertage, Gedenkstätten, Schulbücher – all das sind Themen, die zunehmend politisiert werden, und so hat sich auch die Osteuropäische Geschichte als Fach politisiert.

Martin Aust: Man kann das so sagen wie du das formuliert hast: die Osteuropäische Geschichte hat sich politisiert. Ich glaube aber, man muss noch einmal nachfragen, was das genau heißt und wer das so wahrnimmt. Das geht an grundsätzliche Fragen des Wissenschaftsverständnisses. Kann man eine Trennung zwischen Wissenschaft und Politik ziehen? Bedeutet der Satz, ein Fach habe sich politisiert, einen Verlust an Wissenschaftlichkeit? Oder heißt das, dass Kultur- und Gesellschaftswissenschaften ihre Relevanz in der Beschäftigung mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen sehen, sodass es immer wieder zu einer Interdependenz zwischen politischen und wissenschaftlichen Fragen kommt? Wenn man dies bejaht, bedeutet Politisierung der Wissenschaft kein Verlassen des wissenschaftlichen Pfades, sondern, dass man sich bemüht, wissenschaftliche Themen, wissenschaftlich erworbenes, wissenschaftlich generiertes Wissen in das öffentliche Gespräch einzubringen. Vereinzelt trifft man noch die ältere Vorstellung, man müsse eine klare Trennlinie zwischen Wissenschaft und Politik ziehen, die reine Wissenschaft habe sich von der Politik fern zu halten. Das ist aus meiner Sicht erkenntnistheoretisch nicht durchhaltbar. Wenn man das machen wollte, kann man kaum noch begründen, warum wir uns für die Themen interessieren, für die wir uns interessieren. Man schafft eine antiquarische Wissenschaft, die um sich selbst kreist.

Norbert Reichel: Ich erlebe in Zeitungen, in Fernsehsendungen, dass sich auch zunehmend Politikwissenschaftler:innen auf historische Erkenntnisse beziehen, Historiker:innen sich auf politikwissenschaftliche Kontexte beziehen. Wissenschaft und Politik kommen ins Gespräch, es entstehen neue Dialogformate.

Martin Aust: Es gibt auch gute Vorbilder. Aus der Bonner Perspektive fallen mir die Arbeiten von Karl Dietrich Bracher ein. Von ihm gibt es das Buch „Die Auflösung der Weimarer Republik“. Das gilt als Standardwerk, ein Buch, bei dem man aber nicht sagen kann, ob es ein politik- oder ein geschichtswissenschaftliches Buch ist. Ich hatte immer ein großes Interesse an Politikgeschichte und habe daher die beiden Fächer als benachbart und in engem Austausch gesehen. Das ist aber vielleicht nur meine Perspektive. Es gibt natürlich auch eine Politikwissenschaft, die vor allem an Theoriebildung interessiert ist, die bei einem Geschichtswissenschaftler dann schon den Eindruck erweckt, da wäre ein vorausgehendes Gespräch zwischen beiden Disziplinen sinnvoll gewesen.

Norbert Reichel: Was bedeutet das für euer Lehrangebot in Bonn?

Martin Aust: Bei der Lehrplanung ist von Bedeutung, dass diejenigen, die noch am Anfang ihrer wissenschaftlichen Arbeit stehen, die Möglichkeit erhalten, ihr eigenes Profil zu entwickeln. Aus der Sicht der Abteilung ist ein zweites wichtiges Kriterium, dass wir ein abwechslungsreiches Programm anbieten. Das geht allerdings nicht so weit, dass die Leitung der Abteilung strategische Vorgaben macht. Ich habe für mein eigenes Lehrangebot schon eigene Vorstellungen und werde vor allem Veranstaltungen zu den Beziehungen Deutschlands zu verschiedenen osteuropäischen Ländern anbieten. Ein wichtiger Schwerpunkt in der Lehre ist die ukrainische Geschichte, auch das russisch-ukrainische Verhältnis.

Deutsche Überheblichkeiten

Norbert Reichel: Mir fällt immer wieder auf, dass die Ukraine ständig in Bezug auf andere Länder beschrieben wird, nie aus sich selbst, die Westukraine in Bezug auf Polen oder auf das Habsburger Reich, die Ostukraine in Bezug auf Russland, die Krim – das ist noch ein ganz eigenes Kapitel, in dem die Bedeutung der Krimtataren meistens unterschlagen wird. Im Hinblick auf das deutsch-ukrainische Verhältnis denke ich immer an Helmut Schmidt, der etwa um 2015 herum meinte, die Ukraine wäre eigentlich kein eigener Staat.

Martin Aust: Da war Helmut Schmidt auf dem Holzweg. Leider hat ihm Jörg Baberowski sekundiert. Ich versuche einmal, aus der lokalen Bonner Perspektive zu argumentieren. Es macht durchaus Sinn, auf Beethoven zu verweisen. Von Beethoven gibt es eine Volksliedersammlung, in der er das ukrainische Volkslied „Їхав козак за Дунай“ unter dem Titel „Schöne Minka, ich muss scheiden“ aufgenommen und verarbeitet hat. Das zeigt, dass es damals – vor über 200 Jahren – eine deutsch-ukrainische Wahrnehmung gab, die dann im 19. Jahrhundert verloren ging, bis man sich im 20. Jahrhundert nur noch auf das deutsch-russische Verhältnis fixierte.

Aus deutscher Perspektive sollten wir uns immer klar machen, dass es für die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert eine verhängnisvolle Weichenstellung war, dass die Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert ist. Das liegt nicht primär an inner-ukrainischen Defiziten, sondern hat sehr viel mit den Ansprüchen anderer Nationen, auswärtiger Mächte zu tun, unter anderem von der Seite des Deutschen Reiches. Deutschland hat im Februar 1918 im Frieden von Brest-Litowsk die Staatlichkeit der Ukraine anerkannt, darin aber nur eine Formalie gesehen und in den folgenden Monaten versucht, die Ukraine für die eigene Kriegsführung als Rohstofflieferantin auszubeuten. Das hat der Ukraine überhaupt nicht gutgetan und zu ihrer Schwächung beigetragen. Das ist eine historische Verantwortung, der wir uns stellen müssen. Wir müssen auch sehen, wie viel ukrainische Opfer der deutsche Vernichtungskrieg in Osteuropa erfordert hat. Für die Ukraine gilt, was wir eben schon zu anderen Ländern besprochen haben. Man muss sie in der Grundlagenforschung viel stärker um ihrer selbst willen betrachten. Vieles wissen wir einfach nicht. Eine Geschichte aller ukrainischer Regionen, die uns die Vielfalt dieses Landes zeigen würde, wäre eine große Zukunftsaufgabe.

Wir müssen unsere überhebliche Brille abnehmen. Es ist immer eine reizvolle intellektuelle Übung, sich diese immer noch verbreiteten Stereotype um die Ukraine vorzunehmen und danach zu fragen, mit welchem Inhalt man sie füllen könnte, wenn man sie auf Deutschland bezieht. Wenn man der Ukraine sagt, es wäre ein zerrissenes Land mit Ost und West, unterschiedlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften, wäre es auch interessant zu fragen, wie halten wir es in Deutschland eigentlich mit Ost und West und Nord und Süd, Katholizismus und Protestantismus? Bei diesen Spannungsverhältnissen innerhalb Deutschlands käme niemand auf den Gedanken, die Souveränität und den Bestand Deutschlands in Frage zu stellen. Warum tut man das bei der Ukraine? Solche Spiegelungen sollte man auch denen empfehlen, deren Wahrnehmung immer noch in alten Mustern eingeschliffen ist, um diese aufzubrechen.

Norbert Reichel: Doppelstandards?

Martin Aust: Absolut. Es ist Arroganz, es ist Überheblichkeit.

Norbert Reichel: Interessant finde ich auch die Sicht auf die baltischen Staaten. Sie werden in deutschen Medien in der Regel als Einheit adressiert, obwohl sie das schon rein sprachlich nicht sind.

Martin Aust: Estnisch ist eine finno-ugrische Sprache, Litauisch und Lettisch sind baltische Sprachen. Im 19. Jahrhundert gab es Nationalbewegungen in den baltischen Staaten, sie waren unabhängig in der Zeit von 1918 bis 1940. Nach dem Zeiten Weltkrieg hat die Diaspora der drei Länder den Wunsch nach Unabhängigkeit immer wieder erhoben und die Menschen, die dort nach wie vor lebten, taten dies 1989 bis 1991 ebenso. Da gibt es sehr viel Handfestes. Für jedes einzelne dieser Länder. Andererseits sieht man in den Ländern, dass es auch sehr unterschiedliche Geschichten, auch unterschiedliche Sicht der jeweiligen Nachbarn gibt, nicht nur im Hinblick auf Russland und Deutschland, auch auf Polen.

Für eine baltische Gemeinsamkeit gibt es natürlich auch Anknüpfungspunkte, beispielsweise der „Baltische Weg“, eine 650 Kilometer lange Menschenkette zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1989. Durch alle drei Länder hindurch in Erinnerung daran, dass das Deutsche Reich in diesem Pakt diese Länder mit der Molotow-Ribbentrop-Linie der Sowjetunion ausgeliefert hat, die sie dann 1940 annektiert hat.

Norbert Reichel: Eine schwierige Frage betrifft die Minderheitenpolitik in den baltischen Staaten. Putin versucht dort ständig Unruhe zu stiften, indem er auf eine Unterdrückung der russischen Minderheit behauptet. Ähnlich verhält es sich bei seinen Äußerungen zu Transnistrien. Dort stehen sogar russische Truppen. Muss man damit rechnen, dass es aus den baltischen Staaten oder aus Transnistrien an Putin gerichtete „Hilferufe“ gibt, die ihn veranlassen, Truppen zum „Schutz der russischen Minderheit“ zu schicken?

Martin Aust: Das sowjetische Muster beruhte auf offiziellen sogenannten „Hilferufen“, nicht auf „Hilferufen“ von Privatpersonen. Ich denke, dass wir sehr differenziert auf die russischen Minderheiten schauen müssen. Es wird in den baltischen Staaten sicherlich Leute geben, die für russische Propaganda empfänglich sind, aber es gibt auch viele, die wissen, dass sie davon profitieren, dass sie in der Europäischen Union und nicht in Russland leben.

Transnistrien unterscheidet sich sehr von Litauen, Lettland und Estland. Transnistrien ist ein Produkt der Auflösung der Sowjetunion, das von Russland jetzt künstlich am Leben gehalten wird. Die Vereinbarung über die Stationierung von russischen Truppen aus dem Jahr 1991 sah vor, dass diese nach einigen Jahren abziehen. Jetzt ist das fast 30 Jahre her und immer noch nicht geschehen. Hier gab es seit Auflösung der Sowjetunion keine Phase der Unabhängigkeit.

Grenzen des Fachs Osteuropäische Geschichte

Norbert Reichel: Welche Reichweite siehst du für das Fach Osteuropäische Geschichte?

Martin Aust: Ich habe den Eindruck, dass wir eine Grenze unserer Reichweite erleben. Im ZDF-Politbarometer vom Februar 2024 kam – wie auch in anderen Umfragen – zum Ausdruck, dass es in Deutschland nach wie vor eine Mehrheit für die Unterstützung der Ukraine gibt, auch für die Lieferung von Waffen. Wir haben aber auch einen Anteil in der Bevölkerung von etwa 20 bis 30 Prozent in der Bevölkerung, die meinen, man müsse jetzt mit Putin verhandeln und die durch nichts zu überzeugen sind, welche Konsequenzen hätte, sowohl für die Ukraine als auch für sich.

Eine zweite Grenze ist der Bundeskanzler höchstpersönlich. Ich vermag nicht zu sagen, mit Blick auf wen er seine Entscheidungen trifft, mit Blick auf Umfragen, mit Blick auf die eigene Partei, mit Blick auf sein eigenes Gewissen? Es ist erkennbar, dass er große Vorbehalte hat, die Ukraine so zu unterstützen, wie diese es seit dem Tag 1 des totalen Überfalls Russlands gefordert hat, und ihr offenbar nicht das geben möchte, was sie braucht, um das Jahr 2024 zu überstehen. Das erfüllt mich mit großer Sorge.

Wenn wir aus der osteuropäischen Geschichte etwas beitragen können, ist es zu zeigen, welche Ziele Putin mit diesem Krieg verfolgt, und dass es in Russland niemanden gibt, der ihm in den Weg treten kann. Nachdem Deutschland bis 2022 die Augen davor verschlossen hatte, was Putin tut, wäre der 24. Februar eigentlich der Anlass zu sehen, was er vorhat und – wir sprachen es an – welche weiterführenden Äußerungen Putin getroffen hat. Aus Sicht der Osteuropäischen Geschichte ist das ernüchternd. Es könnte passieren, dass Ende 2024 eine Situation erreicht ist, in der man bedauert, dass man Anfang 2024 und im Jahr 2023 nicht entschiedener gehandelt hat. Ich will mir nicht ausmalen, welche Situation entsteht, wenn sich in den USA eine isolationistische Außenpolitik durchsetzt, Putin den Ukrainekrieg für sich entscheidet und dann gegen Moldawien, Georgen oder gegen die baltischen Länder vorgeht. Ich habe den Eindruck, wir sind darauf nicht wirklich vorbereitet.

Norbert Reichel: Cornelius Lilie hat in seinem jüngsten Beitrag für den Demokratischen Salon die Debatte in der SPD treffend beschrieben. Schon der Titel trifft den Kern: „Unbequem und schmerzhaft“. Das Erbe Willy Brandts wird seines Erachtens – ich teile diese Einschätzung – unangemessen romantisiert, missverstanden und verfälscht.

Martin Aust: Stärke und Abschreckung ist eine Komponente der Außen- und Verteidigungspolitik, von der auch Willy Brandt nicht abgerückt hat. Das Verteidigungsbudget betrug zum Beispiel im Jahr 1972 3,17 Prozent des Bundeshaushalts.

Zum Weiterlesen:

Aus der Abteilung Osteuropäische Geschichte entstanden weitere Texte für den Demokratischen Salon zum Themenfeld Osteuropa, beispielsweise ein Gespräch mit Katja Makhotina (inzwischen an der Universität Göttingen tätig, auch Autorin weiterer Texte sowie des Buches „Offene Wunden Osteuropas“), unter anderem zur Erinnerungskultur in den osteuropäischen Ländern. Durch Vermittlung von Martin Aust entstanden zwei Essays von Ines Skibinski zu Entwicklungen in Polen vor und nach der Wahl, der schon genannte Essay von Cornelius Lilie zum Streit um das Russlandbild der SPD sowie ein Essay der Kieler Osteuropahistorikerin Martina Winkler über die Entwicklungen in der Slowakei nach der erneuten Amtsübernahme durch Robert Fico.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Jahr 2024, Internetzugriffe zuletzt am 27. März 2024, Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli, Rechte bei der Künstlerin.)