Das Pogrom
Der 7. Oktober 2023 und die Folgen
„Unsere Herzen sind im Angesicht der Opfer des unvorstellbar grausamen Hamas-Terrors gebrochen. Jeden Morgen wachen wir voller Trauer auf und gehen voller Trauer wieder schlafen. Doch ja, mir tun auch unschuldige Palästinenser leid, die um ihr Leben fürchten, von der Hamas als menschliche Schutzschilde missbraucht und in Geiselhaft genommen werden, verletzt werden und sterben. Damit sage ich nicht, dass Israel nicht auf das ultimative Böse reagieren soll, sondern drücke aus, dass ich Mitleid empfinde.“ (Sabine Brandes, Meine Menschlichkeit nimmt mir niemand, in: Jüdische Allgemeine 19. Oktober 2023)
Sabine Brandes lebt seit 20 Jahren in Israel. Sie berichtet regelmäßig für die Jüdische Allgemeine über die oft in der israelischen Öffentlichkeit und Politik strittigen Entwicklungen und Positionen, weiß sie differenziert zu bewerten. Ihr Kommentar erfasst meines Erachtens treffend die Stimmung, in der wir alle leben. Und aus dieser Perspektive könnten wir versuchen, über das Unfassbare des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 zu sprechen.
Ich versuche dies in diesem Essay. Essay – das heißt Versuch – und dieser Text ist wirklich nicht mehr und nicht weniger als ein Versuch. Grundlage sind Berichte, Kommentare und Einschätzungen aus verschiedenen (seriösen!) Medien aus der Zeit vom 7. bis zum 21. Oktober auszuwerten, im Einzelnen ARD, Correctiv, Jüdische Allgemeine, mena-watch, Das Parlament, Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz und Zeit. Meine Auswahl ist subjektiv und schon gar nicht vollständig, aber sie gibt vielleicht einen Einblick in die ein oder andere Entwicklung der aktuellen Debatten in Deutschland und zeigt vielleicht auch, welche Aspekte vielleicht zu wenig bedacht werden. Ich erlaube mir, in diesem Kontext auch jeweils wo es meiner Meinung nach passt auf frühere Texte aus dem Demokratischen Salon zu verweisen, die die in diesem Essay angesprochenen Sachverhalte ausführlicher darstellen (weitere Leseempfehlungen finden Sie in den beigefügten Covern, die diesen Essay illustrieren).
Nach 14 Tagen: De-Eskalation oder Vorstufen einer weiteren Eskalation?
Am 8. Oktober 2023 nannte das israelische Kriegskabinett sein Ziel, „die Zerstörung der militärischen und regierungstechnischen Fähigkeiten der Hamas“. Diese Erklärung ist im Grunde das der Dimension des Pogroms vom 7. Oktober 2023 angemessene „Nie wieder“, aber es ist auch fast schon der Versuch einer Quadratur des Kreises. Es erscheint so gut wie unmöglich, die Hamas zu vernichten und gleichzeitig die zivile Bevölkerung in Gaza zu schützen. Angesichts der angekündigten Bodenoffensive der israelischen Verteidigungskräfte spielten der Schutz und die Versorgung der zivilen Bevölkerung in Gaza in Politik und Berichterstattung eine wichtige Rolle.
Der Presseclub der ARD bot am 15. Oktober 2023 eine Bestandsaufnahme, die die wesentlichen Aspekte zusammenfasste und nach wie vor ihre Gültigkeit hat. Susan Link moderierte ein Gespräch mit Daniel-Dylan Böhmer (WELT), Alexandra Föderl-Schmid (Süddeutsche Zeitung), Susanne Glass (Bayerischer Rundfunk) und Hasnain Kazim (freier Journalist). Die ARD erweckte in der Vergangenheit nicht immer den Eindruck, sie hätte Verständnis dafür, dass sich Israel gegen Angriffe der Hamas und anderer Terrorgruppen wehrt. Viele Beiträge begannen mit der Meldung, dass eine Militäraktion Israels Palästinenser:innen getötet habe. Der vorangegangene Raketenbeschuss wurde erst in einem Nachsatz erwähnt, wenn überhaupt – die in den letzten Tagen mehrfach genannte Stadt Sderot litt seit Jahren wenn nicht seit Jahrzehnten darunter, dass sie immer wieder beschossen wurde, oft mit bis zu 100 Raketen an einem Tag. Inzwischen ist Sderot menschenleer. Die dort lebenden Menschen wurden evakuiert, bei Tel Aviv werden Zeltstädte aufgebaut.
Die ZDF-Moderatorin Andrea Kiewel appellierte am 20. Oktober 2023 in der Sache und im Ton mehr als deutlich an ihre ARD-Kolleg:innen, sie mögen „sich (…) ein für alle mal Folgendes hinter die Ohren, in die Handinnenflächen schreiben und Post-its mit genau folgendem Satz an die Computerbildschirme kleben: ‚Terroristen, Schlächter, Mörder, Bestien, Geiselnehmer sind keine Quelle. Niemals!‘“ Zum durchaus tendenziösen Einstieg von Weltspiegel und Europamagazin am 15. Oktober 2023 komme ich noch. Aber der Presseclub vom 15. Oktober bot – auch dank der abgewogenen Moderation von Susan Link und den ebenso abgewogenen Worten ihrer Gesprächspartner:innen – in jeder Hinsicht eine ausgewogene und höchst informative Diskussion. Alexandra Föderl-Schmid und Susanne Glass konnten auch aus eigener Anschauung berichten, da sie sich jeweils längere Zeit in Gaza aufgehalten hatten. Susanne Glass lebte längere Zeit in Israel. In den Einschätzungen waren sich die vier Gesprächspartner:innen von Susan Link weitestgehend einig, sodass ich im Folgenden darauf verzichte, einzelne Anmerkungen jeweils einer bestimmten Person zuzuordnen.
- Die Zahlen: Etwa 1.300 Israelis wurden ermordet (der Stand liegt inzwischen bei 1.400), 212 Israelis wurden verschleppt. Umgerechnet würde dies bedeuten, dass 13.0000 (beziehungsweise 14.000) Menschen in Deutschland ermordet würden. Das ist die höchste Zahl von Morden an Jüdinnen:Juden an einem Tag seit der Shoah. Die Zahl von 2.300 Opfern unter den Palästinenser:innen in Gaza übersteigt bereits nach etwa acht Tagen die Zahl der Opfer des Krieges von 2014.
- Eine geopolitische Einschätzung: Für die aktuelle Situation ist alleine die Hamas verantwortlich. Israel müsse eine Situation herstellen, damit ein Terrorangriff wie er am 7. Oktober geschah, nicht mehr passiert. Andererseits stellt sich die Frage, was geschieht beziehungsweise geschehen könnte, wenn die Hamas vernichtend geschlagen würde, welche Perspektive es noch für die Abraham-Abkommen gebe, wie Hisbollah und Iran reagieren. Die arabischen Bündnispartner Israels brechen – auch unter dem Druck in der jeweiligen Bevölkerung – weg. Es droht ein Mehrfrontenkrieg, im Süden die Hamas und der Islamische Dschihad, im Norden die Hisbollah, im Nordosten die Hisbollah und die in Syrien stationierten Pasdaran, im Osten aus dem Westjordanland von Hamas und Islamischem Dschihad und von schiitischen Milizen aus dem Irak, im Südosten von Seiten der Huthi aus dem Jemen. Und hinter allen stecken Finanzierung und Logistik aus dem Iran. Es geht eben nicht nur um die Hamas, die gesamte Entwicklung ist auch als Teil einer langfristig angelegten iranischen Strategie zur Destabilisierung der Region mit dem Ziel der Vernichtung Israels zu betrachten. Wenn man etwas erreichen wolle, müsse man Vermittlung nach Teheran organisieren, sofern dies überhaupt möglich ist. Fraglich ist allerdings auch, ob der Iran „die ganz große Konfrontation“ zu diesem Zeitpunkt wolle. Eine äußerst gefährliche Situation könnte entstehen, wenn die Hamas kurz vor dem Ende ist. Das „Weltkriegspotenzial“ liegt auf jeden Fall höher als im Fall der Ukraine.
- Die Zivilbevölkerung: Die Hamas will, dass es zivile Opfer gibt. Die Hamas hat es auch in der Vergangenheit nicht geschafft, die Versorgung der Menschen sicherzustellen. Etwa die Hälfte der Menschen in Gaza ist auf die Hilfe von UN-Organisationen angewiesen. Viele Menschen in Gaza haben sich von der Hamas losgesagt, werden jetzt aber in Mitleidenschaft, sogar in Mitverantwortung gezogen. Eine Berufung auf das Völkerrecht, verbunden in der Regel mit einer Mahnung zur Zurückhaltung an Israel, ist „wohlfeil“. Den Vereinten Nationen fiele zurzeit nichts anderes ein als ein Appell zu einer Waffenruhe. Das Völkerrecht verlange größtmögliche Bemühungen, zivile Tote zu vermeiden, aber was bedeutet hier „verhältnismäßig“?
- Hamas-Unterstützung in Deutschland: Ein Verbot der Hamas ist „Symbolpolitik“, wenn auch eine wichtige. Einstellungen verändert ein solches Verbot nicht. Dringend erforderlich sind vor allem eine angemessene Ausstattung der Sicherheitsbehörden und die längst angebrachte Schließung des Islamischen Zentrums Hamburg. Ein Verbot von „Free Palestine“ in Schulen – wie in Berlin vorgesehen – helfe nicht, das zeigten auch die Lehren aus dem 11. September. Wichtig wäre zu lernen, wie man die Freiheit verteidigt. Das gelingt nicht, indem man sie einschränkt. In diesem Zusammenhang sollte man auch über die Integrationspolitik sprechen.
Ergänzend empfehle ich den von Eva Lindenau am 22. Oktober 2023 moderierten Internationalen Frühschoppen auf Phoenix, in dem Katajun Amirpur (Universität Köln), Cathryn Clüver-Ashbrook (Bertelsmann-Stiftung), Philipp Peymann-Engel (Jüdische Allgemeine) und Konstantin Goldenzweig (freier Journalist) übereinstimmend den Iran als den entscheidenden Faktor für die weiteren Entwicklungen nannten. Zurzeit profitiere der Iran, unter anderem weil sich die arabischen Staaten von Israel distanzierten, von den innenpolitischen Schwierigkeiten im Iran abgelenkt würde und sein Einfluss in der Region steige.
„Alles wird nun vom Iran abhängen.“ Diesen Satz schrieb Richard C. Schneider, der nach langen Jahren als Israel-Korrespondent der ARD heute als freier Journalist in Tel Aviv arbeitet, in der Ausgabe von „Das Parlament“ vom 21. Oktober 2023, Titel seines Artikels: „Rücken zur Wand“. Erste Anzeichen einer iranischen Einmischung sind die aus dem Libanon sowie aus dem Jemen abgefeuerten Raketen.In der Tat liegt ein Schlüssel zur Lösung des Konflikts im Iran. Wie kann es sein, dass die Hisbollah mit ihren bis zu 150.000 Raketen über mehr Feuerkraft verfügt als die meisten europäischen Länder zusammengenommen? Wer ließ das zu? Sehenden Auges! Die permissive Haltung des Westens, insbesondere Deutschlands, gegenüber dem Iran, hat Stephan Grigat in dem von ihm herausgegebenen Buch „Iran – Israel – Deutschland“ ausführlich beschrieben. Die anti-israelische Rolle der Vereinten Nationen und der BDS Bewegung beschrieben Alex Feuerherdt und Florian Markl in ihren bei Hentrich & Hentrich erschienenen Büchern „Die Vereinten Nationen gegen Israel“ und „Die Israel-Boykottbewegung – Alter Hass in neuem Gewand“.
Krieg der Erzählungen
Meron Mendel gab seinem Buch „Reden über Israel“ nicht ohne Grund den Untertitel „Eine deutsche Debatte“. Ich empfehle meinen Leser:innen die Lektüre dieses Buches, das ich – ein Bild von Meron Mendel verwendend – unter dem Titel „Elefanten in allen Räumen“ im Demokratischen Salon besprochen habe. Ich empfehle ebenso, die Ausgaben der Jüdischen Allgemeinen der letzten beiden und der kommenden Wochen zu lesen. Denn wenn wir, wie Vertreter:innen der sogenannten Woke-Bewegung mit Recht nicht müde werden zu fordern, Betroffenen zuhören sollten, dann gilt dies auch für Jüdinnen:Juden und gerade jetzt in einer Zeit, in der ein Pogrom stattfand, wie es es seit der Shoah, seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Oder hat etwa gerade für die woke Szene David Baddiel mit seiner Diagnose recht? Sein Buch mit dem provokativen Titel „Jews don’t count“ erschien 2021 in London (eine deutsche Ausgabe erschien 2021 bei Hanser, verwässert aber leider den Titel, er lautet dort: „Und die Juden?“).
Es ist ein Krieg um Geschichten, nicht der Terrorangriff selbst, aber das Sprechen über den Terrorangriff, das Framing. „Wahrheit ist oft nur das, worauf sich viele Menschen einigen können.“ Das schreiben Samira El Ouassil & Friedemann Karig, in ihrem Buch „Erzählende Affen – Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen“ (Berlin, Ullstein, 2021). Und welche Geschichten Menschen erzählen und für wahr halten, hängt in der Regel auch davon ab, mit wem sich wer trifft, real wie in den sogenannten sozialen Medien.
Samira El Ouassil und Friedemann Karig beschreiben das vom Sozialpsychologen Muzafer Sherif von der University of Oklahoma durchgeführte Robbers-Cave-Experiment: „Sein Mechanismus – teile Menschen in zufällige Gruppen ein und beobachte, wie sie sich die Köpfe einschlagen – wurde vielfach wiederholt und bestätigt. Selbst in von allen äußeren Einflüssen freigehaltenen, nahezu klinischen Situationen ruft schon eine beliebige Einteilung ein starkes Gruppendenken in den Teilnehmern hervor.“ Es entstehen „Geschichten, die die Narrative des Kultus transportierten und zu einem Kanon der Weltdeutung und Identitätsverortung entwickelten.“
Das Experiment ist durchaus mit dem berühmten Stanford Prison Experiment vergleichbar, über das ich unter dem Titel „Gelegenheit macht Mörder“ geschrieben habe. Eine solche Stimmung, ein solches Framing erleben wir zurzeit auf vielen Straßen und Plätzen, in Foren und Gesprächskreisen, in den Medien. Vielleicht erklärt dieses Experiment auch, warum es viel zu viele Menschen und Organisationen gibt, die sich zumindest schwertun, Empathie mit den ermordeten Israelis zu empfinden, oder wenn sie sie äußern sich zumindest genötigt sehen, es mit dem Leid der Palästinenser:innen aufzurechnen. Vielleicht sind zu viele Menschen so sehr in ihren gewohnten Erzählungen gefangen, dass sie keinen anderen Weg finden?
Es gibt nur wenige Themen, bei denen Emotionen so stark dominieren, dass allein die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zählt und die Bereitschaft, jemand anderem zuzuhören, verschwindet – sofern es sie überhaupt in den letzten Jahren und Jahrzehnten jemals gab. Ein aktuelles Beispiel kann die Macht der Art und Weise belegen, wie eine Geschichte erzählt wird und wie sie wirkt, unabhängig von dem was wirklich geschah, unabhängig von validen Ergebnissen einer Recherche. Richard C. Schneider kritisierte in dem oben bereits zitierten Essay aus „Das Parlament“ die „internationalen Medien, die in völliger Vernachlässigung ihrer Aufgabe vor wenigen Tagen ohne jegliche Recherche auf das Narrativ der islamistischen Hamas aufgesprungen sind. Diese hatte behauptet, Israel habe ein Krankenhaus in Gaza bombardiert, wobei 500 Menschen getötet worden seine. Keine 30 Sekunden später meldeten seriöse Medien weltweit genau das. Sogar die ‚New York Times‘ titelte entsprechend. Erst allmählich revidierten sie ihre Berichte, nachdem israelische und unabhängige Experten zu dem Ergebnis kamen, dass es wohl eher eine fehlgeleitete Rakete der Islamisten war, die den Parkplatz des Krankenhauses getroffen habe (..). / Doch der Schaden war bereits angerichtet. Die muslimische Welt hatte ihr Narrativ, dass Israel mutwillig Zivilisten töte.“
Die Geschichte der Jüdinnen:Juden und die Geschichte Israels sind Musterbeispiele für die mit konkurrierenden Fakten verbundenen Erzählungen. Wer weiß schon, wie viele Friedenspläne von palästinensischen Vertreter:innen abgelehnt oder – falls von der einen Vertretung angenommen – von anderen palästinensischen Gruppen boykottiert wurden. Entscheidend für die zukünftige Entwicklung wird daher sein, wem es gelingt, seine Version der Geschichte, seine „Wahrheit“ in seiner eigenen Gruppe und möglichst bei anderen Gruppen auch durchzusetzen.
Zur „Wahrheit“ gehört auch ein Wort über die Angreifer. Es war und ist kein Krieg zwischen zwei Armeen. Die Hamas ist völkerrechtlich keine Armee, auch wenn sie – und leider auch manche wohlmeinenden Unterstützer:innen der palästinensischen Sache – sich dafür halten mag. Sie handelte am frühen Morgen des 7. Oktober nicht nur wie eine Terrororganisation, sie ist eine Terrororganisation. Für Ziele und Methode der Hamas gibt es noch ein weiteres Wort: „Völkermord“. Vernichtung Israels, das ist das Ziel, und das heißt auch: Vernichtung aller Jüdinnen:Juden in Israel. Eben dieses Ziel lässt sich in der Charta der Hamas nachlesen und es ist das Ziel weiterer Terrororganisationen der Region.
Say Their Names!
Viele Deutsche scheinen sich in diesem Gewirr nicht mehr zurecht zu finden, oder vielleicht wollen manche es auch nicht und schalten einfach ab. Lenz Jacobsen schreibt in der ZEIT: „Deutschland gelingt hier gerade das zweifelhafte Kunststück, zugleich unter- und überemotionalisiert zu sein.“ Das klingt weniger ironisch, eher sarkastisch, aber vielleicht enthält diese Diagnose von beidem etwas. Lenz Jacobsen warnt mit Recht vor einer „Überemotionalisierung“, wie sie nach dem 11. September 2001 zu einer „mit Moral aufgepumpte(n) Schwarz-Weiß-Politik“ geführt habe, die nach wie vor manche aktuelle Migrations-, Integrations- oder Nahost-Debatte prägt, vor allem aber auch jede ohnehin schon vorhandene Muslimfeindlichkeit in den Ländern des Westens verstärkt hat. Er zitiert Joe Biden, der sagte: „Ich warne: Während Sie die Wut fühlen, lassen Sie sich nicht von ihr verzehren.“ Umso wichtiger ist es, sich die Frage zu stellen, welche Worte und Referenzen es geben könnte, um zu erfassen, was am 7. Oktober geschah.
Wenn jemand vom 11. September spricht, wissen alle, was gemeint ist, auch wenn die Jahreszahl nicht erwähnt wird. Ob in Zukunft auch der 7. Oktober ein solches allen geläufiges Datum sein wird, bleibt abzuwarten. Ich gestehe, ich bin skeptisch. Aber wie dem auch sei: Der 7. Oktober 2023 hat die Welt verändert und der 11. September ist eine Referenzgröße. Josef Schuster bezeichnete den 7. Oktober in der Jüdischen Allgemeinen als „Israels 9/11“. Im Grunde sprach er von einer Zeitenwende ohne diesen Begriff zu verwenden (in Bezug auf ein Treffen mit muslimischen Verbänden verwendete Lamya Kaddor diesen Begriff gegenüber der FAZ). Er nannte auch die Gefahren, die die nächsten Wochen und Monate unseren Alltag prägen werden: „Die Zeit ist ein Test für uns alle. Wie wir, alle gemeinsam, als deutsche Gesellschaft, Juden oder Nichtjuden, Migrationshintergrund oder nicht, in den kommenden Tagen und – ja, ich befürchte – Wochen und Monaten mit dem Krieg in Israel umgehen, wird uns als Gemeinwesen für lange Zeit prägen. Jüdinnen und Juden in Deutschland dürfen auch trotz dieser schrecklichen Erlebnisse auf deutschen Straßen den Glauben an unsere Gesellschaft nicht aufgeben. Niemals dürfen wir unsere Empathie und Menschlichkeit verlieren.“
Der Vergleich mit dem 11. September 2001 wurde auch in anderen Kommentaren verwendet, so von Bernard-Henry Lévy, der angesichts des Angriffs der Hamas auf ein Rave-Festival seinen Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung mit der Erinnerung an den Terroranschlag auf den Club Bataclan am 13. November 2015 begann und von einem „anhaltenden 11. September“ sprach. Alexandra Föderl-Schmidt verwies in derselben Zeitung am 8. Oktober 2023 auf Tom Segev, der in seinen Büchern, nicht zuletzt in „1967 – Israels zweite Geburt“ (München, Siedler, 2007), die Geschichte Israels höchst differenziert mit ihren Wendepunkten dargestellt hat. Auch Tom Segev nannte den 11. September als Referenzdatum. Er verwies ebenso auf den „Yom-Kippur-Krieg“ von 1973: „Viele Israelis hätten sich oft stundenlang schutzlos ausgeliefert und im Stich gelassen gefühlt von der Armee, von der Regierung, vom Geheimdienst, sagt Segev. Er ist davon überzeugt, dass diese Ereignisse große Auswirkungen auf das Selbstbild und die Identität Israels haben werden und einen Einschnitt in der Geschichte darstellten. ‚Dieser Krieg wird ein neues Trauma erzeugen.‘“
Die deutschen Reaktionen auf den 7. Oktober sind – so Sascha Chaimowicz am 19. Oktober 2023 in der ZEIT – vorsichtig gesprochen mehr als zurückhaltend, viel zurückhaltender als nach dem 11. September 2001: „Wo waren die Tage der kollektiven Trauer, des Innehaltens? Stattdessen leben Juden in Deutschland seit zwei Wochen in Angst vor weiterem Terror. Jüdische Kitas und Synagogen blieben leer. Häuser wurden mit Davidsternen beschmiert, um zu markieren, dass dort Juden wohnen. Ein Holocaust-Überlebender in Hessen musste seine Vorträge vor Schülern erstmals unter Polizeischutz halten.“ Charlotte Greipl beschreibt am 20. Oktober 2023 im Tagesspiegel die Stimmung in Berlin. Es gibt kaum israelische Fahnen, anders als nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar 2022. Eine Umfrage ergab, dass gerade einmal ein Drittel der Befragten Israel unbedingt unterstützen möchte. Synagogen, jüdische Einrichtungen, Restaurants müssen von der Polizei mehr noch als ohnehin schon geschützt werden oder haben gleich geschlossen: „Jüdisches Leben in Deutschland ist akut gefährdet.“ Ein Lichtblick ist vielleicht die große Demonstration zur Unterstützung Israels vom 22. Oktober 2023 in Berlin. Aber wo sind die israelischen Fahnen vor den Rathäusern? Im Fall des russischen Überfalls auf die Ukraine hingen ukrainische Fahnen bereits einen Tag später fast überall im Lande.
Sascha Chaimowicz nannte das, was die Hamas am 7. Oktober anrichtete, ein „Pogrom“. Dies ist meines Erachtens von allen Vergleichen auch vielleicht der treffendste. Es geht der Hamas und anderen terroristischen palästinensischen Gruppen um die Vernichtung Israels („From the river to the sea…“). Es geht um Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen:Juden. Von einem „Pogrom“ sprach in derselben Ausgabe der ZEIT auch Maxim Biller, ebenso Dori Roberts im Gespräch mit Michael Thaidigsmann in der Jüdischen Allgemeinen.
Dori Roberts lebt in Austin (Texas). Vier Verwandte, eine 67jährige Tante, eine Cousine und deren kleine Töchter Raz (4 Jahre alt) und Aviv (2 Jahre alt) wurden von der Hamas entführt. Für die ZEIT hat Johannes Böhme das Leid der Geiseln und ihrer Familien dokumentiert: „Die Kleinste ist neun Monate, die älteste 85 Jahre“. Der Name des neun Monate alten Babys: Kfir Bibes. Der Name des 85 Jahre alten Mannes: Adar Yafa.
In der Tat, daran gibt es nichts zu deuteln: Das Vorgehen der Hamas am 7. Oktober 2023 war ein Pogrom, ein Pogrom auf israelischem Boden, in dem Land, das Jüdinnen:Juden als der einzige Ort auf der Welt gilt, an dem sie in Sicherheit leben können. Der Terrorangriff der Hamas galt unbewaffneten, wehrlosen Menschen, Menschen, die auf einem Festival tanzten, Kibbuzim, Zivilist:innen. Eine ausführliche Dokumentation des Angriffs auf das Festival erschien mit der Aussage einer Teilnehmern im Titel am 13. Oktober auf ZEIT online: „Sie haben auf uns geschossen wie auf Enten bei einer Jagd“. Eine „Chronik des Schreckens“ veröffentlichte der Tagesspiegel am 15. Oktober, eine Dokumentation des Vorgehens der Hamas und der ersten israelischen Reaktionen die Süddeutsche Zeitung am 11. Oktober.
Für die taz protokollierte Anastasia Tikhomirava am 13. Oktober das Schicksal der IDF-Soldatin Karina Ariev in einem Gespräch mit ihrer Schwester Sasha, am 10. Oktober für die ZEIT ihr Gespräch mit dem Unternehmensberater Ido Dan, der seit dem 7. Oktober „fünf Familienmitglieder: Erez, neun Jahre. Noya, zwölf Jahre. Sahar, 16 Jahre. Ofer, 53 Jahre. Carmella, 80 Jahre“ vermisst. Ido Dan sagte: „Um 19.00 Uhr kam plötzlich eine Nachricht von meiner Cousine Hadas. Sie hatte überlebt, aber sie hatte vor Angst nicht einmal der israelischen Armee die Tür öffnen wollen. Sie dachte, dass Israel erobert worden sei, dass es das Ende der Welt sei. Als sie endlich herauskam, erkannte sie ihr Haus nicht wieder, so groß war die Zerstörung. Sie schrieb ‚Zweiter Jom Kippur. Meine Kinder, Ofer (ihr Ex-Mann, Anmerkung der ZEIT-Redaktion) und meine Mutter antworten nicht. Sie sind entweder entführt oder ermordet worden. Sie haben die Häuser niedergebrannt, geplündert. Sie haben uns getötet, ermordet. Es ist der Holocaust.“
Am 12. Oktober beschreibt Anastasia Tikhomirova in der taz die Gewalt gegen Frauen als Waffe (nicht nur der Hamas): „In einem Video, das eine Verschleppung filmt, ist eine junge, blutverschmierte Frau zu sehen, die von einem Hamasterroristen an den Haaren ins Auto gezerrt wird, während sie stark aus dem Intimbereich zu bluten scheint, was auf eine brutale Vergewaltigung hindeuten könnte. Auf einem anderen viral gegangenen Video ist die 22-jährige Shani Louk (eine der Besucherinnen des Festivals) zu sehen, deren leblos wirkender Körper blutend auf dem Gepäckträger eines Autos durch die Straßen gefahren wird. Sie ist nur noch spärlich bekleidet, ihre Gliedmaßen sind unnatürlich verrenkt. Währenddessen zerren Terroristen an ihren Haaren und bespucken sie.“ In einem weiteren Artikel dokumentiert Anastasia Tikhomirova mit Benjamin Hendrichs für die ZEIT das Schicksal von Shani Louk. Auf dem Titelbild der Reportage ist zu sehen, wie Hamas-Terroristen eine Zivilistin aus dem Kibbuz Kfar Azza auf einem Motorrad entführen. Auf dem Festivalgelände wurden 260 Leichen gefunden.
Eine weitere Erinnerung dürfte in Israel eine Rolle spielen: Es gab 1948 nicht nur die Nakba, die Vertreibung von Palästinenser:innen, vertrieben wurde auch fast eine Million Jüdinnen:Juden aus arabischen Staaten. Nathan Weinstock dokumentiert diese Vertreibung, die Pogrome in seinem Buch „Der zerrissene Faden – Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947-1967“. Freiburg / Wien, ça ira Verlag, 2020 (die französische Originalausgabe erschien bereits 2008 bei Plon unter dem Titel „Une si longue présence“). Anastasia Tikhomirova zitiert Düzen Tekkal, die an die Vergewaltigung jesidischer Frauen durch Angehörige des sogenannten Islamischen Staats erinnert, an Anders Breivik und andere rechtsextremistische Terroristen, an das von Arabern verursachte Massaker in Hebron 1929 erinnert.
Aber unter dem Deckmantel der Ausgewogenheit wird relativiert und relativiert. Fast jeder Verurteilung der Hamas folgt Kritik an Israel, undifferenziert, ob damit der Staat Israel als solche, seine Regierung, alle jüdischen Israelis (20 Prozent der israelischen Staatsbürger:innen sind Araber:innen) oder gleich alle Jüdinnen:Juden weltweit gemeint sind. Es gibt viele Berichte über das Leid von Palästinenser:innen, es ist zu lesen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung von Gaza Kinder sind, wir sehen Bilder, es wird über die möglichen Folgen der angekündigten israelischen Bodenoffensive spekuliert. Dieses Leid ist unbestritten, aber zur Wahrheit gehört auch, dass es dieses Leid nicht gäbe, wenn nicht Hamas und ihre Verbündeten Israel immer wieder angriffen, das aktuelle Leid gäbe es nicht, wenn die Hamas am 7. Oktober 2023 in Gaza geblieben wäre.
Auch hier gibt es natürlich Lichtblicke und es ist wichtig, dass darüber berichtet wird. Der Videoblogger Nuseir Yasin alias Nir Daily ist arabischer Israeli. Er lebt in Dubai. Das ZEIT-Magazin dokumentierte am 19. Oktober 2023 ein Gespräch mit ihm: „Denken Sie mal an den 11. September zurück: Machten die Leute einen Unterschied zwischen nigerianischen Amerikanern, afghanischen Amerikanern, muslimischen Amerikanern – oder fühlten sich nicht alle an erster Stelle als Amerikaner? Was jetzt passiert ist, war Israels 9/11. Also habe ich mich gefragt: Wo ist meine Loyalität, wenn es um Leben und Tod geht? Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass sie einem sicheren Israel gilt, einem, das nicht noch einmal so angegriffen wird. Für Terroristen, die ein Land überfallen, sind alle Bürger Zielscheiben. Dieser Schock hat mir wirklich Klarheit verschafft. Und natürlich hat das vielen Palästinensern nicht gefallen. Aber letzten Endes müssen alle erkennen, dass Israel nicht nur aus Juden besteht, sondern zu 20 Prozent aus Arabern, das sind zwei Millionen Menschen. Araber sind für immer ein Teil von Israel. Und der Staat Israel ist eine Realität. Das muss akzeptiert werden, alles andere ist eine Illusion.“
Instrumentalisierung des Leids
Der Staat, der sich selbst das Ziel der Vernichtung Israels und aller Jüdinnen und Juden gesetzt hat, ist die Islamische Republik Iran. Dessen Rolle in dem aktuellen Terrorangriff ist ideologisch klar, logistisch vermutbar und mehr als wahrscheinlich. Konkrete Absprachen und Befehle sind gar nicht erforderlich. Es ist eine Allianz des Terrors mit ein und demselben Ziel: Vernichtung Israels. Natalie Amiri nannte die Zusammenhänge in ihrem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung mit dem Titel „Die Hamas ist nicht allein“. Sie begann ihren Beitrag mit einer gemeinsamen Erklärung von Hamas und Iran in Teheran. Nicht das Wohl der Menschen in Gaza (und im Westjordanland) ist für sie von Interesse: „Je mehr blutüberströmte Kinder, desto besser die Propaganda. Je schlimmer die Bilder aus Gaza sein werden, je mehr Kinder sterben, desto leichter wird es dem Regime in Iran fallen, Menschen für den Kampf gegen Israel zu mobilisieren.“
Viele Menschen in Gaza sind es leid, unter der Hamas zu leiden. Es gab auch schon Demonstrationen gegen die Hamas. Man sollte allerdings auch nicht naiv sein und glauben, dass alle Menschen in Gaza, alle Palästinenser:innen im Westjordanland und in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon sowie in anderen arabischen Ländern sich von den Terrorgruppen distanzieren. Die aktuellen Demonstrationen beispielsweise in Jordanien könnten die dortigen Regierungen durchaus destabilisieren, sodass nachvollziehbar ist, wenn sich die dortigen Staatchefs, in Ägypten, in Saudi-Arabien und in Jordanien zurzeit sehr zurückhalten, sich mit Regierungsvertreter:innen des Westens zu treffen. Ägypten zögert, die Grenze nach Rafah zu öffnen, weil unter den Flüchtenden durchaus auch Terrorist:innen sein könnten, die – wie vor einiger Zeit der sogenannte Islamische Staat – auf dem Sinaï neue Terrorzellen bilden könnten.
Es gibt aber auch in den arabischen Ländern kritische Stimmen. Der Tagesspiegel berichtete am 21. Oktober von einer ägyptischen Moderatorin des Senders Al-Arabiya, die einem Hamas-Führer Chalid Maschaal fragte, wie er für die palästinensische Sache Unterstützung erwarten könne, wenn die Hamas Zivilist:innen ermorde. Maschaal wies jede Verantwortung von sich. „Die Moderatorin kontert: ‚Werden Sie sich für das, was den israelischen Zivilisten am 7. Oktober angetan wurde, entschuldigen?‘. ‚Von Israel sollte eine Entschuldigung verlangt werden‘, entgegnete Maschaal auf die Frage. ‚Hamas tötet Zivilisten nicht absichtlich, im Mittelpunkt stehen die Soldaten.‘ Von den 1400 Toten in Israel sind nach Angaben der israelischen Armee gut 300 Soldaten – der Großteil sind Zivilisten. Die Art des Hamas-Angriffs gleicht aus Sicht der Moderatorin einer Kriegserklärung. ‚Einige Leute fragen sich daher, was Sie von der israelischen Reaktion erwartet hätten?‘.“
Auf die infame Strategie von Hamas, Hisbollah, Islamischer Republik Iran fallen westliche Medien immer wieder herein. Ich deutete zwei Beispiele aus der ARD bereits an, die am 15. Oktober ihre Beiträge im Europamagazin und im Weltspiegel mit dem Leid palästinensischer Kinder und Familien begann, das Leid der Angehörigen der israelischen Kinder und Familien, der Geiseln und ihrer Angehörigen jedoch nur kurz ansprechen ließ. Wir sahen ein gut ausgestattetes israelisches Krankenhaus, gerade ohne Patient:innen, aber in Erwartung eines Alarms, der dann auch kam. Wir sahen ein schlecht ausgestattetes Krankenhaus in Gaza mit überforderten Ärzt:innen und ständig eintreffenden neuen Patient:innen, auch zwei auf einer einzigen Trage. Die Frage, warum dies so ist, wurde nicht gestellt. Es wurde jedoch der Eindruck erweckt, als habe Israel mit dem Zustand in Gaza etwas zu tun. Welche Politik – sofern man dies überhaupt so nennen kann – die Hamas in Gaza betreibt, wurde nicht diskutiert. Ohne die ständigen Angriffe der Hamas auf Israel gäbe es dieses Problem nicht. Es gäbe weder das Leid der Menschen in Israel noch das Leid derjenigen, die in Gaza leben müssen.
Die Frage, wie die humanitäre Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung organisiert werden könnte, wird in den Medien ausführlich diskutiert. Am 22. Oktober 2023 wurde über 17 LKW’s berichtet, die den Grenzübergang im Süden von Gaza, bei Rafah, passierten. Inzwischen gibt es weitere Konvois. Eine grundlegende Frage lautet, ob es möglich ist, Mittel für humanitäre Unterstützung und Mittel für die Unterstützung militanten Terrors voneinander zu trennen oder ob – wie bei Mitteln für die UNWRA immer wieder kritisiert und auch mit anderen humanitär gedachten Mitteln von der Hamas schon praktiziert– es für Hamas und andere Terrororganisationen einfach ist, für humanitäre Zwecke gedachte Mittel für Raketen und andere Waffen umzuwidmen. Auch hier steht der Westen, so auch die deutsche Regierung vor dem Problem, dass rhetorisch markige Ankündigungen entweder verdecken, was man vorher versäumt hat, oder sich in der Umsetzung als wirkungslos erweisen. Nur ein Beispiel, wie die Hamas humanitäre Hilfe kapert: Auf mena-watch berichtete Bassam Tawil vier Tage vor dem Pogrom von Wasserdiebstahl durch die palästinensische Seite. Die prekäre Lage in Gaza wird von der Hamas systematisch verschärft und für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Heinrich Wefing hat in der ZEIT am 18. Oktober 2023 geschrieben: „Jedes Leben zählt gleich viel. Das ist das Fundament des Konzepts der Menschenrechte. Jedes menschliche Opfer ist eines zu viel. Das Leben jedes Kindes in Israel hat ebensolches Gewicht wie jedes Leben eines Kindes in Gaza. Wer sich nur für israelische Opfer interessiert oder nur für palästinensische, der interessiert sich in Wahrheit überhaupt nicht für menschliches Leben.“ Leid von Menschen lässt sich nicht gegeneinander aufrechnen, wohl aber lassen sich die Ursachen benennen. Wir müssen uns aber auch den „Dilemmata“ stellen, die der Kampf gegen die Verursacher des Leids, die Hamas, mit sich bringt. Heinrich Wefing fährt fort: „Wie geht man als Deutscher damit um, dass in diesem Krieg die Terroristen der Hamas die barbarischen Angreifer waren, dass es aber nun natürlich auch unschuldige Opfer aufseiten der Palästinenser geben wird?“ Die Frage stellt sich natürlich nicht nur für Deutsche, aber in dem Land, das für die Shoah verantwortlich war, stellt sich die Frage natürlich noch einmal anders als in anderen Ländern.
Die Täter-Opfer-Umkehr fällt umso leichter, je mehr palästinensische Kinder, Frauen, alte Menschen in diesem Krieg leiden. Es ist auch „ein Krieg der Bilder“, der Bildunterschriften und Bildkommentierungen, ein Krieg der Kontexte (Gerd Koenen: „Kontext schlägt Text“), denn jedes Bild lässt sich anders interpretieren. Bilder lassen sich mit einfachen Mitteln bearbeiten, sodass die Wahrheit nicht mehr erkennbar ist oder verfälscht wird. Die Bombardierung des Krankenhauses kann sich durchaus zu einer Erzählung auswachsen, die sich in andere Verschwörungserzählungen über die angebliche Macht der Juden und ihrer Rituale einbetten ließe. Insofern ist die Bereitschaft Israels, den Transport von Hilfsgütern nach Gaza zuzulassen, durchaus auch ein weiterer Lichtblick für eine Gegenerzählung, den die Kommentator:innen in Europa und in anderen Ländern wahrnehmen sollten. Allerdings wird immer wieder der Eindruck erweckt als reagiere Israel auf äußeren Druck. Israel ist einfach vorsichtig, mit guten Gründen, und diese Vorsicht geht in beide Richtungen.
Es gibt nicht nur die Sonnenallee
Auf den Straßen des Westens sehen wir Bilder von (vor allem) jungen Menschen in Neukölln, aber auch aus Duisburg, Düsseldorf, Aachen und anderen Städten, aus anderen Ländern, von Großbritannien, Belgien und Frankreich bis nach Australien, die die Hamas bejubeln. Die etwa 30 Mitglieder umfassende Gruppe Samidoun verteilte auf der Neuköllner Sonnenallee Süßigkeiten. Die Jubelbilder von Palästinenser:innen nach dem 11. September waren ein Fake, die aktuellen Jubelbilder sind das nicht.
Der Tagesspiegel und andere Medien berichten täglich von der Eskalation auf anti-israelischen und antisemitischen Kundgebungen, vor allem in und aus Berlin (was nicht heißt, dass es das nur in Berlin gibt). Böllerwürfe, brennende Barrikaden, Angriffe auf jüdisch gelesene Menschen, Molotow-Cockails auf eine jüdische Schule und eine Synagoge in Berlin Mitte. Eine mit etwa 50 Menschen angekündigte Mahnwache am Potsdamer Platz wurde von anti-israelischen Demonstrant:innen gekapert. Die Polizei hatte große Schwierigkeiten, die etwa 1.000 Teilnehmer:innen in Schach zu halten. Wohnungen von Jüdinnen:Juden werden mit einem Davidstern markiert.
Der Berliner Oberligaverein TuS Makkabi wollte zuerst den Spielbetrieb einstellen, nahm ihn jedoch angesichts der zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen wieder auf. Während der FC Bayern München sich bisher nicht öffentlich zu den die Hamas unterstützenden Einlassungen eines niederländisch-marokkanischen Akteurs äußerte, hat der FSV Mainz 05 einen sich entsprechend äußernden Spieler sofort suspendiert.
Josef Schuster kritisierte in der Jüdischen Allgemeinen, dass sich der Kulturbereich zurückhalte. Nach den Erfahrungen mit der documenta fifteen ist Skepsis gerechtfertigt. Für den Deutschen Kulturrat gilt dies nicht. Auf seiner Internetseite ist die Solidarität mit Israel und allen Jüdinnen und Juden eindeutig und klar formuliert. Der Deutsche Kulturrat hat sich schon vor längerer Zeit mit zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen zur Initiative Kulturelle Integration zusammengeschlossen, die immer wieder Veranstaltungen gegen Antisemitismus organisiert. Ein weiteres Thema ist das Schweigen in der Clubszene. Ina Plodroch berichtete im Deutschlandfunk.
Der bundesweite Verband RIAS dokumentiert für die Zeit vom 7. bis zum 15. Oktober „202 judenfeindliche Vorfälle, die einen klaren Bezug zu den Terrorattacken der Hamas gegen Israel und den Massakern an der israelischen Zivilbevölkerung hatten. Das waren 240 Prozent mehr antisemitischer Vorfälle als im selben Zeitraum im Jahr zuvor.“ (Quelle: Correctiv). Leider gibt es noch immer nicht in allen Bundesländern Meldestellen, viele Jüdinnen und Juden scheuen sich nach wie vor, Vorfälle zu melden, sodass wir von einer hohen Dunkelziffer ausgehen müssen.
Jessica Ramczik betont in der taz, dass die pro-Hamas-Demonstrationen nicht nur Juden:Jüdinnen gefährden, sondern uns alle. Lesenswert zu diesem Thema auch der bei Hentrich & Hentrich erschienene von Sebastian Lauer und Nicholas Potter herausgegebene Band „Judenhass Underground – Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen“. Sebastian Leber hat Nicholas Potter zu diesem Thema interviewt. Was in den sogenannten sozialen Netzwerken geschieht, ist noch ein ganz anderes Thema. Sebastian Leber hat im Tagesspiegel auch die Aktivitäten eins Bonner Tiktokers beschrieben. Es sind die üblichen Verschwörungserzählungen und ungebremster Hass, durchaus in Verbindung mit diversen bekannten Hasspredigern wie Pierre Vogel, der auch ausdrücklich als Referenz genannt wird. Die immer wieder geforderte Kontrolle der sozialen Netzwerke erscheint wirkungslos.
Die jüdischen Gemeinden haben zurzeit alle Hände voll zu tun, gemeinsam mit der Polizei die Sicherheit ihrer Mitglieder zu organisieren. Kaum noch jemand traut sich, sich in der Öffentlichkeit als Jude:Jüdin zu erkennen zu geben. Gesprächstermine werden aus Sicherheitsgründen abgesagt. Jüdische Eltern sorgen sich, ob sie ihre Kinder noch in die Schule schicken können. Die Frankfurter Soziologin Julia Bernstein, die den Antisemitismus in Schulen empirisch untersucht hat und darüber hinaus eine Fülle von Online-Material für Lehrer:innen entwickelt hat, sagte in einem Gespräch mit Kathrin Müller-Lancé für die Süddeutsche Zeitung: „Schon in einer Studie von 2017, an der ich damals mitgearbeitet habe, war das Fazit: Schulen sind einer der zentralen Orte antisemitischer Gewalt.“
Die Psychologin Marina Chernivsky berichtete in der Jüdischen Allgemeinen, dass die Zahl der Beratungsgespräche bei OFEK verdreifacht habe: „Wir haben ein Krisenteam gebildet, Zeiten unserer bundesweiten Hotline verlängert, die Beratung von Gemeinden, Kitas und Schulen priorisiert, Gesprächsformate für Eltern, Studierende und andere Gruppen entwickelt. Alle anderen Maßnahmen mussten bis auf Weiteres abgesagt oder verschoben werden.“ (Zu den abgesagten Maßnahmen gehört auch ein Essay für den Demokratischen Salon zu den Studien des ZWST-Kompetenzzentrums zum Antisemitismus in Schulen.) OFEK berät in Berlin Jüdinnen:Juden im Hinblick auf antisemitische An- und Übergriffe. Hinzu kommt jetzt die Begleitung bei der Trauerarbeit und der Sorge um Angehörige in Israel. Nicht nur in Berlin, auch in anderen jüdischen Beratungsstellen ist dies der neue Alltag. Einen Einblick in die Stimmung in den jüdischen Gemeinden geben Manuel Bogner, Christian Barth und Anastasia Tikhomirova für ZEIT online am 18. Oktober 2023, Titel: „Wir werden uns nicht vertreiben lassen“.
Kollateralschäden für die Migrationspolitik
Ein großer Kollateralschaden droht der Migrations- und Integrationspolitik. Dies ist einer der Aspekte, die aus meiner Sicht zu wenig bedacht werden. Es wird zwar immer wieder zwischen den Hamas-Terrorist:innen und der Zivilbevölkerung in Gaza unterschieden, aber wenn es um Menschen in Deutschland geht, die – wie es in Polizei- und Presseberichten immer wieder heißt – ein „südländisches Aussehen“, wird kaum noch differenziert. Sie werden als Menschen aus dem arabischen Raum gelesen und darüber hinaus in der Regel als Muslim:innen gelesen. Es ist absehbar, dass die in Deutschland ohnehin schon verbreitete Muslimfeindlichkeit sich noch einmal verstärkt und Trittbrett fahrende Politiker:innen der neuen Rechten profitieren. Sie hätten ja immer schon gesagt, wie gewalttätig Muslime wären. Und da der Attentäter, der in Brüssel zwei Schweden erschoss, 2011 über Lampedusa nach Europa gekommen sein soll, haben wir eine weitere Erzählung, die die Muslimfeindlichkeit in Deutschland und in anderen Ländern verstärken dürfte. Im Ergebnis müssen wir damit rechnen, dass – erste Äußerungen beispielsweise von Bundesinnenministerin Nancy Faeser weisen darauf hin – der aktuelle Antisemitismus Menschen aus dem arabischen Raum zugeschrieben wird, mit der Migration als importierter Antisemitismus zu uns gekommen wäre, sodass der rechtsextremistische Antisemitismus ebenso wie antisemitische Einstellungen der sogenannten „Mitte“ in den Hintergrund gedrängt wird.
Hinzu kommt die Argumentationsfigur, die bisherige Integrationspolitik hätte versagt, als gebe es keine Deutschen, die Antisemit:innen wären. Auch schon vor dem 7. Oktober wurden Synagogen und jüdische Einrichtungen von der Polizei geschützt. Der größte Anschlag einer palästinensischen Terrorgruppe war die Ermordung der israelischen Sportler:innen während der Olympiade 1972 in München. Aber unter den Täter:innen antisemitischer Gewalttaten waren auch viele Deutsche aus den verschiedenen rechtsextremistischen Milieus. Ronen Steinkes Buch „Terror gegen Juden“ (Berlin Verlag, 2020) enthält eine etwa 100 Seiten umfassende Liste.
Es ist wohlfeil, ein Verbot der Hamas und anderer Organisationen zu fordern. Und warum auch eigentlich erst jetzt? Markus Balser und Christoph Koopmann haben in der Süddeutschen Zeitung auf die bereits bestehende Rechtslage verwiesen: „Die Hamas steht seit 2001 auf der Terrorliste der Europäischen Union. Der Bundestag hat 2021 auch das deutsche Strafrecht entsprechend geändert: Seitdem dürfen Flaggen und Symbole der Hamas in Deutschland nicht mehr öffentlich zur Schau getragen werden. Das Vermögen der Hamas könnte eingefroren werden. Es ist auch schon lange verboten, der Hamas Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.“ Bliebe die Forderung nach der Ausweisung von Menschen in Deutschland, die die Hamas unterstützen, wie sie die Bundesinnenministerin und der SPD-Vorsitzende forderten. Aber was soll geschehen, wenn diese Unterstützer:innen deutsche Staatsbürger:innen sind, was bei einem sehr großen Teil der Fall sein dürfte, unabhängig davon, ob sie den sogenannten Migrationshintergrund haben oder nicht? Abgesehen davon kann man auch nur Menschen abschieben, die als Straftäter:innen verurteilt wurden. Vorausgesetzt, ein anderer Staat nimmt sie.
Die muslimischen Verbände schweigen weitgehend. Es gibt durchaus klare Stimmen. Der Tagesspiegel berichtete am 13. Oktober von einem Aufruf des Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoğlu: „Bleiben Sie besonnen! Halten Sie sich von der Manipulation der Hamas fern, diese schadet den Muslimen in aller Welt! (…): Wir sollten gemeinsam klare Kante zeigen. Ich appelliere deshalb an alle Muslime in Deutschland, sich nicht von der Hamas instrumentalisieren zu lassen.“ Ali Mete, Generalsekretär von Millî Görüş, verurteilte in einem Streitgespräch mit Lamya Kaddor in der ZEIT vom 19. Oktober 2023 ebenfalls den „terroristischen Anschlag“, fühlte sich aber – allerdings auch das nicht ohne Grund – veranlasst, auf die Reaktionen nach dem 11. September 2001 zu verweisen, durch die Muslim:innen generell verdächtigt wurden, Terrorismus zu billigen. Lamya Kaddor, eine der Gründer:innen des Liberal-Islamischen Bundes versuchte immer wieder, Ali Mete zu einem klaren Bekenntnis zum Existenzrecht Israels zu veranlassen. Das misslang. Andererseits stellt sich die Frage, ob es hilft, Bekenntnisse einzufordern. Es wäre schon viel gewonnen, wenn erfolgreich zu Zurückhaltung aufgerufen werden könnte. Münchner Imame kündigten an, in ihren Freitagspredigten am 20. Oktober dazu aufzurufen, nicht an einem geplanten pro-palästinensischen Autokorso teilzunehmen. Auch gemeinsames Vorgehen mit der Stadt sei möglich.
Murat Kayman, der 2017 seine Arbeit bei DİTİB aufgab, kritisierte in einem Gespräch mit Sebastian Leber im Tagesspiegel verdrehte Stellungnahmen, in denen zuerst Muslime als Opfer dargestellt würden, das Vorgehen der Hamas jedoch erst in einem nachrangigen Satz als „terroristisch“ benannt würde. Das Ergebnis sei absehbar: „Wenn wir ehrlich sind, haben wir keine Kultur des Erinnerns, sondern eine Kultur des Verdrängens in unserem Land. Und damit meine ich nicht nur die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, wo niemand etwas gewusst haben wollte. Sondern auch aktuell die Situation. Wir regen uns über Antisemitismus auf, wenn der Antisemit Hassan heißt, aber wenn er Hubert oder Heinrich heißt, ist es den meisten egal. Ich erinnere aus meiner eigenen Jugend in den 1980er Jahren, dass Karrieren sehr schnell ein Ende gefunden haben, wenn man Antisemitismus öffentlich artikuliert hat. Über dieses Tabu sind wir längst hinweg. Heute beschert das Wahlerfolge.“
Allerdings sollten auch hier Pauschalisierungen vermieden werden. Mark Schieritz kritisierte auf ZEIT online solche Pauschalisierungen gegenüber Linken wie gegenüber Muslimen. Auch hier gilt: Vorwürfe helfen zurzeit genauso wenig wie Verbote. Zurückhaltung ist das Gebot der Stunde. Kemal Bozay schrieb in der Ausgabe zur Türkei von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 30. September 2023 von „Diaspora-Nationalismus“. Das ist kein neues Phänomen. Das gab es auch beispielsweise bei deutschen, italienischen, irischen und anderen Einwanderer:innen in den USA über mehrere Generationen hinweg, das gibt es auch in Deutschland. Das hat durchaus etwas mit Integrationsbereitschaft zu tun, die aber nicht gerade gefördert wird, wenn Menschen mit einem arabischen oder türkischen Namen kaum Chancen haben, eine Wohnung zu finden, außer eben dort, wo ohnehin schon viele Menschen mit einer türkischen oder arabischen Familiengeschichte wohnen.
In Köln fand dann auf Initiative der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei ein Treffen zwischen der jüdischen Gemeinde und muslimischen Verbänden statt, das dann doch – wie die Süddeutsche Zeitung am 23. Oktober berichtete – klare Worte fand: „Schwarz auf weiß und ‚uneingeschränkt‘ verurteilten die muslimischen Verbände die Gräuel der Hamas; gemeinsam forderten Landesregierung und organisierte Muslime, ‚dass die Geiseln von der Hamas unverzüglich freizulassen sind‘. Besonders wertvoll für die NRW-Regierung war die Absage der geladenen Muslime an anti-israelische Demonstrationen und pro-palästinensische Slogans: ‚Wir werden nicht zulassen, dass die terroristischen Angriffe der Hamas auf unseren Straßen bejubelt oder auch nur relativiert werden.‘ Alle Teilnehmer verurteilten ‚aufs Schärfste den Aufruf der Hamas, jüdische Einrichtungen weltweit anzugreifen‘. Jegliche Form von Antisemitismus habe in NRW ‚keinen Platz‘.“ Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, hob hervor, dass dies das erste Mal war, dass sich die Verbände von der Hamas distanzierten. Allerdings muss man auch bedenken, dass nur vorwiegend türkisch geprägte Verbände eingeladen waren, die im Koordinierungsrat der Muslime organisiert sind. Der Zentralrat der Muslime verlor aber in letzter Zeit zahlreiche Gemeinden, der VIKZ ist inzwischen aus dem Koordinierungsrat ausgetreten. Die Wirrungen zwischen und innerhalb der muslimischen Verbände dürften durchaus noch eine Rolle bei der weiteren Positionierung zu Israel spielen.
Linke Wirrungen
Auf der linken Seite verwechseln manche die israelische Besatzung im Westjordanland mit Kolonialismus. Slavoj Źiźek sagte in einem Gespräch mit Ijoma Mangold von der ZEIT: „Die meisten Reaktionen, die ich bekomme, sind hate mails von der Pseudolinken. Die schreiben mir: Wie konnten Sie die Hamas verurteilen, sie ist Teil des antikolonialen Kampfes! Diese Haltung treibt meine jüdischen Freunde zur Verzweiflung. Sie sagen: Wir würden gerne unsere Solidarität mit den Palästinensern zum Ausdruck bringen, aber dafür muss Hamas verurteilt werden. Doch ein bestimmter Teil der Linken will das um keinen Preis. Das ist eine ethische Katastrophe.“
Anlass des Gesprächs war eine Rede von Slavoj Źiźek auf der Frankfurter Buchmesse, die manchen seiner Zuhörer:innen in einigen Formulierungen – vorsichtig gesagt – nicht eindeutig genug erschien. Der Eindruck war durchaus berechtigt. Ijoma Mangold fragte daher ausdrücklich nach, ob jetzt der richtige Zeitpunkt sei, das Leid der palästinensischen Bevölkerung zu thematisieren. Źiźek antwortete: „Absolut, genau jetzt sollte die Botschaft an die Palästinenser lauten: Wenn ihr keine Terroristen seid, seid ihr in diesem Land willkommen! (…) Das Einzige, was dauerhaften Frieden bringt, ist es, geduldig die palästinensische Frage zu lösen. Und hier komme ich zurück auf Moshe Dayan und Ben Gurion, die ehrlich genug waren, zu sagen: Hier gibt es keine einfache Lösung. Die erste Generation (nach der Staatsgründung Israels 1948, Einfügung der Redaktion der ZEIT), und zwar auf beiden Seiten, war sich der komplexen Situation deutlich bewusster. Und nur an diese Komplexität will ich erinnern.“ Ebenso sei zu unterscheiden zwischen der Regierung Netanjahu beziehungsweise seinen rechtsextremistischen Koalitionspartnern und der israelischen Bevölkerung. In Bezug auf die Hamas sei Zurückhaltung nicht mehr angesagt. Slavoj Źiźek: „Die Hamas muss vernichtet werden.“ Israel müsse sich aber auch „vor falschen Freunden“ hüten. Ich empfehle, dieses Interview in Ruhe mehrmals zu lesen. Es ist vor allem dank Ijoma Mangolds Nachfragen deiner der differenziertesten Texte zu diesem Thema.
Viele identifizieren in der Tat die Hamas, die Hisbollah oder den Islamischen Dschihad, die Aufrufe der Islamischen Republik Iran zur Vernichtung Israels mit den Menschen in den palästinensischen Gebieten und leugnen damit die von Slavoj Źiźek angesprochene „Komplexität“. Evelyn Finger sprach mit Arye Sharuz Shalicar, Sprecher der israelischen Armee. Das Interview wurde in der ZEIT am 19. Oktober 2023 veröffentlicht: „Mich stört die Doppelmoral: Unsere Kritiker setzen Israel und Palästina gleich, fragen nicht, wer den Krieg begonnen hat. Wir kämpfen aber nicht gegen Palästinenser, sondern gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad. Wir kämpfen nicht gegen die Iraner, sondern gegen das Mullah-Regime. Nicht gegen den Libanon, sondern die Hisbollah.“ Er sagte auch: „Das ist die Lektion aus der Shoah. Wir müssen wehrhaft sein.“ Die Tragik der Menschen in Gaza und im Westjordanland besteht im Grunde darin, dass sich Terrororganisationen anmaßen, für ihre Rechte einzutreten, sie aber gleichzeitig in Geiselhaft nehmen, indem sie sich und ihre Waffen in öffentlichen Gebäuden und Wohngebäuden unterbringen, um dann, wenn Israel sich gegen die andauernden Übergriffe wehrt, vorwerfen zu können, Israel bombardiere harmlose Zivilist:innen.
Auch hier spielt hartnäckig gepflegte Unkenntnis eine Rolle: Bernard-Henry Lévy schreibt angesichts der Begründungen von Jean-Luc Mélenchon und anderen sich als „anti-imperialistisch“ verstehenden Linken: „Seit 18 Jahren befindet sich keine Besatzungsmacht mehr auf ihrem Boden. Sie hatten keine territorialen Ansprüche, die sie geltend machen konnten, und kein Kriegsziel, dem sie sich entgegenstellen konnten.“ Rania Martini stellte in der taz die Frage: „Was daran verstehen jene, die „Free Palestine from the River to the Sea“ rufen, nicht? Warum solidarisieren sich viele Linke mit einer faschistischen Organisation, auch wenn sie sich selbst als feministisch oder queer sehen? Warum gilt es als progressiv, Israel von der Landkarte zu wünschen? Warum werden Kolonialismus und Shoah erinnerungsökonomisch gegeneinander ausgespielt? Diese Frage müssen sich auch die Stiftung „Right Livelihood“, die den „Alternativen Nobelpreis vergibt, und Akteure der Klimaschutzbewegung stellen lassen, wie beispielsweise Elisa Bas, Sprecherin der deutschen Sektion von Fridays for Future, die eine „Pogrom-Stimmung gegen Palästinenser:innen“ zu sehen glaubte. Immerhin hat sich Fridays for Future relativ schnell von dieser Äußerung distanziert. Wenig später kam die Meldung, dass sich Greta Thunberg mit den Palästinenser:innen solidarisiert hat, ohne ein einziges Wort über den Terrorangriff der Hamas zu verlieren.
Auch dieses Verhalten der Linken ist nicht neu. Anastasia Tikhomirova veröffentlichte am 21. Juli 2021 in der taz den Essay „Antisemitismus in der Linken: Save Spaces auch für Jüdinnen:Juden“. Der Text wurde jetzt von ihr in dem Buch „Stromlinienunförmig“ (erschienen bei edition assemblage, 2023) mit 46 weiteren Texten ihrer journalistischen Arbeit neu veröffentlicht. „Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus ist kein ausschließlich deutsches Problem: Auch Black-Lives-Matter-Gruppen (BLM) in den USA, England und Frankreich wurde dahingehend ein blinder Fleck und die Unfähigkeit, zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus zu unterscheiden, attestiert. So wurden im Zuge mehrerer BLM-Proteste Synagogen und jüdische Geschäfte geschändet, zu Angriffen auf ‚Zionist:innen‘ aufgerufen und für die BDS-Bewegung sowie die Ablehnung des ‚Apartheidstaats Israel‘ erklärt. Zwischen den Fronten finden sich schwarze Jüdinnen:Juden wieder, die bei solidarischer Kritik an der BLM-Bewegung Anfeindungen aus dem antirassistischen Milieu erlitten. Bis heute steht eine Distanzierung von BLM von diesen lautstarken antisemitischen Äußerungen aus.“
(Politische) Bildung – hilft das?
Alles in allem bündeln sich mehrere Problemlagen. Es geht nicht nur um die Bekämpfung von Terrorgruppen in Gaza und anderswo, sondern auch um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland und in anderen westlichen Staaten. In der Politik dominieren zurzeit repressive Maßnahmen. Das hat durchaus auch damit zu tun, dass weiche Maßnahmen in der Vergangenheit offenbar wenig fruchteten. Politische Bildung und Streetwork wären eine Lösung, wie die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main in einem Aufruf forderte, aber der aktuelle Entwurf des Bundeshaushalts sieht ebenso wie die Haushalte verschiedener Länder in diesem und in anderen Bereichen der Bildungs-, Jugend- und Sozialpolitik Streichungen vor. Insofern herrscht eine Ratlosigkeit, die sich in klarer Rhetorik offenbar ein Ventil zu suchen scheint, aber ein Rezept, wie wir dem akuten Antisemitismus begegnen, hat bisher noch niemand erfunden.
Lehrer:innen erweisen sich oft als hilflos. Julia Bernstein weist darauf hin, dass sehr viele in ihrer gesamten Ausbildung kein einziges Seminar zum Antisemitismus besucht hätten. Es wäre allerdings auch die Frage berechtigt, ob solche Seminare überhaupt angeboten werden. Meistens werden Themen wie Antisemitismus oder Rassismus unter dem Thema Demokratie subsummiert, das aber auch nicht unbedingt zu den Kernthemen von Aus- und Fortbildung gehört. Die Beschlüsse der KMK – um nur ein Beispiel zu nennen – werden viel zu oft von denen ignoriert, die die Lehrpläne schreiben oder Fortbildungen organisieren. Es sind lobenswerte Absichtserklärungen. Wenn jedoch nachgefragt wird, was die Länder gegen Antisemitismus täten, verweisen sie gerne auf Gedenkstättenbesuche (die nur in Bayern verpflichtend sind) und Fortbildungskooperationen mit Yad Vashem, an denen etwa 15 bis 20 Lehrer:innen im Jahr teilnehmen können.
Jeannette Otto sprach für die ZEIT mit Meron Mendel, dem Leiter der Bildungsstätte Anne Frank. Meron Mendel forderte von Schulen, sich dem Thema zu stellen. Täten sie dies nicht und zögen ihr übliches Programm durch, sei dies eine „moralische Bankrotterklärung“: „Genau wie bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder den Terrorakten in Paris 2015, wenn also Verbrechen von internationalem Ausmaß stattfinden, ist es die Pflicht der Schule, darauf einzugehen und Position zu beziehen. Das gilt auch, wenn in einem westlichen demokratischen Staat wie Israel 1300 Zivilisten innerhalb von 24 Stunden abgeschlachtet, Kinder enthauptet, Frauen vergewaltigt und unschuldige Menschen verschleppt werden. Die Schule kann da nicht zuschauen und sich darauf zurückziehen, Mathe, Deutsch und noch ein oder zwei Fremdsprachen zu unterrichten. Das käme einer moralischen Bankrotterklärung gleich, einem absoluten Versagen in der Werteerziehung.“ Niemand dürfe sich entziehen. Es sei nicht mehr angebracht, immer nur darauf zu verweisen, es gäbe doch zwei Seiten: „Ich gehörte bis zum 7. Oktober auch zu denen, die immer dazu aufgefordert haben, beide Seiten des Konflikts genau anzuschauen. Aber das, was jetzt passiert ist, hat eine neue Dimension. Das ist mit keinem Konflikt aus der Vergangenheit vergleichbar. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das ganz für sich alleine steht. Das ist kein weiteres Komma oder ein weiterer Halbsatz in dieser so lange währenden Geschichte des Nahostkonflikts. Das ist etwas vollkommen anderes. Das anzuerkennen und zu begreifen, ist ein großer Schritt. Der fällt allen schwer, Lehrkräften, Eltern, Politikern.“ Ein Pogrom bewaffneter Gruppen gegen unbewaffnete Jüdinnen: Juden stellt die Wirksamkeit aller bisherigen Bildungsmaßnahmen zur historisch-politischen Bildung und gegen Antisemitismus, nicht zuletzt auch zur so hochgeschätzten deutschen Erinnerungskultur in Frage. Verbote helfen jedoch nicht weiter, auch nicht die Verordnung von Schweigeminuten, so berechtigt sie sein mögen. Verordnungen von oben verändern keine Einstellung. Entscheidend sei die Bildung eines Konsenses in den Kollegien, „ohne Hysterie“, Lehrer:innen müssen sich die Zeit nehmen, mit Schüler:innen zu sprechen. Eine klare Haltung bleibt dabei natürlich unabdingbar: „Orte wie Beeri, Kfar Azza, Nir Oz oder Re`im gehören ab jetzt ins kollektive Gedächtnis. Genau wie jeder weiß, was in Butscha im Ukrainekrieg passiert ist und vom Massaker von Srebrenica gehört hat, sollten diese Orte von nun an für den Krieg im Nahen Osten stehen. Beeri muss ein Synonym sein für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dafür brauche ich in den Klassenzimmern keine Profis. Das sollte jeder Lehrkraft bewusst sein.“
Utopien? Utopien!
Israel bedarf unserer Solidarität, jetzt erst recht. Ungeachtet der Streitigkeiten zwischen Regierung und Opposition in Israel geht es nicht nur um das völkerrechtlich verbriefte Existenzrecht eines Staates, sondern auch um das Recht auf Leben, auf Unversehrtheit aller dort lebenden Menschen, auf das Recht auf Unversehrtheit, auf Leben aller Jüdinnen:Juden weltweit. Empathie für das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ist ebenfalls berechtigt, allerdings muss auch deutlich gesagt werden, dass dieses Leid von den diversen palästinensischen Terrorgruppen herbeigeführt wird.
Der iranisch-terroristischen Utopie von der Vernichtung Israels müssen wir eine andere Utopie entgegensetzen. Möglicherweise ließen sich irgendwann doch einmal politische Lösungen finden, an die heutzutage niemand glaubt, gleichviel ob die sogenannte Zweistaatenlösung oder eine Alternative wie die von Omri Böhm in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ vorgeschlagene Föderation. Die Aussichten sind zurzeit schlecht. Omri Böhms sagte im Gespräch mit Sonja Zekri, seine Lehre aus dem 7. Oktober „besteht darin, dass wir für das Zusammenleben mit den Palästinensern eine politische Lösung finden müssen, sonst besiegeln wir unser Schicksal und ihres.“
Wir dürfen nicht nachlassen. Wir brauchen eine offene, nachhaltige und konsequente Unterstützung der Proteste und der Opposition im Iran, denn deren Erfolg würde den gesamten Nahen Osten befrieden. Natalie Amiri formulierte in ihrem bereits zitierten Essay eine konkrete (?) Utopie: „Dann würden wir in einem Land leben, das befreundet wäre mit Israel. Dann bräuchte Israel weniger Waffen und Saudi-Arabien auch. Es gäbe keinen Krieg im Jemen. Irak könnte seine eigene Politik bestimmen. Die Hisbollah und die Hamas hätten keinen Finanzierer mehr. Russland würde keine Drohnen und Mittelstreckenraketen mehr geliefert bekommen, die sie im Krieg gegen die Ukraine einsetzen. Putin hätte keinen mächtigen Verbündeten mehr in der Region. Assad hätte einen Unterstützer weniger. Die Gefängnisse, in denen politische Gefangenen sitzen, wären leer. Man müsste sich nicht mehr fürchten vor einer Atombombe in den Händen der Mullahs. Es gäbe einen neuen Markt, der offen wäre für einen enormen Nachholbedarf an Investitionen. Allein für Deutschland 20 Milliarden Investitionen – pro Jahr. Und vielleicht wäre eine Frau Präsidentin, die in einem ersten Amtsakt nach Yad Vashem ginge.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2023, Internetzugriffe zuletzt am 23. Oktober 2023, Titelbild: Jerusalem © Lamya Kaddor.)