Denkmal der Unbekannten

Lena F. Schraml über literarische Erinnerungskulturen

„Die verwobenen Geschichten stellen globalhistorische, verflechtungsgeschichtliche Bezüge her, die in nationaler Geschichtsschreibung ausgespart bleiben, trivialisiert oder als Migrationsgeschichten von der ‚eigentlichen’ deutschen Geschichte abgetrennt werden, um sie über den Umweg ihrer Exotisierung und Externalisierung als fremde Geschichten neu einzuführen“. (Iman Attia / Olga Gerstenberger / Diane Izabiliza / Ozan Zakraiya Keskinkiliç / Iris Rajanayagam / Isidora Randjelović, Verwobene Geschichten – Geteilte Erinnerungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4. Oktober 2021)

Die zitierten Sätze erschienen in einer Ausgabe der APuZ mit dem Titel „Geschichte und Erinnerung“. Die Ausgabe enthielt acht Essays, darunter den zitierten Text, der nach meinem Eindruck durchaus den Charakter eines Manifests hat. „Geschichte und Erinnerung“ – das sind zwei Begriffe im Singular, die sich vielleicht besser im Plural verwenden ließen. Sie wecken das Interesse, die unterschiedlichen Modi zu analysieren, in denen sich Vergangenes erschließen ließe. „Erinnerung“ mag eher subjektiv gehaltene, „Geschichte“ eher von wem auch immer objektivierte Vergangenheiten – auch diese im Plural – in die Gegenwart zu holen, die es grammatisch leider nur im Singular gibt.

Verwoben

Die sechs Autor*innen des zitierten Textes analysieren „Leerstellen, Lücken, Sackgassen“, durchaus im Sinne der Frage von Mark Terkessidis „Welche Erinnerung zählt?“ (Hamburg, Hoffmann und Campe, 2019) In allen historischen oder historisierenden Erzählungen, gleichviel ob schriftlich oder mündlich vorgetragen, gleichviel ob als Zeitzeug*innenbericht ausgewiesen oder als fiktive Erzählung markiert, vermischen sich diverse Wahrnehmungen dessen, was in der Vergangenheit gewesen ist, gewesen sein könnte, gewesen sein sollte, stets auch im Hinblick auf das, was offiziell oder offiziös eine Art Authentizitäts-Stempel erhält, und das, was diesen Stempel aus welchen Gründen auch immer nicht erhält.

Der Vorschlag der sechs Autor*innen ergänzt den Ansatz von Mark Terkessidis in einem wesentlichen Punkt: „Nicht die community-spezifische Unterscheidung zwischen Geschichten verschiedener Communities, sondern die verschachtelten, gleichzeitigen, oft ambivalenten und miteinander verknoteten Erinnerungsfäden zum Ausgangspunkt einer Spurensuche zu nehmen, bildete das grundlegende Interesse.“ Es geht somit nicht nur um das Subjekt der jeweiligen „Erinnerungen“, sondern um die Interaktion verschiedener Subjekte, die vielleicht eine gemeinsame „Geschichte“ haben können, diese aber unterschiedlich erzählen und Objektives und Subjektives miteinander vermischen dürften. Genau dies tun wir eigentlich alle, wenn wir „Geschichten“ erzählen.

Ein Beispiel für eine solche Verquickung von „Erinnerungen“ und „Geschichten“ bietet Manuel Gogos in seinem Buch über die Genese des Kölner Migrationsmuseums DOMiD „Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft“ (Bielefeld, transcript, 2021). Er verweist darauf, dass es nicht allein um das Gedächtnis der Menschen gehen könne, die tatsächlich ein- oder zugewandert sind, sondern um die Interaktionen zwischen den Gedächtnissen – wieder der Plural – der Menschen der Aufnahmegesellschaft und den Ein- und Zugewanderten, die aber auch nicht als zwei Gruppen wahrzunehmen wären, sondern in sich jeweils ihre eigenen „Erinnerungen“ pflegen. Erst in diesen Interaktionen entsteht ein umfassendes Bewusstsein für die Wirklichkeiten einer „Einwanderungsgesellschaft“ beziehungsweise „Migrationsgesellschaft“. Deren historische Wahrheit ist eben mehr als komplex, de facto „verwoben“, und sie besteht aus mehreren Wahrheiten, aus Perspektiven.

Es ist nicht so einfach, die einzelnen Fäden oder gar den Prozess der Verwebung zu analysieren. Die Frage nach dem Kern, der historischen Wahrheit, sollte sich daher auch der Frage stellen, ob es vielleicht – aus welcher Perspektive, welchem Interesse auch immer – so gewesen sein könnte oder sogar so gewesen sein sollte. Wer hat aus welchen Gründen und mit welchen Zielen was mit was „verwoben“? Damit bewegen wir uns in dem gefährlichen Feld der Geschichtspolitik. Vor allem autoritäre und erst recht totalitäre Regierungen verfügen gerne über Schulbücher und die ihnen hörig gemachten Medien. Sie verordnen ihr Bild der heroischen Vergangenheit des Volkes, das sie sich anmaßen zu vertreten, und versuchen gleichzeitig alles, was dem widersprechen könnte, zu unterdrücken oder zu vernichten. Literatur spielt in diesen Kontexten eine wichtige Rolle, systemerhaltend und affirmativ oder subversiv.

Möglicherweise sagen fiktive Erzählungen mehr über die dahinter liegenden Wirklichkeiten und Kontexte aus als reale Dokumente diverser Archive, sofern diese überhaupt zur Verfügung stehen. Literatur verdichtet. Ich nenne als Beispiele die Romane von Lion Feuchtwanger, nicht nur die Trilogie aus „Erfolg“ – ein Schlüsselroman – „Die Geschwister Oppermann“ und „Exil“, auch Romane wie „Die Jüdin von Toledo“. Die Trilogie ist Zeitgeschichte, „Die Jüdin von Toledo“ ließe sich auf die Zeitgeschichte übertragen, ähnlich wie Thomas Manns „Josef und seine Brüder“. Ein Roman wie „Wie eine Träne im Ozean“ von Manès Sperber berührt die Grenzen zwischen Fiktion und Autobiographie, durchaus vergleichbar mit der Erzählhaltung der Romane von Aharon Appelfeld. Das sind nur einige wenige Beispiele, es ist eine sehr subjektive Auswahl.

Nicht zuletzt enthalten auch Berichte von Zeitzeug*innen und Autobiographien fiktionale Elemente, sind manchmal sogar bewusst als fiktionale Erzählung gehalten. Sie stilisieren, wählen aus, offenbaren, verschweigen, deuten an, kurz: sie verdichten. Dies mindert ihren Wert in keiner Weise, im Gegenteil. Eine historische oder auch bloß historisierende Lektüre erschließt neue Wahrheiten und nicht zuletzt entstehen in den Leser*innen weitere Varianten der geschilderten „Geschichte“. Besonders attraktiv sind für viele Leser*innen, auch für diejenigen, die sich nicht unbedingt für „Geschichte“, wohl aber für spannend geschriebene „Geschichten“ interessieren, historische oder historisierende Romane. Manche verkaufen sich recht gut und die Leser*innen erfreuen sich an der Illusion, so könnte es gewesen sein. Vielleicht war es auch so oder hätte zumindest so gewesen sein können, sodass es sich lohnen würde, dem wahren Kern, der historischen Wahrheit in solchen Romanen nachzuspüren. Wie auch immer: wer der Vergangenheit und der Art und Weise, wie Vergangenheit diskutiert wird, auf den Grund gehen möchte, sollte fiktionale, fiktive Texte einbeziehen.

Versteckte Subversion

Lena F. Schraml hat dies in ihrer Dissertation getan. Der Verlag Frank & Timme veröffentlichte sie im Jahr 2022 als 44. Band der von Jekatherina Lebedewa und Gabriela Lehmann-Carli herausgegebenen Reihe „Ost-West-Express“ unter dem Titel „Kollektives Gedächtnis und literarische Erinnerungskultur – Erinnern und Vergessen in polnischen und persischen Texten der Gegenwart“. Der ursprüngliche Titel – so die Autorin in ihrer Einleitung – lautete „Gegen das Vergessen, gegen das Nichts“. Dieser Titel ist ein Zitat aus Monika Sznajdermans Roman „Die Pfefferfälscher“ („Falszersze pieprzu“), eine der fünf polnischen Erzählungen, die Lena F. Schraml analysiert. Neben den polnischen Romanen analysiert sie vier iranische Erzählungen. Eine fünfte iranische Erzählung konnte leider nicht aufgenommen werden, weil der Kontakt zu der Autorin, die bereits ihr Einverständnis erklärt hatte, abbrach.

Ein Kriterium der Auswahl war die Existenz von deutschen beziehungsweise im persischen Fall auch englischen Übersetzungen. Mich hat im literaturwissenschaftlichen Teil die Akribie der Autorin beeindruckt, die Polnisch und Farsi gleichermaßen beherrscht und dankenswerterweise auch auf Übersetzungsfehler hinweist. Für mich als Rezensenten mag es schwer sein, den polnischen und den persischen Teil gleichermaßen zu würdigen. So ist mir die polnische Geschichte, auch die Zeitgeschichte, vertrauter als die iranische. Dies mag auch daran liegen, dass die polnische PiS-Regierung zwar eine durchaus kritikable Geschichtspolitik verfolgt, die Lena F. Schraml auch mehrfach erwähnt, jedoch andere Auffassungen der Geschichte veröffentlicht werden können. Was im Iran veröffentlicht werden kann, auf welchen Wegen Oppositionelles, die Staatsdoktrin Konterkarierendes, in Frage Stellendes uns in Europa erreicht, ist jedoch schwer zu beurteilen, auch unabhängig von den Risiken, die iranische Autor*innen eingehen. Es dürfte schwierig sein, auch inner-iranische Debatten nachzuvollziehen, nicht nur aus sprachlichen Gründen. Einen Einblick in die Risiken und Einschränkungen iranischer Wissenschaftler*innen bietet vielleicht das 2003 in englischer Sprache erschienene Buch „Reading Lolita in Tehran“ der iranischen Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi, die in diesem Buch von einem heimlich in ihrer Wohnung gehaltenen Literaturseminar mit iranischen Studentinnen erzählt, inzwischen jedoch in den USA lebt und lehrt.

Die Entscheidung, polnische und persische Literatur zu vergleichen, ist mutig, im besten Sinne. Aus meiner Sicht sind solche transkulturellen Vergleiche bestens geeignet, unseren Blick für die Erinnerungskulturen dieser Welt zu weiten. Wo sind Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede, wo sind Brüche, wo Unvereinbarkeiten? Die Arbeit von Lena F. Schraml enthält einen etwas mehr als 50 Seiten umfassenden allgemeinen Teil zur Methodik der Erinnerungskultur und den etwa 225 Seiten umfassenden literaturwissenschaftlichen Teil, in dem die neun Erzählungen analysiert werden. Zwischen dem methodischen und dem literaturwissenschaftlichen Teil gibt es eine kleine Diskrepanz, die sich aber möglicherweise, zumindest für den iranischen Teil, auch aus der Verfügbarkeit entsprechender Literatur erklären mag. Während im literaturwissenschaftlichen Teil auch polnische und iranische Wissenschaftler*innen zitiert werden, fehlen sie im methodischen Teil. Dies gilt beispielsweise für den Streit um das Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs, der meines Erachtens paradigmatisch für den Streit um diverse staatlich verordnete, wissenschaftlich begründbare und zivilgesellschaftlich verankerte Erinnerungskulturen gelten mag, aber nur an einer Stelle im literaturwissenschaftlichen Teil genannt wird. Geschichte ist und bleibt ein politischer Kampfplatz.

Lena F. Schraml verspricht eine Antwort auf die „Frage nach der besonderen Rolle fiktionaler Literatur für kollektive Gedächtnisse und Erinnerungskulturen“. Sie bezieht sich auf prominente Autor*innen, darunter Aleida Assmann und Paul Ricoeur. Letztlich ist Erinnerungskultur, gleichviel in welchem Modus sie sich realisiert, ein Konstrukt, ganz im Sinne von Maurice Halbwachs, der „betonte, dass das kollektive Gedächtnis Vergangenheit nicht aufbewahre, sondern rekonstruiere.“ Astrid Erll geht noch einen Schritt weiter, indem sie von „Einsichten in die Dynamiken von historischen und gegenwärtigen Erinnerungskulturen“ (zitiert nach Lena F. Schraml) spricht. Ein zentraler Punkt der Analysen von Lena F. Schraml ist die Bewertung des Märtyrer-Narrativs, etwas weniger pathetisch des Narrativs der Opfer, sodass sich die Frage stellt, welches Bewusstsein ein als „Märtyrer“ verklärter Mensch in seinem Leben vor dem Tod von seiner Rolle post mortem gehabt haben könnte: „Die Figur des Märtyrers entsteht also erst in der Erzählung durch eine außenstehende Person.“ Hier verweben sich die Begriffe von „Trauma“ und „Heldenerzählung“. Nicht auszuschließen ist auch die Figur des Helden wider Willen. Möglicherweise entstehen „Trauma“ und „Heldenerzählung“ auch erst in den Leser*innen und werden dann und wann von Staats wegen sakralisiert.

Die von Lena F. Schraml analysierten Erzählungen belegen, wie stark sich verschiedene Sichtweisen auf das Schicksal eines Menschen verweben können. Sie hat Texte ausgewählt, die im Grunde quer zum in Polen beziehungsweise im Iran verordneten kollektiven Gedächtnis gelesen werden können. Leitmotive der Erzählungen sind der polnische Antisemitismus und der polnische Widerstand gegen die Besatzung durch deutsche beziehungsweise sowjetische Truppen sowie die Einstellung iranischer – und in einem Fall möglicherweise irakischer – Soldaten gegenüber dem staatlich verordneten Märtyrer- und Heldennarrativ. „Die Autoren (sic! drei der fünf polnischen Autor*innen sind Frauen! NR) der untersuchten Texte erweitern auch die in den kollektiven Gedächtnissen abgesteckten Grenzen des Eigenbilds. (…) Grenzen zwischen den Menschen zeigen sich im Äußerlichen, in der Sprache, im Vermögen, im Glauben. Wo auch immer sie sich vergleichen können, grenzen sie sich im Dienste der eigenen Identität von anderen ab.“ Kern der Abgrenzungen ist in den polnischen Texten auch eine innergesellschaftliche Grenze, „die Grenze zwischen ethnischen und jüdischen Polen“, in den persischen Texten die Grenze zwischen irakischen und iranischen Soldaten.

Ich habe mir die Frage gestellt, ob und wie diese Texte subversiven Charakter erhalten und wie sie diesen in offiziell akzeptable Formeln verkleiden. Misslingt eine solche Verkleidung, mag dies für iranische Autor*innen lebensgefährlich werden. Schwer beantwortbar ist auch die Frage nach der Wirkung literarischer Texte auf zukünftige Erinnerungskulturen, diese Antwort „bleibt abzuwarten: Wie wird im Iran 75 Jahre nach Ausbruch des Iran-Iraq-Kriegs an diesen erinnert werden? (…) Welchen Einfluss haben fiktionale Romane auf Erinnerungskulturen?“ Dies wäre Gegenstand von Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte. Im Hinblick auf die deutsche Literatur denke ich an so unterschiedliche Werke wie „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, „Doktor Faustus“ von Thomas Mann, die Erzählungen von Ingeborg Bachmann, „Die Blechtrommel“ von Günter Grass oder den ersten Roman, in dem – verschlüsselt – ein deutsches Konzentrationslager beschrieben wird, „Auf den Marmorklippen“ von Ernst Jünger aus dem Jahr 1939 (!). Wie interagieren diese Texte, wie interagieren die Leser*innen, wie interagieren die Wirkungsgeschichten? Gibt es so etwas wie eine kollektive Wirkung, auch bei denen, die diese Texte nicht gelesen haben, im ein oder anderen Fall möglicherweise auch noch nie von ihnen gehört haben?

In der Darstellung der Sichtweise Lena F. Schramls auf die fünf polnischen und die vier iranischen Erzählungen versuche ich eine Art roten Faden zu lesen, der die Texte miteinander verbindet. Damit schreibe ich nicht, dass Lena F. Schraml keinen roten Faden beschrieben hätte. Dies tut sie, gerade im Hinblick auf die Verwobenheit subjektiver und objektivierender Erinnerungen. Aber ich denke, dass ihre Arbeit alle Leser*innen, die ich ihr wünsche, anregen könnte und sollte, weitere rote Fäden zu suchen, ihre jeweils eigenen vielleicht. Ich gestehe aber auch, dass es für mich leichter ist, über die polnischen Texte zu schreiben, da ich Texte der polnischen Autor*innen, über die Lena F. Schraml schreibt, selbst gelesen habe, in zwei Fällen sogar dieselben Texte. Die iranischen Texte kannte ich vor meiner Lektüre ihrer Arbeit nicht.

Der „Christus unter den Völkern“ und der Antisemitismus

Seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Polen das Narrativ des „Christus unter den Völkern“. Es ist das kollektive Märtyrernarrativ schlechthin. Lena F. Schraml referiert die Geschichte des Narrativs von Jósef Maria Hoene-Wroński über Kazimierz Brodzinski zu Adam Mickiewicz. In dem Motiv steckt nicht nur der gekreuzigte, sondern auch der auferstandene Christus, sodass es Märtyrer- und Heldenerzählung in sich vereint. Ebenso vereint das Motiv „Nationalität und Katholizismus“ und schließt damit alle diejenigen, die nicht katholisch sind, aus der nationalen Gemeinschaft aus: „Indem Polen die Rolle des ‚Christus unter den Völkern‘ einnahmen, wurden Juden zu den inneren Feinden, die mit den Teilungsmächten gemeinsame Sache machten und letztlich die Kreuzigung der polnischen Nation planten.“

Ein Gespräch über polnischen Antisemitismus ist in Polen jedoch weitgehend ein Tabu, inzwischen sogar strafbewehrt. Lena F. Schraml bezieht sich auf Thesen, die der polnische Literaturwissenschaftler Jan Błoński Ende der 1980er Jahre formulierte. Dieser „fordert von seinen polnischen Mitbürgern anstatt Rechtfertigung und Aufrechnung ein Nachdenken über die eigene Sünde und Schwäche.“ Der offiziellen Geschichtspolitik entspricht eine solche Forderung im Jahr 2022 nicht. Die Zweiteilung Polens in ein jüdisches und in ein katholisches, von Lena F. Schraml „ethnisch-polnisch“ genanntes Polen durchzieht die fünf von ihr analysierten Erzählungen und Romane. Allerdings ist das Erscheinungsdatum möglicherweise relevant. Ein Roman erschien 1996, zwei Romane 2008 und zwei 2016, alle somit vor der von der polnischen Regierungspartei PiS im Sejm durchgebrachten geschichtspolitischen Gesetzgebung.

In Monika Sznajdermans Roman „Die Pfefferfälscher“ (2016) verbinden sich die beiden polnischen Welten in einer Familie, in den Eltern der Erzählerin aus der Stadt Radom. Der jüdische Teil der Familie überlebte die Shoah nicht, es haben weder Dokumente noch andere schriftliche Zeugnisse „überlebt“. Hilfsweise verlässt sich die Erzählerin auf „bekanntere Autoren (…) wie Elie Wiesel, Marcin Kępa, (…), Historiker wie Jan Błoński und jüdische Schriftsteller wie Jehoszua Perle oder der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer“. Sie muss ihre Erinnerungen aus dem Gelesenen, Erfahrenen zusammensetzen. „Der einzige Weg, den die Erzählerin sieht, ist, aus den kläglichen Überresten ihr eigenes, ganz privates Buch von Radom zu schreiben, denn die Literatur sei die ‚einzig mögliche Form‘ der Erinnerung. Also nennt sie die Namen ihrer jüdischen Verwandten, deren Existenz allein durch das Drucken der schwarzen Buchstaben auf weißem Papier, durch die Nennung aus der Wolke des Vergessens zurückgerufen wird.“ Der kontrafaktische Gedanke liegt ihr nicht fern. Vielleicht sähe sie „in ihren polnischen Verwandten und Nachbarn nur polnische Patrioten“ (Zitat aus dem Roman). Stattdessen lässt sich der Verdacht nicht verdrängen, dass die Täter*innen, die für die Ermordung des jüdischen Teils ihrer Familie verantwortlich waren, „jene tiergleichen ‚Bestien‘ Alltagsbekanntschaften und Nachbarn waren“.

Szczepan Twardoch schildert in seinem ebenfalls im Jahr 2016 erschienen Roman „Der Boxer“ eine Möglichkeit, beide Welten in einer Person aktiv zu verbinden. Der Roman hat den polnischen Titel „Król“, in deutscher Sprache eigentlich „König“. Und genau als ein solcher inszeniert sich die Hauptperson des Romans, Jakub Szapiro, im Warschau des Jahres 1937. Dies berührt – so Lena F. Schraml – „ein Grundthema bei Twardoch“: „die Zerrissenheit zwischen mehreren Identitäten, die sich nun aus der eigenen Schwierigkeit mit der Einordnung seiner schlesischen Herkunft in den polnischen Kontext speist.“ Jakub Szapiro lebt im katholischen Warschau als Jude. Es gibt allerdings eine zweite Grenze zwischen Arm und Reich. Szczepan Twardoch: „Um den Ring sind zwei Warschaus versammelt, die in zwei Sprachen redeten, in ihren eigenen Welten lebten, unterschiedliche Zeitungen lasen und bestenfalls Gleichgültigkeit füreinander hatten, schlimmstenfalls Hass, normalerweise aber einfach distanzierte Abneigung, als wohnten sie nicht Straße an Straße, sondern getrennt durch einen Ozean“. Jakub Szapiro gelingt es, sich durch den Aufstieg in einer Mafia-Organisationen zwischen diesen Welten zu bewegen, er „kann die festgesetzte Ordnung auf den Kopf stellen.“ Mit „schicken Anzügen und weltlicher Kleidung“ erwirbt er „sowohl bei den Männern aus auch bei den Frauen Warschaus Respekt“. Er unterscheidet sich von den armen chassidischen Juden der Stadt, er „besitzt einen Chrysler, der den Kontrast zwischen reichem und armem Warschau in seinem roten Lack spiegelt“.

Und doch ist er zwischen verschiedenen Identitäten zerrissen. Einerseits scheint er gleichzeitig der Erzähler Bernsztajn zu sein, den er erschlägt, der aber gleichwohl weitererzählt, andererseits betrachtet er sich aus der Distanz des Jahres 1987 in Tel Aviv. Er heroisiert einen Teil der Vergangenheit und verachtet einen anderen Teil, den der Opfer der Shoah: „Aus den ‚Verschwundenen‘ macht er Märtyrer, aktive Opfer, so als hätten sich auch jene freiwillig ihrem Schicksal ergeben und seien selbst schuld, weil sie sich nicht wehrten oder wie Szapiro flohen.“ Aus der Perspektive des Jahres 1987, die auf diverse Ereignisse der israelischen Geschichte zurückblickt, entstehen Fragen, ob die für das Jahr 1937 geschilderten Ereignisse den Tatsachen entsprechen. Szczepan Twardoch bietet keine Auflösung, stattdessen ein surrealistisches Bild, einen über der Stadt schwebenden Pottwal namens „Litani“, dessen Etymologie Lena F. Schraml erklärt, vom Namen eines libanesischen Flusses den biblischen „Leviathan“ zu Herman Melvilles „Moby Dick“. Irgendwie wird Jakub Szapiro zu einem Ahab oder vielleicht eher zu einem Ismael? Dies muss offenbleiben: „Die Gefressenen sind Opfer einer höheren Macht, gegen die sich niemand wehren kann. Diese finale Motivierung, die der Erzähler so über die Geschichte legt, entschuldigt ihn und seine Taten, da er folglich selbst der Gewalt des Wales unterliegt und so zur passiven Figur ohne Entscheidungsfreiheit wird.“

Damit sind wir bei dem Gedanken der Theodizee, ein Gedanke, der den Roman „Ur und andere Zeiten“ (1996) von Olga Tokarczuk prägt. Eine der Romanfiguren, Izydor, fragt: „Was ist das für ein Gott, der eine solche Welt geschaffen hat? Entweder ist er selbst böse oder er lässt das Böse zu. Oder ihm geht alles durcheinander.“ Wie allmächtig kann ein Gott sein, der die Shoah zulässt? Lena F. Schraml fasst die Botschaft dieses Romans in folgendem Satz zusammen: „Der Roman dreht sich um Schicksal, Gott und Glauben.“ Der Freiherr Popielski erhält von einem Rabbiner ein Spiel, eine Art Abbild der Welt, in der es mehrere Welten gibt: „Die Zweite Welt ist im Spiel die ‚Welt des Kriegs‘. Gott hat sie demnach erschaffen, als er jung und unerfahren war, weswegen die Dinge verschwimmen und auseinanderfallen.“ Der Roman bewegt sich in einem – aus meiner Sicht durchaus surrealen Rahmen – zwischen erlebtem Ausnahmezustand und daraus abgeleiteter Reflexion über die Theodizee. Der Deutsche Kurt spricht davon, „es sei ihm ‚unangenehm‘, derartige unmenschliche Dinge tun zu müssen.“ Aber es gibt eine rationale Begründung: „Der Ausnahmezustand Krieg scheint alle Taten zu rechtfertigen.“

Bei den aufeinanderfolgenden Besatzungen Polens durch deutsche, durch sowjetische Truppen wird das Leid zum Déjà Vu, jeweils zur „Wiederholung eines Traumas“. Geschichte wird zur ständigen Retraumatisierung. Allerdings unterscheidet sich die Wahrnehmung der Geschichte je nach Status derjenigen, die sie erzählen. Der Roman ist in „Zeiten“ gegliedert, die in der Summe vielleicht eine Gesamtsicht erahnen lassen. In dem Roman „erweitert Tokarczuk die Weltkriegs-Erzählungen durch neue Perspektiven: Sie erzählt aus den Augen von Kindern, Frauen, Menschen mit Behinderung, Gegenständen, Seelen, Engeln.“ Lassen sich diese Perspektiven in einer Person zusammenführen? „Besonders ausführlich wird der Wehrmachtssoldat Kurt dargestellt, der sich in seiner Zerrissenheit zwischen Mitgefühl und Autoritätshörigkeit als typischer Mitläufer offenbart.“ Vergleichbar schildert sie den russischen Soldaten Iwan Mukta. „Der Blick durch die Augen dieser Personen lässt erkennen, dass auch diese oft nur ‚Bauernopfer‘ und von der Unerbittlichkeit des Kriegs geprägt waren“.

Mir ist Lena F. Schraml mit den Personen des Romans von Olga Tokarczuk, die sich unwidersprochen schlimmster Verbrechen schuldig gemacht haben, zu nachsichtig. Der Roman von Olga Tokarczuk ist in der Reihe der fünf Romane der einzige, der den polnischen Antisemitismus und die Shoah nur am Rande berührt.

Doch wer will richten? Wer darf es? Andrzej Bart dokumentiert in „Fliegenfängerfabrik“ (2008) einen fiktiven Prozess. Angeklagt ist Chaim Mordechaj Rumkowski, der „Vorsitzende“ des Ghettos von Ƚódź. Er ist angeklagt, die Jüdinnen und Juden des Ghettos an die Deutschen ausgeliefert zu haben, darüber hinaus des sexuellen Missbrauchs an Frauen und Kindern und schikanöser Methoden, die denen der SS nicht nachstanden. Dies ist alles historisch dokumentiert. Rumkowski unterscheidet sich in seinem Verhalten von dem Vorsitzenden im Judenrat des Warschauer Ghettos, Adam Czernaków, der sich, als er den Auslieferungsbefehl erhielt, selbst tötete. Der Richter, der über Rumkowski richten soll, hat keinen Namen, hat aber „gottähnliche Attribute (…), die zum Eindruck eines Jüngsten Gerichts beitragen.“ Aber wer richtet tatsächlich in diesem fiktiven Gericht, in dem Tote wieder auferstehen, um Zeugnis zu geben. „Ist am Ende der Leser selbst der Richter?“

Andrzej Bart zitiert bei der Beweisaufnahme aus Tagebüchern, der Ghetto-Chronik, aus populärwissenschaftlichen Texten sowie aus der Literatur, so aus Shakespeare-Dramen. Unter den Zeug*innen sind die Schwestern Franz Kafkas, Hannah Arendt sowie Hans Biebow, der Leiter der Verwaltung des Ghettos. Beim Auftritt der Schwestern Franz Kafkas notiert Andrzej Bart die kontrafaktische Fantasie, was geschehen wäre, wenn Kafka nicht an Tuberkolose gestorben, sondern in das Ghetto deportiert worden wäre. Spielt Prominenz in der öffentlich fixierten Erinnerung eine Rolle? „Wirkt diese Vorstellung schlimmer, weil es sich um den berühmten Schriftsteller Franz Kafka handelt, der einen aufgrund seiner Werke so viel näher ist und für den man daher auch eher Empathie empfinden kann?“ Welche Aufmerksamkeit bewirken die Schneiderin Sarah Grünspan oder der Setzer Daniel Lewiński, die ebenfalls in den Zeugenstand berufen werden, und die vielen anderen, deren Namen niemand, der sich nicht in die Chroniken und Dokumenten des Ghettos vertieft hat, kennt.

Und was ist Schuld? Ist sie nur ein anderer Begriff für „Schicksal“? Oder ist der Begriff des „Schicksals“ nur eine Ausflucht für alle, die weder sich noch andere als Schuldige benennen möchten? Für die Erinnerung spielt diese Frage eine zentrale Rolle. Lena F. Schraml schließt das Kapitel über die „Fliegenfängerfabrik“ mit den Sätzen: „Das Schlussplädoyer des Verteidigers gerät zur Urteilsverkündung: Diejenigen, die eine Position der Macht innehabe, tragen eine Verantwortung, für die sie am Ende auch schuldig gesprochen werden können. Erinnerung ist Gerechtigkeit für Opfer wie Täter.“ Vielleicht, aber möglicherweise trifft der von Lena F. Schraml zitierte Satz des Verteidigers eher den Kern der Grundsatzfrage nach Schuld und Schicksal: „Möge unsere Strafe sein, dass man ihn ewiglich als den in Erinnerung behält, der er war!“ Die Alternative wäre meines Erachtens der jüdische Wunsch, dass die Erinnerung an ihn ausgelöscht würde, ein sehr zwiespältiger Wunsch, dem sich auch manche aus dem Umfeld der Täter*innen anschließen könnten.

Unter den Opfern gibt es Menschen, an die sich niemand erinnert. Dies war schon bei manchen Zeug*innen des fiktiven Prozesses der „Fliegenfängerfabrik“ der Fall. Dies ist der Fall bei der 82jährigen Maria, der Hauptperson der Erzählung „Meldegängerinnen“ von Sylwia Chutnik (2008), einer Überlebenden beider Warschauer Aufstände. Ort der Handlung ist das Wartezimmer eines Arztes, Thema ist die „Rolle der Frau in den Aufständen“. Dazu gehören auch die als Verbrechen ignorierten Vergewaltigungen. Das Wartezimmer erinnert an Orte wie den Ort, an dem in Franz Kafkas „Vor dem Gesetz“ jemand wartet, um in ein Tor eingelassen zu werden, das sich für ihn nie öffnet. Erst mit seinem nahenden Tod wird das Tor endgültig geschlossen und er erfährt, dass es nur für ihn gegolten habe. Maria möchte gerne als Heldin gesehen werden, die sie vielleicht auch ist, auch wenn ihr Erscheinungsbild alles andere signalisiert. „Im ärztlichen Wartezimmer sind nur Helden und Märtyrer willkommen.“

Maria trägt den Namen der im katholischen Polen so sehr verehrten Gottesmutter, aber sie ist Jüdin. Dies verschweigt sie. Sie „träumt sich als Schutzheilige, als Matka Boska Warszawska für alle Frauen und Mädchen, denen es ähnlich erging und ergeht wie ihr.“ Eine Chance hat sie nicht, der Antisemitismus verhindert, dass sie sich öffnet. Im Wartezimmer hört sie diverse antisemitische Erzählungen wie auch in der Zeit, als sie in den beiden Aufständen für die Freiheit auch Polens kämpfte. Ihr Leben jenseits der bürgerlichen Wohlanständigkeit gilt als gerechte Strafe für ihr Jüdisch-Sein. „Die polnischen Nachbarn geben ihren jüdischen Mitmenschen die Schuld für den Zweiten Weltkrieg und all das Leid der ‚Unschuldigen‘, womit sie sich auf die ethnischen Polen beziehen. Damit weisen sie gleichzeitig den jüdischen Polen Schuld für den Überfall auf Polen und schlussendlich auch die Shoah zu. Für sie hängt alles zusammen. Weil Juden nicht anständig seien und weil sie von Natur aus absichtlich das Leid anderer verursachten, sei es selbstverständlich, dass die ‚verrückte‘ Maria nun hier im Keller liege und das Leben ihrer unschuldigen Mitmenschen belaste.“ Die unerkannte Heldin Maria entlarvt das Narrativ des heroischen Polens. Sie vertritt all diejenigen, deren Geschichte niemand erzählt. Dies aber tut Sylwia Chutnik, in dem sie eine fiktive Person zum Symbol all derjenigen macht, die weder physisch noch in der Erinnerung nach ihrem Tod überlebten. Ihnen gebührt ein Denkmal der unbekannten Heldin.

Soldatische Unschuld

Die Hauptpersonen der vier iranischen Erzählungen sind junge Soldaten. In der offiziellen Propaganda erleben sie das Lob des Martyriums, eine Einstellung, die es auch in westlichen Zivilisationen gab, eine orientalische Parallele des „dulce et decorum est pro patria mori“. Auch die Religion spielt eine zentrale Rolle bei dieser Propaganda. Im Westen gab es lange Zeit Waffensegnungen und Feldgottesdienste, in arabischen Ländern und im Iran wird der Islam als Movens für heroisches Verhalten im Krieg zitiert. Lena F. Schraml hat ein liberales Bild des Islam, sie zitiert Navid Kermani, der „Religion“ als „Mantel“ bezeichne, „um persönliche und politische Interessen zu kaschieren“. Religiöse Begründungen für einen Krieg erleben wir zurzeit in Russland. Insofern ist der Rahmen der iranischen Erzählungen durchaus auf christlich geprägte Kulturen übertragbar. Das Modell für den iranischen beziehungsweise persischen Martyrer schlechthin ist Imām Ḥusain, der im Jahr 680 in einer Schlacht mit seinen 72 Getreuen fiel. Seines Todes wird an Aschura, dem höchsten Feiertag des schiitischen Islam gedacht.

Zwei der beschriebenen Erzählungen erschienen 1996, eine im Jahr 2000, die vierte 2006. Diese liegt auch in einer deutschen Übersetzung vor, die anderen wurden ins Englische übersetzt. Die in den Erzählungen beschriebenen jungen Soldaten sind keine Martyrer aus eigener Entscheidung. In der Erzählung „Journey to Heading 270 Degrees“ von Aḥmad Dehģān (1996) geht ein Junge im Schulalter nur deshalb an die Front, weil er dem Gruppenzwang folgt. „Als Nasir letztlich ebenfalls an die Front zurückkehrt, wird schnell deutlich, dass er nur wegen seiner Freunde gekommen ist. Er ist sehr enttäuscht, als er zu einer anderen Einheit geschickt wird.“ Ahmad Dehgan dekonstruiert den Mythos des sich freiwillig opfernden Martyrers und zeigt, „dass die so tapferen ‚Helden‘ und ‚Märtyrer‘ doch ‚nur‘ junge Männer sind, die Angst haben, sich gruseln und weinen.“

Dāvūd Ġaffārzāgedān beschreibt in „Fortune Told in Blood“ (1996) eine Art Versuchsaufstellung. Zwei Männer beobachten von einem Berg den Feind. Ein Leutnant kommt und beschuldigt den Ranghöheren der Wartenden, einen Leutnant, bestimmte Bewegungen nicht gemeldet zu haben. Der jüngere Soldat tötet ihn. Sein Kamerad beschuldigt ihn des Mordes. Er tötet auch diesen. Er gibt die Koordinaten seines Standortes an seine Kameraden durch, die ihn – unwissend – mit Friendly Fire töten. Auf welcher Seite die Soldaten stehen, bleibt offen. In der englischen Übersetzung gibt es zwar einen Hinweis auf „iranisches Geld“ in der Tasche, im persischen Original ist jedoch von „Geld des Feindes“ die Rede. Gerade diese Offenheit gibt der Erzählung einen universalen Charakter. „Der Tod ist Alltag“, der junge Soldat bezeichnet sich als „Mann ohne Vergangenheit und Zukunft“, er stellt sich einen „guten“ Tod vor, er träumt aber ebenso wie sein Leutnant von einem anderen Leben: „Er versucht sich ein anderes Ende vorzustellen, eines, das nur in Filmen und Erzählungen vorkommt. Eines, in dem er alt wird, Kinder bekommt, heiratet. Er versucht sich an eine Geschichte mit happy end aus seiner Kindheit zu erinnern, doch es gelingt ihm nicht.“

Auch in der Erzählung „A City Under Siege“ von Ḥabīb Aḥmadzādeh treffen wir auf „weinende Männer“. Allerdings gibt es eine etwas andere Ausrichtung. Die Erzählung gehört zur Gattung der „Literatur der Ausdauer und Kunst der Resistenz“, in der „der irakische Feind als grausam, unmenschlich und unmoralisch dargestellt“ wird. Der Erzähler denkt darüber nach, ob die irakischen Soldaten ebenso darüber nachdächten, was es heiße, andere Menschen zu töten. Er denkt, das täten sie wohl eher nicht. Die irakischen Soldaten bleiben ohnehin unsichtbar, selbst Gefangene namenlos, der Tod kommt durch Bomben, die ohnehin denjenigen nicht sehen, den sie töten. Die Erzählung lebt von dem Gegensatz eines Spielzeugflugzeuges, das sich der Erzähler als Kind gewünscht hatte, und den Flugzeugen, die im Krieg Bomben abwerfen. „Religion oder das ‚Vaterland‘ ist von geringer Bedeutung für die jungen Soldaten. Entscheidend für deren Kampfgeist ist die ausweglose Situation, in der sich ihre Heimatstadt, ihre Familie, ihr Zuhause befindet. Der Stillstand der Belagerung ist für sie nur auszuhalten, indem sie sich aus der passiven Opfer- hinein in eine Täter- und gar Heldenrolle begeben. Sie werden aktiv und versuchen mit all den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Angreifer zu schlagen.“ Es geht ums Überleben. Und das ist offenbar nur möglich, wenn die Todgeweihten das post mortem gängige Märtyrer- und Heldennarrativ für sich akzeptieren, unabhängig davon, ob sie physisch überleben oder nur im staatlich verordneten Gedenken der Nachwelt.

„Aģrab“ von Ḥusain Montesā’iyān Ābkenār (2006) liegt als einzige der vier Erzählungen auch in einer deutschen Übersetzung vor. Thema sind „Auswirkungen des Krieges: Erinnerungen vermischen sich mit Fantasien, Gegenwart mit Vergangenheit, Träume mit Albträumen. Der Krieg hält seine eigenen Gefangenen, die weder als Helden noch als Märtyrer zurückbleiben, sondern allein als dessen Opfer.“ Zerstört werden Mensch und Natur, wir erleben die „absolute Niederlage für Mensch und Natur“. „Gegner ist nicht nur die irakische Armee, es sind die eigenen Kameraden und die erbarmungslose Natur. Der Feind sitzt im eigenen Kopf, der nachts und tagsüber durch Albträume und flashbacks gruselige und grausame Erinnerungen wiederbringt und Eindrücke der Front zu einem blutigen, synästhetischen Strudel vermischt.“ So etwas lesen kriegsbegeisterte Regierungen nicht gerne. Die weitere Verbreitung der Erzählung wurde nach der dritten Auflage verboten. Von den vier vorgestellten iranischen Erzählungen ist diese Erzählung vielleicht die härteste. Allen Erzählungen gemeinsam ist jedoch, dass es keine überlebenden Zeitzeugen gibt, sondern nur Erzählungen über all die Unbekannten, Ungenannten, deren Leben sich nur in der Literatur verewigen lassen.

„Im Westen nichts Neues“ – in diesem Roman von Erich Maria Remarque geht es um einen anderen Krieg. Vergleiche sind dennoch denkbar. Lena F. Schraml hat Texte mit universellen Botschaften ausgewählt. Vielleicht mag der folgende Blick in ein Kapitel von „Im Westen nichts Neues“ einen Eindruck vermitteln, wie nah Menschen einander sein können: „Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mussten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran: wir glauben an den Krieg.“

Dr. Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 26. April 2022. Titelbild Foto und Rechte: Katja Makhotina.)