Der ideelle Gesamtmarxist

Ein Gespräch mit Jürgen Repschläger im Bonner Antiquariat Walter Markov

„Man verachtet in der Tat die Dialektik nicht ungestraft. Man mag noch so viel Geringschätzung hegen für alles theoretische Denken, so kann man doch nicht zwei Naturtatsachen in Zusammenhang bringen oder ihren bestehenden Zusammenhang einsehn ohne theoretisches Denken. Es fragt sich dabei nur, ob man dabei richtig denkt oder nicht, und die Geringschätzung der Theorie ist selbstredend der sicherste Weg, naturalistisch und damit falsch zu denken. Falsches Denken, zur vollen Konsequenz durchgeführt, kommt aber nach einem altbekannten dialektischen Gesetz regelmäßig an beim Gegenteil seines Ausgangspunkts. Und so straft sich die empirische Verachtung der Dialektik dadurch, dass sie einzelne der nüchternsten Empiriker in den ödesten aller Aberglauben, in den modernen Spiritismus führt.“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW 20, zitiert nach einer 1952 im Dietz Verlag Berlin erschienenen Ausgabe)

Friedrich Engels hat ein halbes Leben an dem Text gearbeitet, dessen Titel „Dialektik der Natur“ den Anspruch andeutet, Philosophie, Gesellschafts- und Naturwissenschaften miteinander zu verbinden. Gerade in einer Zeit, in der die Klimakrise zumindest die Programme, wenn auch nicht das Handeln aller demokratischen Parteien bestimmt und gleichzeitig die westliche Demokratie in vielen Teilen unseres Planeten an Attraktivität verliert, ließe sich aus der „Dialektik der Natur“ einiges lernen.

Esther Winkelmann und Jürgen Repschleger in ihrer Buchhandlung

Jürgen Repschläger, genannt „Repi“, Inhaber des Antiquariats Walter Markov und undogmatischer Marxist, sorgt dafür, dass solche Texte verfügbar sind und es mit ihnen möglich wird, die gängigen tagespolitischen Reflexe kritisch und dialektisch zu dekonstruieren. Ich habe mit Repi über Gedanken, Intentionen, Wege und Irrwege eines undogmatischen Marxismus der vergangenen 50 Jahre diskutiert und denke, dass es vielen Politiker*innen guttäte, mit angemessener Bescheidenheit ihr eigenes Handeln nicht nur mit kurzen Zusammenfassungen, die ihnen mehr oder weniger belesene Mitarbeiter*innen vorlegen, sondern auch im eigenen Studium zu begründen.

Die Lektüre mancher Werke von Karl Marx und Friedrich Engels gehört meines Erachtens dazu. Wer jetzt jedoch denkt, diese Literatur wäre völlig überholt, wie das Scheitern der Staaten bewiese, die meinten, sich nach Vorgaben der Schriften dieser beiden Autoren zu organisieren, ist eingeladen, unser Gespräch zu lesen, dann wird vielleicht zumindest eines klar: Karl Marx und Friedrich Engels schrieben eine ganze Menge, nur eben keine politische Gebrauchsanweisung – diejenigen, die meinten, eine solche aus ihren Werken herauslesen zu müssen, denken im Grunde völlig unmarxistisch.

Der ideelle Gesamt-Bonner

Norbert Reichel: Beginnen wir mit einigen persönlichen Dingen.

Jürgen Repschläger (Repi): Ich bin Jürgen Repschläger, genannt Repi. Im Prinzip höre ich auch nur auf Repi, nur meine Mutter nennt mich noch Jürgen. Das hängt damit zusammen, dass Jürgen 1961, als ich geboren wurde, ein Modename war. Alle Jungs hießen Jürgen und die Mädchen hießen alle Birgit. Allein in dem Wohnblock auf dem Heiderhof, in dem ich aufgewachsen war, gab es vier oder fünf Jungs, die Jürgen hießen. Irgendwie musste man uns auseinanderhalten, das ging natürlich am einfachsten über den Nachnamen. So wurden bei mir die ersten drei Buchstaben und das obligatorische „i“ zu „Repi“.

Norbert Reichel: Das ist so ähnlich wie in der Eingangsszene des Films „Werner – beinhart!“, als in der Schule der Lehrer Werner aufruft und alle aufstehen.

Repi: Ja genauso. Ich bin Ur-Bonner, geboren in Bad Godesberg. Ich bin in Variation einer Formel von Karl Marx sozusagen der ideelle Ur-Bonner, Wahlkreis und Geschäft in Bonn, wohnhaft in Beuel. Nur der Stadtteil Hardtberg ist an mir vorbeigegangen, ein Stadtteil, den es ohne die Bundeswehr vielleicht auch gar nicht geben würde. Ich komme aus einer kleinbürgerlichen Familie, aufstrebend zur Mittelschicht, sollte so der erste Repschläger mit Abitur werden. Leider habe ich meine Eltern enttäuscht. Während alle anderen für die Schule gelernt hatten, hatte ich immer andere Dinge zu tun, sodass es mit der schulischen Karriere nicht unbedingt etwas geworden ist.

Norbert Reichel: Aber die anderen Dinge führten dazu, dass du gebildeter sein dürftest als viele andere Leute mit Abitur und einer Menge anderer Examina.

Repi: Jetzt kommt natürlich der staatsmännische Satz: Dieses Urteil überlasse ich anderen. Ich habe alles Mögliche gemacht, auf der Baustelle gearbeitet, Briefe ausgefahren, ich habe sogar gekocht. Ich hatte mal mit ein paar Leuten zusammen eine Autowerkstatt. Irgendwann einmal habe ich auf Druck meiner Mutter und meiner damaligen Freundin eine Ausbildung gemacht, und da wird es langsam spannend: es war eine Ausbildung als Verlagskaufmann. Ich hatte immer schon viel mit bedrucktem Papier zu tun gehabt. Ich habe Schülerzeitung gemacht, Zeitung für den Sportverein, alles noch mit durchpausen, mit Letraset.

Norbert Reichel: Letraset – das ist auch eine meiner Jugenderinnerungen – das kennt heute kein Mensch mehr. Ich erinnere mich auch noch an die gute alte Saugpost.

Repi: Alles ohne Computer. Nachdem ich politisch geworden bin, habe ich im Keller der alten „Schnüss“ in der Wilhelmstraße – wer sich noch erinnert – an einer kleinen illegalen Druckmaschine drucken gelernt, so, dass es für unsere Flugblätter reichte. Dann bin ich auf einem LKW gelandet, habe zehn Jahre auf einem LKW Möbelpacker gespielt, bis dann ein Zufall dazu führte, dass ich ca. 60.000 Bücher erhielt und so bin ich Antiquar geworden.

Das war ein vollkommener Zufall. Es war der Sylvestermorgen 1995. Ich war in der Bonner Altstadt, um Einkäufe zu machen, es hatte geregnet, ich hatte noch keine Zigarette geraucht – damals habe ich noch stark geraucht – keine Kippen dabei und sah dann in zwanzig, dreißig Meter Entfernung einen mir bekannten Verleger, der auch einen Buchladen besaß und rauchte. Den habe ich um eine Zigarette gebeten und es entwickelte sich ein Gespräch. Er meinte, wir sollten nicht im Regen stehen, ich sollte in seinen Laden kommen, auf einen Kaffee, und er redete und redete.

60.000 Bücher sind 60.000 Bücher

Norbert Reichel: Und dann geschah’s.

Repi: So geschah’s. Ich hatte den Eindruck, er wolle auf irgendetwas hinaus. Und dann kam es auch irgendwann. Er hatte ein Angebot, für das er aber keine Zeit und kein Geld hätte. Er wüsste aber, dass ich viel lese, ein Büchernarr wäre, marxistische Literatur sammele und dann auch noch LKW fahren könne. In Berlin gäbe es eine Buchhandlung, ein Antiquariat, die Rosa-Luxemburg-Buchhandlung in der Dieffenbachstraße. Die Betreiber hätten viel Pech gehabt. Auf der einen Seite lagen sie in der Nähe des neuen Regierungsviertels, wo die Gewerbemieten um 600 Prozent gestiegen waren. Einer der beiden Kompagnons war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und sie hatten gerade eine große Lieferung an alten Büchern und französischem Rotwein bekommen. Und das, als Jacques Chirac auf dem Mururoa-Atoll seine Atomversuche machte.

Das politisch korrekte Berlin hat damals französischen Rotwein boykottiert und natürlich die falschen getroffen, so dieses Antiquariat. Die mussten binnen vier Wochen raus aus den Räumlichkeiten. Ich hatte den Tipp und fuhr mit der Mitfahrzentrale ohne Idee, ohne Geld dahin und schaute mir die Buchhandlung mit den 60.000 Bänden an. Ich war sofort angefixt, begeistert und habe die Leute gefragt, was sie dafür haben wollten. Der Preis betrug 30.000 DM, eine halbe Mark pro Buch. Ich habe gesagt, das klinge realistisch, aber sie hätten auch 3.000 sagen können, die hätte ich auch nicht gehabt. Sie schauten erst ein wenig bedröpst, meinten dann aber, wenn ich die Bücher in vier Wochen draußen hätte, dann gäben sie mir ein Jahr Zeit und ich könnte die 30.000 DM in Raten abzahlen. Das haben wir per Handschlag besiegelt, ich bin zu einem bekannten Antiquar gefahren, habe mir seinen Bus, einen alten Barkas, geliehen, bin zu den türkischen Großmarkthallen gefahren, habe Bananenkisten geholt und angefangen einzupacken.

Nach einer Stunde war mir klar, das schaffst du nie. Ich habe Freund*innen, Genoss*innen in Berlin angesprochen, mir einen 7,5Tonner geliehen und bin dann geshuttelt. Ich habe die Bücher in Raten von Berlin nach Bonn geschafft.

Norbert Reichel: Wie viele Touren hast du gebraucht?

Repi: Das weiß ich nicht mehr, aber irgendwann merkte ich, dass ich bei der nächsten Tour pleite gegangen wäre. Diese Geschichte hat sich dann in Politkreisen herumgesprochen und ein alter, etwa 60 oder 65 Jahre alter DKP-Genosse, der den großen LKW-Führerschein hatte, rief mich an und sagte, er habe von der Sache gehört und wolle gerne mal eine moderne Kiste fahren: „ich fahr dir das Zeug“. Dann sind wir mit dem 16Tonner durch Kreuzberg gefahren – das war ein Abenteuer.

Norbert Reichel: Die meisten Straßen in Kreuzberg sind nicht so sonderlich breit.

Repi: Wir haben eingeladen, auf Paletten, und alles nach Bonn gebracht, aber dann kam das nächste Problem: ich hatte überhaupt keinen Platz. Ich habe alle Freunde, Freundinnen angehauen, Speicher, Keller, überall, wo man Bücher unterbringen konnte, wo vier oder fünf Quadratmeter Platz waren, habe ich die Bücher reingedonnert. Ich habe dann – wie so viele andere auch – in der berühmten Bonner Wolfstraße 10, Hinterhaus, gelandet und habe dort mein erstes Bücherlager gehabt. Ich habe ein, zwei Jahre lang aus dem Lager, aus der Garage verkauft, bin auf Politveranstaltungen gegangen, habe dort die Bücher angeboten.

Viele haben mich für verrückt erklärt. Die DDR war zu Ende gegangen, der Realsozialismus untergegangen und ich hole 60.000 realsozialistische Bücher aus DDR-Produktion nach Bonn! Doch irgendwann haben dann viele Linke ihre Lücken mit Mehring, Marx, Engels, Lenin aufgefüllt. Und irgendwann haben die Leute auch geschnallt, dass gerade beim Aufbau-Verlag die Klassiker-Editionen in der DDR sehr gut waren. So konnte ich dann relativ gut verkaufen. Ich habe dann auf der Breite Straße ein Ladenlokal gemietet, noch zwei Jahre lang Möbelpacker gespielt, bin vormittags LKW gefahren, nachmittags die Bücher, bis ich merkte, das ist zu viel. Ich bin dann um das Telefon herumgeschlichen, haben drei, vier Zigaretten geraucht, habe den Hörer gegriffen und habe – so wie sich das für einen Linken gehört – meinem Chef gesagt: „Ab dem 1. Mai komme ich nicht mehr“.

Norbert Reichel: Und in der Breite Straße ist dein Buchladen heute noch.

Repi: Da, wo ich immer noch bin.

Norbert Reichel: Und ihr habt einen online-Versand.

Repi: Haben wir. Das geht mal hoch, mal runter, wir versuchen im Wettbewerb der Online-Portale mit Qualität zu bestehen. Das ist nicht ganz einfach, weil es jede Menge merkwürdige Angebote gibt, von Menschen, die sich Antiquar nennen, aber keine Frakturschrift lesen können oder Bücher mit dem Hinweis anpreisen: „Dickes Buch, viele Bilder“. Wir haben auch viele internationale Nachfragen. Wir versenden beispielsweise jede Woche mehrere marxistische Bücher nach China. Texte in der Originalsprache Deutsch werden dort gelesen.

Walter Markov – Programm und Vermächtnis

Norbert Reichel: Das Antiquariat trägt den Namen Walter Markov (1909-1993). Das ist ein Name, der auch ein wenig das Programm des Ladens bezeichnet.

Repi: Jetzt ging es um die Frage, wie wir die Hütte nennen. Wir sage ich deshalb, weil ich das schon längere Zeit mit meiner Lebensgefährtin und Partnerin Esther zusammen betreibe. Antiquariat Breite Straße? Langweilig. Antiquariat Repschläger? Noch langweiliger. Und da ich mit Esther und der Antifa für Erstsemester der Uni antifaschistische Stadtrundgänge gemacht hatte, bin ich irgendwann auf das Büro gestoßen, das Walter Markov in der Poststraße eingerichtet hatte. Dort hatte er Erste Hilfe für nach der Niederlage der NS-Diktatur zurückgekehrte Exilant*innen, auch für zurückgekehrte Frontsoldaten angeboten. Eines seiner Anliegen war, dass alte Nazis nicht mehr in die Stadtverwaltung zurückkehren sollten.

Die Geschichte von Walter Markow ist für unser Antiquariat exemplarisch. Wir sind ein linkes, antifaschistisches, sozialistisches, kommunistisches Antiquariat, aber kein Strömungsantiquariat. Wir fühlen uns mit unserem Programm keiner Strömung verpflichtet, sondern der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Einige werden zucken, wenn ich das so sage: von Willy Brandt bis Josef Stalin. Das gibt es alles bei uns.

Norbert Reichel: Oder sagen wir von Bernstein bis Liebknecht?

Repi: Oder nehmen wir die Luxemburg dazu, von mir aus auch den Kautsky. Stalin habe ich genannt, weil wir auch den Anspruch haben, alle Irrtümer und Verbrechen der Arbeiterbewegung in unserem Laden zu führen, ganz ohne Scheuklappen. Die Suche nach dem Richtigen enthält auch die Suche nach dem Falschen.

Norbert Reichel: Dazu braucht man Quellenstudium.

Repi: Das ist der Anspruch. Walter Markov ist in Graz geboren, seine Vorfahren waren Slowen*innen, die Familie zog noch in seinem Geburtsjahr nach Laibach, dem heutigen Ljubljana. Er war ein sogenannter „Auslandsdeutscher“. Er hat unter anderem in Bonn Geschichte studiert. Sein Professor sah voraus, was unter den Nazis passieren würde, und riet ihm, seine Doktorarbeit so schnell wie möglich fertigzuschreiben, das ginge nicht mehr lange gut. Walter Markov ging dann in den Widerstand, hat eine Widerstandsgruppe gegründet, die „Sozialistische Republik“, die damalige KPD-Untergrundzeitung vertrieben. KPD-Mitglied war er damals noch nicht, das wurde er erst später, er wurde nach wenigen Monaten beim Flugblattverteilen festgenommen. Das war 1935. Als Auslandsdeutscher hatte er Glück, sodass er nicht in ein Konzentrationslager kam, er kam nach Siegburg ins dortige Zuchthaus.

Gegen Ende des Krieges gab es eine historisch weitgehend unbekannt gebliebene Selbstbefreiung. Als dann die Amerikaner kamen, öffnete Walter Markov die Gefängnistür, begrüßte sie und stellte sich als Sprecher des Autonomen Gefängniskomitees vor. Die Amerikaner sagten, Autonomes Gefängniskomitee ist nicht, wir haben jetzt das Sagen. Walter Markov kannte aber schon ein wenig die Befindlichkeiten der Amerikaner und sagte: „Gut, dass ihr da seid. Wir haben hier seit drei Wochen die Pocken.“ Da waren sie weg, sie zogen sofort weiter nach Rheinbach.

Walter Markov versuchte nach 1945 wieder an der Universität Bonn Fuß zu fassen, galt aber als „Nestbeschmutzer“. Er hatte keine Chance und ging dann illegal über die Grenze in die damalige SBZ und erhielt in Leipzig eine Professur in Revolutionswissenschaften. Dort verfasste er mit Albert Soboul das bis heute bekannteste Standardwerk über die Französische Revolution (Titel: „1789 – Die Große Revolution der Franzosen“, die deutsche Erstausgabe erschien 1973, bereits 1957 erschien das gemeinsame Werk „Die Sansculotten von Paris – Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung 1793-1794, beide Bücher in Berlin im Akademie-Verlag).

Walter Markov ist in die SED eingetreten, wurde aber 1956 als angeblicher Titoïst ausgeschlossen. Als er dann später berühmt wurde, hat ihm die SED angeboten, ihn wieder aufzunehmen. Das hat er abgelehnt. Ein Kommunist, der aus der SED ausgeschlossen wurde, trotzdem in der DDR und Sozialist geblieben ist, seinen eigenen Kopf behielt, sich nicht verbog, war der optimale Namensgeber für unser Antiquariat. Auch wenn und gerade weil unser Laden kein Strömungsladen ist. Wir begreifen uns als explizit antistalinistische Kommunist*innen. Wir haben seine Witwe – Anmerkung: das in der wikipedia für Irene Bönninger angegebene Todesdatum ist falsch – angerufen, haben gefragt, ob wir das machen dürfen. Sie war begeistert und ist zur Eröffnung des Antiquariats mit einem Großteil der Familie angereist.

Aus dem Leben eines Bewegungsmenschen – zwischen Plenum und Partei

Norbert Reichel: Ich darf vielleicht noch zwei Details zu Walter Markov ergänzen. Im Jahr 1989 trat Walter Markov in die PDS ein, meines Erachtens auch ein Zeichen für die damaligen Veränderungen, die alle Parteien in der DDR erfassten, die SED ebenso wie die damaligen sozialistischen Blockparteien. Sein Sohn Helmut (*1952) wurde Mitglied der Linken und war von 2009 bis 2016 Mitglied der Landesregierung in Brandenburg, einige Jahre als stellvertretender Ministerpräsident, als Finanz- und als Justizminister. Von 1999 bis 2009 war Helmut Markov Mitglied des Europaparlaments. Vielleicht bieten diese Details einen Übergang zu deiner eigenen politischen Entwicklung?

Repi: Meine eigene Entwicklung ist keine gradlinige Geschichte. Meine Familie war zum Teil in der SPD, zum Teil gab es Sympathien für die KPD. Ob es im engeren Familienumfeld KPD-Mitgliedschaften gab, ist unklar. Mit dem Zimmerer Wilhelm Repschläger gab es von 1928 bis 1930 einen KPD-Reichstagsabgeordneten. Ich wurde in den sozialdemokratischen Flügel hineingeboren. Klassisches Arbeiterwohlfahrtskind, die ersten Ferien im Arbeiterfamilienerholungsheim der Arbeiterwohlfahrt, weil wir keine Kohle hatten und nicht wegfahren konnten, dann Arbeiterwohlfahrtsjugendheim, wo ich auch meinen Zivildienst gemacht habe. Relativ zeitig habe ich mit der SPD gebrochen, als mein Interesse für die Geschichte der Arbeiterbewegung erwachte und ich mitbekam, was die deutsche Sozialdemokratie so alles verbrochen hatte. Ich bin dann zunächst – wie damals so viele junge Menschen mit 16 oder 17 Jahren – Anarchist geworden, habe in der autonomen Jugendzentrumsbewegung mitgearbeitet. Ich habe mich damals ganz dogmatisch als Anarchist geweigert, an irgendwelchen Abstimmungen teilzunehmen, wollte alles im Konsens lösen.

Norbert Reichel: Das Elend der Ausdiskussion – da braucht man viel Zeit.

Repi: Da braucht man sehr viel Zeit, wie ich heute wieder weiß. Wenn im Bonner Rat vier Parteien gemeinsam einen Antrag stellen wollen, dauert das auch ohne Konsensprinzip schon ein paar Tage. Ich bin damals – abgestoßen von allen Parteien – bei den Autonomen gelandet, ich war eigentlich immer ein Bewegungsmensch. Dann kam die Krise der Autonomen zu Beginn der 1990er Jahre, ich war damals nicht mehr einverstanden mit der oft selbstbezogenen Art von Politik. Ich sage es mal plakativ: wir kannten den Namen von jedem palästinensischen Freiheitskämpfer, wir wussten aber nicht, wie es unseren Nachbarn geht. Es gab so etwas wie eine Bevölkerungsfeindlichkeit gegenüber den Deutschen im Allgemeinen. Das hatte natürlich seinen Grund in der Beschäftigung mit dem Faschismus. Ich würde es heute als postpubertäre, linksradikalistische Haltung gegenüber den von uns sogenannten Normalos sehen, eine Sichtweise, die zudem jeden Klassenstandpunkt vermissen ließ. Ich habe mich dann peu à peu aus dem Milieu gelöst, viel gelesen und dann später auch über meine Antiquariatstätigkeit mich immer mehr für die Zwischengruppen zwischen SPD und KPD interessiert. Weder die DDR-Literatur noch die BRD-Literatur hatte diese Gruppen eigentlich gewürdigt.

Norbert Reichel: Aus einer dieser Gruppen kam Willy Brandt.

Repi: Ja, genau, die SAP, die Sozialistische Arbeiterpartei. Ich war von diesen Gruppen fasziniert. Ich bezeichne mich als Marxist. Aber ohne jeden -ismus hinterher. Mit den -ismen habe ich es nicht mehr so. Ich suche mir aus allen Richtungen das heraus, was meines Erachtens zu einer fortschrittlichen Politik gehört. Ich bin mittlerweile Mitglied der Linken, auch sehr aktiv, hätte aber politkulturell den Schritt aus dem autonomen Milieu in eine Partei aus eigener Kraft nicht geschafft.

Ich saß in meinem Antiquariat, da kam jemand von der Linken herein und sagte mir auf den Kopf zu: „Wir wollen dich für den Stadtrat“. Das war im Jahr 2009. Ich habe sehr selbstbewusst und sehr bestimmend geantwortet: „Gerne. Aber unter folgenden Bedingungen: ich muss nicht in die Partei eintreten und ich bekomme einen hohen Listenplatz. Nicht, dass ich mir in der autonomen Szene den Arsch aufreiße und ihr macht dann die Politik.“ Ich habe dem Laden nicht getraut. Ich habe auch verlangt, dass ich mich auf einer Parteiversammlung als Kommunist vorstellen konnte. Ich wollte vermeiden, dass irgendwann der Bonner Generalanzeiger schreibt, der Typ bei der Linken ist Kommunist, und die linken Parteigenoss*innen sagen dann, wenn wir das gewusst hätten. Deshalb wollte ich von Anfang an Transparenz schaffen. Das wurde dann nach einigen Wochen auch akzeptiert. Ich bekam den Listenplatz 4 und kam durch einen sehr schnellen Rücktritt kurze Zeit nach der Wahl in den Rat (wir hatten damals nur drei Sitze).

Norbert Reichel: In den Rat wurdest du auch in den Folgejahren, zuletzt im Jahr 2020 wiedergewählt.

Repi: Das ist jetzt meine dritte Wahlperiode.

Norbert Reichel: Du bist kulturpolitischer Sprecher der Fraktion, in einer Koalition von vier Parteien: Grüne, SPD, Linke, VOLT.

Repi: Das passt gut zu mir. Ich kenne die Anfänge der freien Kultur und der autonomen Kulturbewegung. Ich habe mich auch viel mit der freien Kultur und den Kulturvereinen in der Weimarer Republik beschäftigt. Etwas weiter blickende Sozialist*innen haben damals schon gesagt, dass es falsch wäre, die Oper, die Theater, die Konzerte per se als „bürgerlichen Mist“ abzulehnen. August Bebel wird der Satz zugeschrieben: „Schafft die Bühnen nicht ab, bemächtigt euch ihrer“. Dieser Satz stand dann auch auf meinem Wahlplakat. Ich versuche immer die Schnittstelle zwischen Kultur- und Sozial- beziehungsweise Gesellschaftspolitik zu sehen. Seit einigen Jahren verstehe ich mich auch als Streiter für das Haptische gegen eine zu extremistische Digitalisierung. Ich möchte, dass die Menschen auch in dreißig Jahren noch wissen, wie sich ein Buch anfühlt, wie Papier riecht, sich anfühlt und nicht nur mit den Fingern über glatte Oberflächen streichen.

Auf dem Weg zur Exil-Literatur

Norbert Reichel: In deinem Antiquariat hast du ein sehr breites Angebot. Ich finde dort nicht nur marxistische Literatur. Zuletzt sah ich im Fenster deiner Auslage eine ganze Reihe dieser wunderschönen Tusculum-Ausgaben, du hast alte Pléïade-Ausgaben im Regal und natürlich auch jede Menge aus der Regenbogenreihe der edition suhrkamp. Du kaufst Nachlässe auf. Wie kommst du an dieses vielschichtige und auch vielsprachige Angebot, an die Nachlässe?

Repi: Ich hatte in der ersten Zeit ausschließlich DDR-Literatur. Ich habe damals auch die Erstauflage zum selben Preis verkauft wie die 16. Auflage, denn da steht ja das Gleiche drin. Ich habe das Buch ausschließlich als Gebrauchsgegenstand gesehen, marxistisch ausgedrückt nur den Gebrauchswert und nicht den Tauschwert berücksichtigt. In den ersten Jahren habe ich so auch viel Unsinn gemacht. Der Appetit kam dann mit dem Essen. Ich habe mich immer schon für Philosophie und für Geschichte interessiert. Das Sortiment ist dann gewachsen, auch durch Zufallsankäufe oder durch Leute, die vorbeikamen und mir etwas anboten. Ich habe mit der Zeit die Freude am schönen Buch entdeckt, an signierten Exemplaren, an Exemplaren, in die eine Originalgraphik eingelegt war.

Norbert Reichel: Ich habe bei dir einmal eine sehr schöne Judith Kerr Ausgabe gekauft. Die gab es auch signiert, zum etwa zehnfachen Preis. Ich gestehe, dass ich mich dann doch für die unsignierte entschieden habe. Vielleicht war das ein Fehler.

Repi: Spezialisiert habe ich mich auf Originale aus der Zeit der Weimarer Republik, SPD, KPD, KAPD, Anarcho-Syndikalist*innen, Flugblätter, Schriften, alles im Original. In den letzten zehn Jahren wanderte mein Hauptinteresse zur Exil-Literatur, ich wurde sozusagen vom linken marxistischen Antiquar und Buchhändler zum Antiquar für Buch und Graphik und Schönheit. Mittlerweile kann ich die Schönheit schätzen und nicht nur den Inhalt.

Norbert Reichel: Exil-Literatur für welche Epochen?

Repi: Begonnen habe ich mit dem, was man in Deutschland als klassische antifaschistische Literatur bezeichnet beziehungsweise mit Literatur aus der Zeit des Faschismus, des Nationalsozialismus, Literatur von all den Menschen, die vorausahnend Ende der 1920er Jahre oder dann unter dem Schrecken der 1930er Jahre Deutschland oder Österreich verlassen mussten, die in letzter Minute fliehen konnten, die dann in ihren Gastländern ihre literarische, ihre publizistische Tätigkeit fortsetzen konnten. 

Norbert Reichel: Dazu gehören dann zum Beispiel Thomas Mann, Joseph Roth, Irmgard Keun.

Repi: Die gehören auf jeden Fall dazu. Es gibt die großen Namen, die bei vielen Veranstaltungen, die an die Bücherverbrennungen erinnern, mit einem gewissen Pathos genannt werden: da wurde Thomas Mann verbrannt, Alfred Döblin, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky, da wurde Weltliteratur verbrannt. Das stimmt, aber in erster Linie wurde Literatur verbrannt, von bekannten Autor*innen, von unbekannten Autor*innen. Einziges Kriterium diese Literatur zu verbrennen war entweder der jüdische oder der marxistische Hintergrund oder irgendein Hintergrund, der nicht in das arische Weltbild des Nationalsozialismus passte. Das konnte ein religiöser Hintergrund sein, die Zeugen Jehovas, die Bekennende Kirche.

Während nun aber die Heroen der Literaturgeschichte nach 1945 wieder mehr oder weniger nahtlos an ihre Zeit vor 1933 anknüpfen konnten und auch nie ganz vergessen waren, gibt es natürlich Dutzende, Hunderte von Autor*innen, an die sich niemand mehr erinnerte, auch Autor*innen von Werken – und das meine ich nicht despektierlich – minderer Qualität. Bei denen ist es den Nazis tatsächlich gelungen, sie dem Vergessen anheimzugeben. Bei diesen Autor*innen gab es keine Literaturwissenschaft, keine Hochschule, die sie wieder ans Tageslicht holten, weil man sich auf die großen Namen fokussierte. Ich möchte das gesamte Spektrum der Literatur abbilden.

Norbert Reichel: Eine umfangreiche, wenn auch nicht vollständige Liste bietet Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2008), der sich nicht zuletzt auf die Arbeit von Jürgen Serke beruft, der schon in den 1970er Jahren Autor*innen in seinen Büchern „Die verbrannten Dichter“ und „Die verbannten Dichter“ portraitierte. Zu den (fast) vergessenen Autor*innen gehören auch Autor*innen, die nach 1945 einfach nicht mehr auf die Beine kamen. Eine der bekannteren ist Irmgard Keun.

Repi: Sie fing dann an zu trinken und ging daran zugrunde.

Norbert Reichel: Sie hatte schon vorher die Trinkergemeinschaft mit Joseph Roth.

Repi: Aber hallo! Über diese Trinkergemeinschaft gibt es viel Literatur, mit vielen Anekdoten.

Norbert Reichel: Auch darüber hat Volker Weidermann geschrieben, in seinem Buch „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2014). Seine Bücher empfehle ich ohnehin gerne, beispielsweise sein Buch über die Literaten der gescheiterten deutschen Revolution 1918/1919 („Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2017), eine Revolution, an deren Scheitern gerade Sozialdemokraten einen unrühmlichen Anteil hatten.

Repi: Das sind wirklich gute Bücher.

Norbert Reichel: Gibt es bei dir auch internationale Exil-Literatur?

Repi: Das ist bei mir noch im Aufbau. Ich habe mich zunächst auf die antifaschistische Literatur beschränkt, auch auf die Literatur und die vielen Schriften, die von verbotenen Parteien, vor allem von SPD und KPD herausgegeben wurden oder von den Zwischengruppen, die mit der SPD nicht einverstanden waren, aber den Schritt zur KPD nicht gehen wollten oder umgekehrt. Da gibt es auch viel Literatur aus dem Exil, die dann nach Deutschland hineingeschmuggelt oder heimlich gedruckt wurde, teilweise hektographiert oder im Tarncover, als Kochbuch auf dem Titel und in den ersten Seiten, dann der politische Text und am Schluss wieder Kochrezepte, um diese Literatur vor den Nazis zu verbergen.

Ein Exil-Museum in Bonn

Norbert Reichel: In Bonn bist du eine*r der maßgeblichen Initiator*innen eines Exil-Museums.

Repi: In Bonn stehen wir am Anfang dieses großen Projektes, des Exil-Museums. Der Kern wird die Literatur der Jahre 1933 bis 1945 sein. Dazu kommt die Bildende Kunst. Exil begreife ich nicht als etwas Statisches mit einem klaren Anfang und einem klaren Ende. Auch nach 1945 gab es aus den unterschiedlichsten Gründen Menschen, die ihre Heimatländer verlassen mussten, die ihre Kunst entweder haptisch oder im Kopf mitgenommen haben und in ihren neuen Ländern weiter künstlerisch oder literarisch tätig waren.

Gerade in der heutigen Zeit haben wir mit der Bewegung der vielen Geflüchteten eine solche Situation. Meine Mitstreiter*innen und ich möchten gerne die Kunst und die Kultur dieser Menschen, die durch die Wirren der Flucht und des Exils gewandert sind, hier in Bonn zeigen.

Norbert Reichel: Das passt auch zu der Initiative „Wir machen das. Jetzt!“ Die Initiative gibt es seit 2015 und wurde von der Stiftung Mercator gefördert. Es gibt Patenschaften und Tandems zwischen Künstler*innen, die schon längere Zeit in Deutschland leben, und denen, die gerade ein- oder zugewandert sind.

Aber sprechen wir mal über die Grundzüge der Bonner Initiative. Die hat viel mit einer sehr beeindruckenden Persönlichkeit zu tun, Thomas B. Schumann, Verleger der edition memoria, der in Hürth-Efferen lebt und in seinem Haus eine Unmenge von Literatur und Bildern beherbergt. Ich hatte im Jahr 2019 die Ehre und das Vergnügen ihn dort zu besuchen und kam mit einer signierten Ausgabe von Georg Kreisler sowie dem festen Willen zurück, ihn und dich bei der Initiative zu unterstützen. Dann kam die Pandemie, aber ich denke, wir werden uns bald wieder treffen können.

Repi: Thomas ist eine ganz ganz interessante Persönlichkeit. Auch er ist ja zu seiner Leidenschaft per Zufall gekommen, auch wenn man Leidenschaft ja nicht planen kann, das passiert einfach.

Norbert Reichel: Das Autogramm bei Katja Mann war der Anfang.

Repi: Das Autogramm bei Katja Mann. Als 15jähriger war er mit seinen Eltern in der Schweiz in Urlaub. Sie gingen spazieren und kamen an einer Villa vorbei. Er bewunderte diese Villa, und sein Vater sagte, das ist nicht nur ein tolles Haus, da wohnt auch eine tolle Frau, das ist Katja Mann, über die er dann auch ein paar Takte erzählte. Geistesgegenwärtig rennt Thomas auf das Haus zu, klingelt, die Haushälterin öffnet. Er stellt sich vor: „Ich bin Thomas aus Köln, ich hätte gerne ein Autogramm von Frau Mann.“ Die Haushälterin geht ins Haus und kommt mit einer signierten Ausgabe der „Buddenbrooks“ heraus, die Thomas dann auch sofort gelesen hat. Er hat sich brieflich bedankt. So ist der Kontakt entstanden, mit vielen Besuchen.

Aus dieser Erfahrung hat sich Thomas vorgenommen, nicht nur Exil-Literatur zu lesen, sondern jedes Mal auch zu gucken, ob der Autor, die Autorin noch lebt oder ob es Nachfahren gibt. Er hat sie dann besucht, interviewt. Daraus sind jahrzehntelange Freundschaften und Kontakte entstanden. Er erhielt ganze Bibliotheken als Nachlässe, erhielt Bilder als Geschenke, hat dann realisiert, dass die Exil-Zeit in den verschiedenen Sparten, in der Literatur, in der Musik, in der Fotographie schon vielfältig aufgearbeitet worden war. Es gab auch schon Ausstellungen, Publikationen, in denen diese Werke der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden. Thomas stellte aber auch fest, dass die Bildende Kunst, Bilder aus dem Exil, Bilder, die Exilant*innen gemalt hatten, ein total weißer Fleck waren, etwas vollkommen Neues, weder wissenschaftlich bearbeitet, noch in großem Maße der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren.

Norbert Reichel: In Berlin wird der Schwerpunkt auf der Literatur liegen. Die einzige Sammlung, die ich kenne, in der auch Bildende Kunst aus dem Exil systematisch gezeigt wird, ist die Sammlung Gerhard Schneider im Museum Zentrum für verfolgte Künste in Solingen. So wie ich bei meinem Besuch die Sammlung von Thomas B. Schumann erleben durfte, ist da noch viel zu entdecken. Ich denke auch, wir brauchen in Deutschland mehr als ein Museum, das sich der Kunst im und aus dem Exil widmet.

Repi: Als ich Thomas vor vier Jahren kennenlernte, hatte seine Sammlung 800 Bilder. Inzwischen sind es 1.000. Thomas ist in die Jahre gekommen, hat keine Familie. Er sucht seit Jahren händeringend eine Bleibe für seine Bilder, damit sie in der Öffentlichkeit gezeigt werden können. Als ich ihn besuchte, dachte ich, das ist doch mein Interessensgebiet, du bist zwar nur ein kleiner Kulturpolitiker im kleinen Bonn, aber das machst du dir jetzt zu deiner Aufgabe. Ich habe Thomas leichtsinnig versprochen, wir machen hier ein Museum.

Norbert Reichel: Und es gibt Interesse bei der Stadt!

Repi: Hauptmitstreiterin ist unsere Kulturdezernentin, Dr. Birgit Schneider-Bönninger. Sie ist jetzt zweieinhalb Jahre hier. Ich habe auch ein paar weitere Mitstreiter*innen um Thomas und mich gesammelt. Ich hatte eine Ausstellung zur Anfütterung geplant, um interessierten Menschen die Sammlung nahezubringen. Die Botschaft: wenn wir uns engagieren, schaffen wir es, diese Bilder und noch viel mehr in attraktiven Räumen zu zeigen.

Das war zeitgleich mit dem Amtsantritt von Birgit Schneider-Bönninger. Ich bin sofort auf sie zugegangen, habe sie gefragt, was sie an einem bestimmten Abend mache. Sie wusste es nicht und ich habe geantwortet, sie würde meine Ausstellung eröffnen. Das war frech, wir kannten uns kaum, sie hat dennoch zugesagt und eine tolle Rede gehalten. Sie arbeitet seither intensiv an dem Thema Exil-Museum in Bonn. Sie begeistert ihre Kolleg*innen in der Stadtverwaltung, die Vertreter*innen in den Fraktionen im Rat der Stadt Bonn. Sie ist auf Raumsuche gegangen. Es waren zwei oder drei Räume im Gespräch, seit Frühsommer 2021 gibt es in sehr attraktiver Innenstadtlage einen sehr heißen Kandidaten für das Museum.

Norbert Reichel: Zunächst geht es um die Bilder?

Repi: Die Bilder sollen das Herzstück, der Kern dieses Museums sein. Ich sage immer Museum, aber wir sind uns eigentlich einig, es nicht Museum zu nennen. Museum steht in der öffentlichen Wahrnehmung für etwas Abgeschlossenes. Da wir es aber fortführen wollen, suchen wir noch nach einem anderen Namen.

Norbert Reichel: Eine Art dynamisches Museum?

Repi: Ja, aber das Wort Museum soll eigentlich gar nicht vorkommen, vielleicht im Untertitel. Kernstück soll – wie gesagt – die Bildende Kunst sein. Thomas besitzt darüber hinaus viele Original-Exilausgaben mit dem Alleinstellungsmerkmal, dass sie alle signiert sind, wirklich alle. Dann hat er mehrere Schuhkästen mit seinen Briefwechseln mit Autor*innen, mit Nachkommen der Autor*innen. Diese sollen aufgearbeitet werden.

Darüber hinaus habe ich inzwischen selbst eine sehr große Exil-Sammlung, die auch gelegentlich, Manuskripte und Recherchematerial wird. Kürzlich habe ich die 800 Exil-Originale von Hans-Albert Walter (1935-2016), die gesamte Sekundärliteratur, viele Zettelkästen, den Schriftwechsel erworben. Ich hatte Kontakt mit dem Nachlassverwalter des Wissenschaftlers. Wenn wir ein Büro im Exil-Museum einrichten, könnte ich auch seine Schränke, seinen Schreibtisch und seinen Bürostuhl bekommen. Das wäre dann das Büro eines profilierten Exilforschers, in dem Wissenschaftler*innen, Studierende arbeiten und forschen könnten. Der Nachlassverwalter ist von dem Vorhaben begeistert.

Marxismus ohne -ismus – ein Aufruf zum politischen Streit

Norbert Reichel: In deinem Angebot befindet sich viel marxistische Literatur, natürlich die Bände der MEW-Ausgabe, die sonst nirgendwo so schön gesammelt in einem Regal stehen, Literatur der sozialistischen Klassiker, Literatur all derjenigen, die sich in ihrer Literatur oder in ihrer Politik mit den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels beschäftigt haben. Du selbst verstehst dich als Marxisten, hast aber mit allen diversen -ismen dieser Welt abgeschlossen. Ich habe den Eindruck, dass es eine Renaissance des Marxismus geben wird oder vielleicht in Ansätzen sogar schon gibt. Gerade das Fragmentarische vieler Schriften verweist darauf, dass sich ihr Werk im Grunde als ständiges Werden beschreiben ließe, so auch die Rezeption.

Ähnliches – das nur am Rande – lässt sich meines Erachtens bei Friedrich Nietzsche feststellen, Werk und Rezeption stimmen nicht überein. So wie Nietzsches Schwester den Nachlass ihres Bruders mit geradezu krimineller Energie fälschte und ihm somit den Ruf eines Proto-Faschisten verschaffte, der er nie war, haben auch manche die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels nur sehr selektiv gelesen – wenn überhaupt – und so ihre Intentionen verfälscht.

Repi: Ich glaube und ich hoffe, dass niemand mehr auf die Idee kommt, nach den Schriften von Karl Marx einen Staat zu organisieren. Denn das ist eines der vielen Missverständnisse, die mit Marx behaftet sind, dass seine Analysen, seine Überlegungen als Handlungsanweisung verstanden wurden. Das, was er schrieb, ist eine Methode, um die Welt, wie sie ist, zu verstehen, um die Wirtschaft, die Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse zu beschreiben. Natürlich hat er auch von „Revolution“ gesprochen, dass alles, was geschieht, eigentlich ganz anders gemacht werden müsse, aber er hat nie eine Staatskonzeption formuliert.

Norbert Reichel: Er schrieb keine Gebrauchsanweisung ebenso wie Nietzsche nie eine schrieb.

Repi: Keine Gebrauchsanweisung – das haben dann früher die marxistischen Dogmatiker vollkommen missverstanden. Wenn man streng ist, müsste man sie als die größten Anti-Marxisten bezeichnen. Die Dogmatiker in der DDR beispielsweise.

Norbert Reichel: Die DDR war völlig undialektisch aufgestellt.

Repi: Die Dogmatiker haben aus den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels einen Katechismus gemacht. Natürlich gab es viele Parallelen zum Katholizismus, die Klassikergläubigkeit, etwa in dem Sinne, Marx hat gesagt, deshalb ist das so. Das war dann schon praktisch der Beweis für die Wahrheit, oder wenn jemandem gesagt wurde, er argumentiere unmarxistisch, war das schon ein vernichtendes Urteil. Der Marxismus ist aber eine Methode, die Welt zu begreifen, in meinen Augen nach wie vor die beste.

Was die Renaissance betrifft: die hat ja einen sehr langen Anlauf. Es fing an mit der Finanzkrise. Es gab Artikel im SPIEGEL, Feuilleton-Artikel, Talk-Shows, aber es ging nicht kontinuierlich und nicht systematisch weiter.

Norbert Reichel: Es gibt dann so Lieblingskinder der Feuilleton-Redakteur*innen wie Slavoj Źiźek.

Repi: Der ist nicht nur Neo-Marxist, sondern Neo-Leninist.

Norbert Reichel: In diesem Sinne lesenswert sein Buch „Die Revolution steht bevor – Dreizehn Versuche über Lenin“. Eine deutsche Ausgabe dieser Vorträge erschien 2002 in der edition suhrkamp, also schon einige Jahre vor der Finanzkrise. Ich weiß nie so richtig, was ich von ihm halten soll.

Repi: Ich auch nicht.

Norbert Reichel: Er bietet oft sehr luzide Analysen, und dann kommt ein schräger Knaller. Vielleicht Analyse und Gebrauchsanweisung in einem, so eine Art Ableitung der Dogmatik aus der Analyse, die dann aber wieder im Hintergrund verschwindet.

Repi: Ich glaube, dass durch die Finanzkrise deutlich geworden sein dürfte, dass der Kapitalismus sich durch seine Produktionsweise seiner eigenen Grundlagen beraubt. Das war auch schon eine marx’sche Erkenntnis. Da sind wir schnell beim Klimawandel. Ich habe meinen Ohren nicht getraut, als ich am 23. Juli 2021 auf dem Bonner Münsterplatz bei einer Demonstration von Fridays for Future war, die sich explizit mit der Hochwasser-Katastrophe befasste und die den Opfern gewidmet war. Fridays for Future betont immer, dass sie überparteilich agieren, keine Wahlempfehlungen aussprechen, aber da hörte ich das erste Mal aus dem Mund von FfF-Leuten den Aufruf: „Wählt antikapitalistisch“. Ich war erstaunt und begeistert.

Ich glaube, wenn der Mythos, die irrationale Annahme, wir könnten Klima und Umwelt systemimmanent in einem grün angestrichenen Kapitalismus, durch grünes Wachstum – auch so ein Begriff …

Norbert Reichel: … Green New Deal war mal ein Begriff aus dem Parteiprogramm der Grünen und hat es inzwischen in die Höhen der Europäischen Kommission geschafft …

Repi: … ich glaube, dass sich die Erkenntnis, dass das nicht funktioniert, langsam Bahn bricht und dass eine Rettung des Planeten nur durch eine radikale Umstellung der Lebensweise und der Produktion zu erreichen ist. Und damit sind wir beim Anti-Kapitalismus, und den setzt Marx ganz oben auf die Literaturagenda.

Dezentrale Zentralisierung

Norbert Reichel: Das ist ja nicht einfach. Das gibt noch viel Streit, nicht immer sachlich, auch mit vielen Unterstellungen gespickt.

Repi: Streit ist aber auch etwas sehr Produktives. Ich denke an Bert Brecht, der sagte, der Kommunismus sei das Einfache, das so schwer zu machen ist, und ich denke, das ist mit unserer Lebens- und Produktionsweise genauso. Ich habe überhaupt nichts gegen Streit. Ich würde – wenn es nach mir ginge – diesen Streit jedoch gerne auf der Grundlage der Erkenntnis sehen, dass die Produktionsweisen geändert werden müssen. Wie das geschehen soll, wie wir sie ändern sollen, wer der Motor dieser Änderungen ist, wie dann die Eigentumsformen aussehen, über all das können wir herrlich streiten. Ich hoffe, dass bei einem heftigen Streit auch ein gutes Ergebnis herauskommt, und ich muss sagen, auch wenn ich mich jetzt antimarxistisch äußere, die Veränderung der Produktionsweise ist für mich alternativlos.

Norbert Reichel: Ganz schön undialektisch.

Repi (lacht): Ja, ich weiß.

Norbert Reichel: Wenn es keine Alternative geben soll, heißt das ja noch nicht, in welche Richtung sich die Veränderung bewegt, in welchem Tempo, unter welchen Bedingungen. Das ist ja die Schwierigkeit. Mein Eindruck: wer sich mit marxistischen Schriften beschäftigt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass man es dabei mit einer Methode zu tun hat, die angereichert und variiert werden kann und muss. Und hier liegt das Problem: wer sich antikapitalistisch nennt, gerät schnell in den Verdacht, er*sie wolle wieder Systeme einrichten, die in der Vergangenheit – zu unserem Glück – gescheitert sind und viel Leid über viele Menschen brachten. Kommunistische Systeme im dogmatischen Sinne gibt es ja auch nicht mehr. Nordkorea mag noch genannt werden, aber das ist meines Erachtens pseudo-kommunistische Folklore.

Repi: Das ist wirklich Folklore. Kommunismus ist ja nicht etwas, in dem man Fantasieuniformen durch die Gegend trägt und im Fernsehen mit Raketen spielt.

Norbert Reichel: Das konnte Göring ja auch ganz gut.

Repi: Und das konnten die in Moskau. Ich sage immer: nicht zurück zur alten DDR, sondern vorwärts zum Sozialismus. Walter Benjamin hat mal gesagt, nicht das Zurück zum vermeintlich guten Alten, sondern der Kampf gegen das Schlechte Neue ist der Ausgangspunkt sozialistischer Politik. Wer glaubt, wir müssten zurück zur alten DDR minus ihrer Fehler, ist schief gewickelt. Marx hat – und da bin ich ein wenig dogmatisch, weil ich das für richtig halte – Marx hat immer über die Verfügungsgewalt der Produzenten über die Produktion, nicht von der Verfügungsgewalt eines Staates, eines Zentralkomitees oder eines Politbüros gesprochen. Marx hat immer von einer Bedürfnisproduktion geredet, nicht von einer Planwirtschaft, in der omnipotente Männer in Moskau genau wussten, was 4.000 Kilometer weiter in Sibirien richtig ist. Bedürfnisproduktion kann natürlich nicht wie beim Großen Sprung in China in jedem Hinterhof geschehen, es muss schon eine bestimmte Zentralisierung geben. Ich spreche dann von einer dezentralen Zentralisierung.

Norbert Reichel: Spricht da noch der alte Anarchosyndikalist?

Repi: Jaaa. Ja. Weil ich auch inzwischen ein ganz anderes Verhältnis zum Staat bekommen habe. Und das liegt – jetzt kommt ein ganz großer Bogen – am Paradigmenwechsel der PKK, die lange für einen eigenen kurdischen Staat gekämpft hat und vor 20 Jahren angefangen hat, neu nachzudenken und jetzt nicht mehr von einer neuen Staatsgründung spricht, sondern von einer Demokratisierung des Nahen Ostens. Sie haben den Begriff der Kantone aus der Schweiz übernommen und organisieren die befreiten Gebiete in Kantonen.

Norbert Reichel: Klingt auch ein bisschen nach Spanien oder Südtirol.

Repi: Das geht weiter. Sie sehen den Staat als Hemmschuh der Emanzipation von verschiedenen Ethnien, Nationalitäten. Es geht mir jetzt nicht darum, dass ich romantisch verklärt zur alten Dorfgemeinschaft zurückwill, wo jeden Freitag am Lagerfeuer die nächste Woche geplant wird. Ich denke an eine bedürfnisgeprägte Produktion – und da ist auch wieder eine Parallele zum Klima. Das heißt nicht durch eine globalisierte Arbeitsteilung, in der die Bestandteile eines Sportschuhs überall in der Welt produziert werden, dann der Schuh in Deutschland zusammengesetzt wird, damit Made in Germany draufsteht.

Norbert Reichel: Planerische Grundlage wäre zum Beispiel eine Produktlinienanalyse, wie sie in der ökologischen Wirtschaftsforschung schon vor über 30 Jahren entwickelt wurde. Als klassische Beispiele werden immer wieder Pommes Frites oder Jeans genannt.

Repi: Es muss auch arbeitsplatznahe Wohnorte beziehungsweise wohnortnahe Arbeitsplätze geben. Das führt natürlich auch dazu, dass der Weg zur Arbeit weniger mit Emissionen belastet wird. Nicht nur das Home-Working, auch diese Art von Dezentralisierung von Produktionsprozessen kann das Klima schützen. Wir brauchen Produktionsstätten, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar sind. Das sind alles kleine Elemente, die einen sehr direkten Bezug zur Realität haben, oder mit Rosa Luxemburg gesagt: ein Beitrag zu einer „radikalen Realpolitik“. Wir können mit der Rettung des Planeten nicht warten, bis irgendwann, irgendwo und irgendwie eine Revolution gelaufen ist. Wir müssen jetzt damit anfangen.

Lesetipps – für den Einstieg und für Fortgeschrittene

Norbert Reichel: Welche Autor*innen würdest du denen empfehlen, die sich mit den von uns angesprochenen Themen intensiver beschäftigen möchten.

Repi: Tatsächlich immer Karl Marx. Immer „Das Kapital“. Das ist natürlich keine Gute-Nacht-Lektüre nach einem Achtstundenarbeitstag.

Norbert Reichel: Diese Lektüre ist ein harter Job.

Repi: Ein harter Job. Ich halte auch nichts von den fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Einführungen in „Das Kapital“, die alle auf dem Klappentext versprechen, das methodisch so einfach darzustellen, dass alle es sofort verstehen. Das funktioniert nicht.

Norbert Reichel: „Das Kapital“ hat sehr viele fragmentarische Elemente.

Repi: Es ist auch didaktisch aufgebaut, mit vielen Wiederholungen, sodass sich manches besser einprägt, wenn man es erneut liest. Wie in der Schule, wo Wiederholungen didaktisches Prinzip sind. Wer sich der Sprache von Karl Marx nähern möchte – diese Sprache würde man heute akademisches Soziologendeutsch nennen.

Norbert Reichel: Oder umgekehrt: viele akademische Soziolog*innen haben sich bemüht, so wie Karl Marx zu schreiben, gerade diejenigen, die in den 1970er Jahren wissenschaftlich sozialisiert wurden. In der edition suhrkamp gibt es eine ganze Menge von Bänden, die so geschrieben sind.

Repi: Warum nicht mit Friedrich Engels anfangen: „Der deutsche Bauernkrieg“ (in MEW Band 7). Das ist spannend, in einer einfachen Sprache, und gibt einen Einblick in den Verlauf von Geschichtsverläufen. Das motiviert vielleicht, einen auch komplizierteren Text zu lesen. Lesenswert von Friedrich Engels „Der Ursprung der Familie“ (in MEW Band 21). Das hat noch viele weiße Flecken, ist aber für die aktuelle Patriarchatsdiskussion immer noch von Wert.

Mein erstes Buch, das ich gelesen habe, in der letzten Reihe unter der Schulbank, war August Bebel „Die Frau und der Sozialismus“. Das war mein erstes politisches Buch überhaupt. Das ist ein Grundlagenwerk, das ich nach wie vor empfehle. Ansonsten würde ich nach Trial-and-Error-Verfahren lesen, reinschauen, anlesen, verwerfen, dabeibleiben, wie auch immer. Mit anderen Leuten sprechen, aber man sollte immer skeptisch sein, wenn andere einem bestimmte Literatur empfehlen. Das machen solche Parteien wie die MLPD, die einem sagen, was man lesen muss, was man nicht lesen darf. Die holen den Leuten den Trotzki aus den Bücherregalen, so wie früher. Mein Vorschlag: Ausprobieren!

Norbert Reichel: Vielleicht darf ich meinen Lieblingstext von Karl Marx nennen: „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“. (MEW Band 8). Das ist meines Erachtens die beste Erklärung für das Phänomen Donald J. Trump und das Elend sozialdemokratischer Politik.

Repi: Was ich jahrelang nicht nur vernachlässigt, sondern sogar abgelehnt habe, ist Science-Fiction-Literatur. Es ist immer noch nicht mein Lieblingsgenre. Aber es ist erstaunlich, welche sozialistischen Utopien sich in guter Science-Fiction-Literatur finden lassen. Ich habe auch Jahrzehnte lang nicht begriffen, dass Raumschiff Enterprise ein anti-rassistisches Projekt war. Das fing an mit Lieutenant Uhura.

Norbert Reichel: Die Kommunikationsoffizierin, die aber als bessere Telefonistin eingesetzt wurde. Mehr durfte sie nicht. Und der berühmte Kuss mit Captain Kirk war revolutionär, wurde aber schamhaft so gezeigt, dass das Eigentliche nicht zu sehen war. Aber immerhin. In „Deep Space Nine“ gibt es einen Schwarzen Kommandanten der Raumstation. In einer Folge, in der die Crew ins 20. Jahrhundert zurückfantasiert wurde, spielt er einen Schwarzen Zeichner, der die Serie „Deep Space Nine“ entwirft, aber als Schwarzer nicht unter seinem Namen veröffentlichen darf.

Nun so nebenbei: du sprichst mit jemandem, der alle 750 Star-Trek-Folgen, alle Staffeln, viele davon sogar mehrfach gesehen hat. Das ist in der Tat ein anti-rassistisches und ein sehr liberales und demokratisches Projekt. Auch auf den diversen Planeten findest du alles, was es an gesellschaftlichen und politischen Modellen gibt, ganz schreckliche, ganz fortschrittliche, in der Federation herrscht Friede, es gibt keine Todesstrafe, die Planeten sind geeint, teilweise nach schrecklichen Erfahrungen – wie beispielsweise der so vorbildliche Planet Vulcan – und die genetische Veränderung der menschlichen DNA ist verboten. Bevor die Erde zu einem friedlichen Planeten wurde, gab es noch den Dritten Weltkrieg und die Eugenischen Kriege, die immer wieder zitiert werden. Aber das ist ein sehr weites Feld. Populärkultur sagt viel aus über gesellschaftliche und politische Tendenzen, wenn man etwas in die Tiefe geht.

Repi: Die Rassisten kommen immer sehr schlecht weg, werden anders als in der Realität immer besiegt, auch wenn sie in der nächsten Folge in anderem Gewand wieder da sind.

Norbert Reichel: Auch das ist ein didaktischer Wiederholungseffekt. Die Frauen der diversen rassistischen Spezies sind übrigens meistens einsichtiger als die Männer. Das liegt allerdings auch immer ein wenig am Charme bestimmter Männer der Enterprise-Besatzungen, hat somit leider auch eine etwas weniger fortschrittliche Komponente.

Repi: Ich würde sagen: wenn Zeit und Muße ist, in den Buchladen gehen, ins Antiquariat, das ein oder andere Buch herausholen, reinschauen, weglegen, ein anderes mitnehmen – das finde ich wertvoller als all die harten schlauen Literaturtipps.

Ein neuer Club Voltaire? – Why not?

Norbert Reichel: Ich kannte mal jemanden, der die komplette Regenbogenreihe auf dem Regal hatte, daneben eine kleine Karl-Marx-Büste. Du kennst ihn?

Repi: Ich kenne den?

Norbert Reichel: Vielleicht nicht persönlich, aber du kennst ihn: das war Peter Glotz (1939-2005). Peter Glotz war auch einer der ersten, die Antonio Gramsci (1891-1937) mit seiner Hegemoniethese wiederentdeckten. Gramsci betonte, dass es für Veränderungen nicht nur politische Mehrheiten bräuchte, sondern gesellschaftliche Mehrheiten. Politische Mehrheiten sind rückholbar, bei gesellschaftlichen Mehrheiten ist das nicht so einfach. Es geht um einen gesellschaftlichen Konsens, nicht nur um eine Stimmungslage.

Repi: Gramsci ist ein wichtiges Thema. Umso bedenklicher ist es, dass er inzwischen auf der rechten Seite, in der Jungen Freiheit, in diesem merkwürdigen Institut für Staatspolitik gelesen und propagiert wird.

Norbert Reichel: Im Kontext mit Carl Schmitt. Das hatten wir in der 1968erzeit auch schon mal. Da lasen und zitierten die damaligen Propagandisten der Studentenbewegung Carl Schmitt.

Wäre es nicht nötig, viel mehr Diskussionszirkel zu gründen, in denen Texte gemeinsam von interessierten Menschen, mit Politiker*innen, mit Wissenschaftler*innen gelesen und diskutiert werden? Das wäre vielleicht der Anfang einer neuen Streitkultur. Mir scheint aber ein Problem darin zu bestehen, dass Politiker*innen, auf jeder Ebene, gar keine Zeit haben oder zumindest sich so organisieren, dass sie keine Zeit haben, etwas zu lesen. Es gibt sicher Ausnahmen wie Robert Habeck oder Petra Pau, übrigens auch Olaf Scholz, aber das sind Ausnahmen. Die meisten Politiker*innen leben von Zusammenfassungen ihrer Mitarbeiter*innen und sind abhängig davon, ob und was die wiederum lesen oder nicht lesen. Umgekehrt haben viele, die viel lesen, nicht die Zeit, sich politisch zu engagieren.

Repi: Du träumst davon, dass es so etwas mal wieder gibt, und ich leide darunter, dass es so etwas zurzeit nicht gibt. Ich wollte ja nie zu der Früher-war-alles-besser-Fraktion gehören, aber trotzdem: dass sich politische Gruppen früher gegenseitig Papiere vorgelegt, diese sich um die Ohren gehauen haben, die Dinger wurden gelesen, bejubelt, verrissen… Das war auch in der Antifa so, in den autonomen Gruppen. Wenn einer etwas geschrieben hatte, wurde es gelesen und es gab eine Replik. Das gibt es nicht mehr. Es findet natürlich viel im Netz statt, aber enorm verkürzt und oft mit viel Aggression. Nun waren die Texte der 1970er Jahre in den verschiedenen K-Gruppen auch nicht frei von Aggressionen.

Norbert Reichel: Nicht nur die. Ich habe bei dir eine Ausgabe der „Dialektik der Natur“ von Friedrich Engels gekauft, erschienen 1951 im Dietz-Verlag in Berlin, der MEW-Band 20 war gerade nicht verfügbar. Im Vorwort des Verlags lese ich, dass diese Schrift „in die Hände der opportunistischen Führer der deutschen Sozialdemokratie (geriet), die diese überaus kostbare Arbeit in verbrecherischer Weise jahrzehntelang verborgen hielten und bis heute noch verborgen halten.“

Repi: Aber der Stil und die Aggression haben sich schon verändert. Da sitzen manche Leute nach dem dritten Bier vor dem Bildschirm und hauen dem politischen Gegner, manchmal auch dem politisch Nahestehenden etwas in die Tasten. Das ist nicht produktiv. Da geht es nur um das Recht-Behalten, um Selbstverwirklichung, aber der Anflug der Idee, dass vielleicht der*die andere recht haben könnte, ist verkümmert. Mir fehlt die theoretische Diskussion, auch in innerlinken Zirkeln. Früher haben Politiker*innen, nicht alle, aber manche, gelegentlich kluge Bücher geschrieben. Das, was unsere aktuellen Politiker*innen heute auf den Markt werfen, mal abgesehen davon, dass sie es nicht selbst geschrieben, sondern irgendwelche Praktikant*innen, die wiederum Vieles abgeschrieben haben, einen Gebrauchswert haben diese Dinger nicht. Natürlich meine ich mit einem Augenzwinkern die aktuelle Debatte um zwei der drei Kanzlerkandidat*innen.

Der Prototyp war Lenin. Wenn Lenin etwas gelesen hatte, das aus seiner Sicht eine kritische Antwort verdient hatte, hat er sich drei Wochen zurückgezogen, alles stehen und liegen gelassen und diese Antwort geschrieben. Das ist natürlich ein Extrem.

Norbert Reichel: Und heute schwer umsetzbar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Minister*innen oder Kanzler*in eine solche Abwesenheit leisten können, es sei denn, sie nutzen ihren Urlaub auf diese Weise. Das mag vielleicht noch gehen.

Repi: Geht nicht, aber wir müssen uns vor Augen führen, dass vielleicht in zehn Jahren eine Klasse von Politiker*innen dieses Land regiert, die fragt, wer ist denn eigentlich dieser Goëthe. Ohne die Geschichte zu kennen, ohne die Vergangenheit zu kennen, die Entwicklung von Kultur, von Produktion kann man auch keine Tagespolitik machen. Damit meine ich jetzt nicht den Zebrastreifen vor der KiTa, aber die große Politik ist in meinen Augen ohne ein umfassendes historisches, soziologisches – und wenn ich es mir aussuchen darf – philosophisches Wissen nicht möglich.

Norbert Reichel. Früher gab es Montagsclubs, Donnerstagstreffen, an denen aktive Politiker*innen teilnahmen, aber ich habe den Eindruck, es ist schwierig, diese zu motivieren, weil sie im Tagesgeschäft gefangen sind und jederzeit allen, die ihnen ein Mikrofon vor die Nase halten, sofort antworten müssen. Ich sage es einmal so: ich habe den Eindruck, dass unter diesen Bedingungen die großen Fragen, wie beispielsweise Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit, dann auf dem Niveau eines Zebrastreifens vor der KiTa oder der Wassertemperatur im Hallenbad diskutiert werden.

Repi: Das betrifft nicht nur die Politik, auch die journalistische Zunft. Früher gab es den Internationalen Frühschoppen, bei dem mal länger als fünf Minuten über ein Thema geredet wurde. Heute gibt es nur noch Krawall, Hauptsache Skandal.

Norbert Reichel: Ich nenne eine Ausnahme: der Presseclub am Sonntagmorgen um 12 Uhr, dem früheren Sendeplatz des Internationalen Frühschoppens, hat schon ein deutlich höheres Niveau als all die Confrontainment-Shows, in denen es nur darum geht, wer seine Position am lautesten behauptet. Es gab in den 1960er Jahren auch die Republikanischen Clubs.

Repi: Die Clubs Voltaire.

Norbert Reichel: Ich habe mal darüber nachgedacht, ob ich den Demokratischen Salon Demokratischen Club nenne, habe es dann aber doch bei der etwas bildungsbürgerlich klingenden Variante gelassen.

Bei all diesen Debattierclubs frage ich mich natürlich auch, wer diskutiert da mit wem? Wenn diejenigen, die ohnehin im Großen und Ganzen miteinander einig sind, gemeinsam so etwas wie eine „linke“ Politik vertreten, nur miteinander diskutieren, hilft das wenig. Erreicht werden müssen die anderen, die diese Politik nicht vertreten. Ich habe das schon mal so formuliert: für eine fortschrittliche Politik ist die CDU die geborene Zielgruppe. Wenn ich denke, wie sich deren Positionen in den vergangenen zwanzig Jahren verändert haben, parteiinterne Kritiker*innen sprechen nicht zu Unrecht von einer Sozialdemokratisierung, das geht von Lebensmodellen, Modellen von Partnerschaft über Ganztagsschulen und die Betreuung von Kleinkindern, bis hin zur Abschaffung von Wehrpflicht und Kernkraftwerken und zum Kohleausstieg. Einen konservativen Markenkern kann ich dort nicht erkennen, und die „konservative Revolution“, die der CSU-Landesgruppenchef der aktuellen CDU/CSU-Bundestagsfraktion einmal ausrufen wollte, ist genauso wenig konkret wie die inzwischen zum Glück in den Hintergrund gerückte Debatte über eine sogenannte „Leitkultur“.

Ich glaube, dass viele dieser Entwicklungen nicht mehr rückholbar sind. Mir macht jedoch eine andere Entwicklung Sorge. Über diese sprach ich zuletzt mit dem Frankfurter Professor Harry Harun Behr. Es geht um die Frage, ob die liberale Demokratie auch in Zukunft akzeptiert wird. Es gibt Hinweise in der Generation Z, zu der auch die Aktivist*innen von Fridays for Future gehören, dass diese Generation bereit sein könnte, für den Klimaschutz demokratische Freiheiten zu opfern. Dabei kann es nicht um ein Entweder-Oder gehen. Beides ist essenziell.

Repi: Das ist eine Gefahr. Es gibt auch ein spannendes Buch darüber von dem Drogeriebetreiber Dirk Rossmann: „Der neunte Arm des Oktopus“, 2020 erschienen. Dirk Rossmann ist ökologisch orientiert und engagiert. In dem Buch geht es darum, dass die Großmächte sich für eine Ökodiktatur entscheiden. China, USA und Russland verbünden sich, um den Rest der Welt über diese Ökodiktatur in eine lebenswerte Zukunft zu führen. Literarisch nicht so toll, aber vom Inhalt sehr spannend zu lesen. Ich bin selbst nicht frei von solchen Fantasien.

Die Dialektik von Klima- und Sozialpolitik

Norbert Reichel: Niemand ist frei davon.

Repi: Ich habe mein ganzes politisches Leben zwischen der größtmöglichen Auto-Emanzipation auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem „Die Partei hat immer recht“, „wenn ihr nicht wollt, …“ geschwankt. Ich bin immer geschwankt.

(längere Pause)

Wie soll ich das jetzt ausdrücken? Ich habe noch einen anderen Zugang zum Thema „Ökodiktatur“. Wenn wir den Klimawandel aufhalten, den Planeten retten wollen, ohne das mit diktatorischen Mitteln durchzusetzen, müssen wir einen großen Teil der Weltbevölkerung mitnehmen. Den nehmen wir aber nur dann mit, wenn es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Umwelt- und Sozialpolitik gibt. Wenn wir jetzt einen Großteil des Haushalts in den Umweltbereich stecken, zu Lasten des Sozialhaushaltes, dann werden wir immer stärker in eine Gesellschaft geraten, in der es Menschen gibt, die sich Klimaschutz leisten können und denen, die das nicht können und neidvoll auf die schauen, die es sich leisten können. So entsteht eine Gegenbewegung. Und das wird ein permanenter Klimakampf. Wenn wir es nicht schaffen, Klimapolitik und Sozialpolitik zu vereinbaren, ist eine autoritäre Klimapolitik von oben geradezu die logische Folge. Deshalb wirklich der Appell an alle möglichen Parteien, auch vor allem an die Grünen: Klimapolitik braucht immer auch Sozialpolitik

Norbert Reichel: Wir brauchen eine intelligente Grundsicherung. Ohne die wird es nicht gehen. Eine solche Debatte führt weiter als das ständige Genörgele über billige Mallorca-Flüge und den Benzinpreis. Es ist auch absurd, wenn ein Parteivorsitzender eine Mietpreisbremse ablehnt, aber eine Benzinpreisbremse fordert.

Repi: Mit einem Grundeinkommen wären wir auch noch viel besser durch die Pandemie gekommen. Ein Grundeinkommen, eine Grundsicherung – darüber müssen wir reden. Über die Grundlagen und über die Ausgestaltung.

Norbert Reichel: Aufhören muss auch, dass jemand seine Grundbedarfe über Anträge bei 27 verschiedenen Behörden begleichen muss. Das ist auch so eine deutsche Paranoia, dass jemand etwas bekommen könnte, was ihm*ihr nicht zustünde. Ich würde das in Kauf nehmen. Beim Kindergeld ist es ja jetzt schon so.

Bei den Corona-Hilfsprogrammen, die Joe Biden aufgelegt hat, war das kein Thema. Mitnahmeeffekte wurden wegen des Ziels der unbürokratischen Hilfe in Kauf genommen.

Repi: Das hat Olaf Scholz am Anfang auch so gemacht, aber dann hat er davon wieder Abstand genommen, und jetzt wird versucht, an allen möglichen Stellen das Geld wieder einzusammeln. Ich sitze da jeden Abend und rechne: ich möchte so wenig wie möglich von den 9.000 EUR wieder zurückgeben. Abgesehen davon bin ich im Recht.

Norbert Reichel: 9.000 EUR sind auf den Gesamthaushalt gerechnet ohnehin nur Peanuts.

Repi: Und ein Teil wird noch von der Verwaltung aufgebraucht, die für die Rückforderung tätig ist. Umso wichtiger ist die Debatte über Grundeinkommen und Grundsicherung.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2021, alle Internetzugriffe vom 24. August 2021)