Die antisemitische Achterbahn

Studien und Einschätzungen zum Antisemitismus in Österreich

„Die Natur ist leer, aber gefasst. Wir können sie jedenfalls nicht fassen, das muss ein anderer getan haben. Wir können nicht einmal uns selbst fassen, wenn unsere Taten einmal vorbei sind. Dann werden wir damals nicht zu Hause gewesen sein.“ (Elfriede Jelinek, Die Kinder der Toten, 1995)

Den Roman „Die Kinder der Toten“ sollten meines Erachtens alle gelesen haben, die sich mit der Erinnerung an die Shoah auseinandersetzen möchten, die immer auch die Erinnerung an all das sein sollte, was Menschen getan und was sie nicht getan haben. Wer sich wie und warum und vielleicht so und nicht anders erinnert, wer der Verstorbenen, der Ermordeten gedenken möchte, sofern ein ehrliches Gedenken überhaupt möglich ist, findet in „Die Kinder der Toten“ die Besessenheit, die viele so gerne vermeiden möchten, die aber letztlich nicht vermeidbar ist.

Paradigma der Aufarbeitung: Österreich

Ich wage die These, dass ein solcher Roman in keinem anderen Land hätte geschrieben werden können als in Österreich. Er wäre weder in Westdeutschland noch in der DDR möglich gewesen. Dies bedeutet nicht, dass Österreich antisemitischer oder nationalsozialistischer gewesen wäre als Deutschland oder dass Österreicher*innen sich mehr hätten zuschulden kommen lassen als Deutsche oder andere, die sich als Helfershelfer*innen verdingen ließen oder erpressen lassen mussten. Österreich aber scheint mir nach Lektüre diverser Untersuchungen zu Antisemitismus und Aufarbeitung der Shoah ein Paradefall für die Analyse der Sehnsucht nach dem Schlussstrich und der zombieartigen Tradierung antisemitischer und antijüdischer Rede und Taten zu sein. Eine Analyse österreichischer Narrative ist für die fortwährende Geschichte des Antisemitismus mit all seinen Ausdrucks- und Erscheinungsformen mehr als aufschlussreich.

Elfriede Jelinek demonstriert, dass ein Schlussstrich nie gezogen werden kann, die Opfer der Verbrechen sich immer wieder einen neuen Weg in unser Gedächtnis bahnen können, sodass antisemitische Narrative geradezu die Funktion zu erfüllen scheinen, das in die Erinnerung Drängende abzuwehren. Aber es bleibt „Natur“, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Die erinnerte Natur wird zur Kultur, das Vergangene zum „kulturellen Code“ im Sinne von Shulamit Volkov, aber nicht unbedingt in der empathischen Annäherung an Verbrechen, an die anzunähern niemandem gelingen kann, sondern in dem Versuch der Vermeidung solcher Annäherung. In den Worten Elfriede Jelineks: „Die Natur ist gegenwärtig, doch das Denken ist künftig, lange Auseinandersetzungen mit einem selbst liegen dazwischen. Das Licht kommt und geht, aber aus dem Denken geht immer nur etwas hervor, verschwinden mag es dann nicht so gern.“

Es lohnt sich, die antisemitische Geschichte Österreichs zwischen 1945 und den 2020er Jahren näher zu betrachten, aus literarischer, aus historischer, psychologischer, soziologischer oder linguistischer Sicht. Zwei Bücher bieten einen eindrucksvollen Einblick in Kontinuitäten des Antisemitismus in Österreich. Im Verlag Hentrich & Hentrich erschien 2022 der von Christina Hainzl und Marc Grimm herausgegebene Sammelband „Antisemitismus in Österreich nach 1945“. Bereits 1990 veröffentlichte eine von Ruth Wodak geleitete interdisziplinäre Forschungsgruppe eine Analyse von Waldheim-Affäre und Peter-Kreisky-Wiesenthal-Affäre, die das antisemitische Framing und den antisemitischen Sound der öffentlichen Debatten in Medien, Parlament und Bevölkerung dokumentierte. Das Buch erschien damals in der renommierten Reihe der Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft (stw). Ruth Wodak und ihre Kolleg*innen bieten eine Fundgrube mit einer Fülle von Originalzitaten.

Ruth Wodaks Buch trägt den in sich widersprüchlich erscheinenden Titel „‚Wir sind alle unschuldige Täter‘ – diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus“, Ko-Autor*innen waren Peter Nowak, Johanna Pelikan, Helmut Gruber, Rudolf de Cillia und Richard Mitten. Einen vergleichbaren Titel wählte Samuel Salzborn in seinem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Buch „Kollektive Unschuld – Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“, das ich u.a. in meinem Essay „Die verfolgte Unschuld“ vorgestellt habe. Deutschland und Österreich bilden durchaus so etwas wie kommunizierende Röhren des Antisemitismus, nur scheint mir in Österreich offener zu Tage zu treten, was in Deutschland in der Regel schamhaft verschwiegen wird. Ruth Wodak und ihre Kolleg*innen sprechen vom „Mythos der ‚Stunde Null‘“ und nennen ihn „die österreichische Lebenslüge“, die sich umso erfolgreicher durchsetzte, wie sich eine österreichische Identität entwickelte: „Je stärker die österreichische Identität gewachsen ist, je zuversichtlicher man mit dem neuen Patriotismus umging, desto unfähiger wurde man, diese ‚Vergangenheit zu bewältigen‘, die Verflechtung von Österreichern in die Verbrechen des Dritten Reichs aufzudecken.“

Das erste „Opfer“ der Nazis

Eine schnell orientierende historische Einordnung bietet die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl in ihrem Essay „Opferthesen, Revisited – Österreichs ambivalenter Umgang mit der NS-Vergangenheit“ (erschienen in einer „Österreich“ gewidmeten Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 20. August 2018).

Eine der gängigen Erzählungen österreichischer Nachkriegsgeschichte lautet, dass Österreich das erste Opfer der Nazis war. Antisemitismus in Österreich? Sympathien für den Nationalsozialismus? All dies gab es, auch schon vor dem März 1938, der österreichische Ableger der NSDAP war zwar zeitweilig verboten, das Regime firmierte gleichwohl und nicht zu Unrecht unter dem Begriff des „Austrofaschismus“, antisemitische Einstellungen waren verbreitet. Nach dem „Anschluss“ war Wien eines der Zentren der Vorbereitung der Shoah. Adolf Eichmann organisierte unmittelbar nach dem „Anschluss“ von Wien aus das, was die Nazis „Auswanderung“ nannten, aber nichts anderes war als Vertreibung und Deportation. Juden wurden unter dem Beifall der Bevölkerung gezwungen, mit Zahnbürsten die Straße zu reinigen. Ohne die Unterstützung dieser österreichischen Bevölkerung hätte Eichmann seine Aufgabe nicht so effektiv und effizient erfüllen können wie er dies tat.

Die sich nach dem Krieg verbreitende österreichische Opfer-Erzählung jedoch reduzierte – deutschen Narrativen nicht unähnlich – die Bereitschaft, sich mit dem eigenen Beitrag zur Shoah auseinanderzusetzen, erheblich. Österreichischen Regierungen gelang es immer wieder, sich aus der Verantwortung als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches zu verabschieden. Sie konnten sich sogar auf internationalen Beistand berufen, die Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister vom 30. Oktober 1943, in der das österreichische Opfernarrativ – im englischen Originaltext „the first free country to fall a victim to Hitlerite aggression“ – verankert war. Diese Erzählung wurde Mainstream in (fast) allen österreichischen Parteien der Nachkriegszeit. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien profitierten von dieser Stimmung, allen voran die FPÖ, die Elfriede Jelinek in „Die Kinder der Toten“ die „Bubenpartei“ nennt. Diese schaffte es, SS-Kameradschaften, Burschenschaften und andere Organisationen im rechtsextremen Umfeld zu hofieren und öffentlich zu loben. Jörg Haider spielte in seinen Reden mit rechtsextremen Bildern und Formeln, lange vor der deutschen AfD.

Im Unterschied zur deutschen FDP hatte es die FPÖ nicht geschafft, sich mit der Zeit – spätestens in den 1970er Jahren – von ihrer nationalsozialistischen Klientel zu trennen, es gelang ihr sogar, diese mit der Zeit wieder in den Mainstream der österreichischen Parteien zu integrieren und nationalsozialistisch konnotierte Positionen hoffähig zu machen. Aber auch in anderen Parteien versuchten Politiker*innen, die Verstrickung hochrangiger Repräsentanten in Kriegsverbrechen und Shoah zu leugnen oder diese zumindest zu verharmlosen. Insbesondere die Waldheim-Affäre und die Peter-Kreisky-Wiesenthal-Affäre belegen dies. Im Clubraum – so heißt dort der Fraktionssaal – der ÖVP im Parlament hängt ein Bild des austrofaschistischen Kanzlers Engelbert Dollfuß, auch die SPÖ setzte sich für „Ehemalige“ ein, so deren Kanzler Bruno Kreisky für den FPÖ-Politiker Friedrich Peter, dem vorgeworfen wurde, an der Ermordung von 10.000 Menschen, darunter 8.000 Jüdinnen und Juden mitgewirkt zu haben. Kreisky nahm Peter gegen die Anschuldigungen von Simon Wiesenthal in Schutz. Man tat sich schwer in Österreich, die Nazi-Zeit als Teil der eigenen Geschichte zu begreifen. Die Wähler*innen schienen die Leugnung österreichischer Mitwirkung an den NS-Verbrechen zu honorieren.

Bruno Kreisky lässt sich – wenn man so will – als tragischer Fall bezeichnen. Bruno Kreisky war nicht nur Opfer antisemitischer Beleidigungen in Parlament und Medien, er trug selbst in seiner Verteidigung von Friedrich Peter und in seinen Vorwürfen gegen Simon Wiesenthal zur antisemitischen Aufladung der Debatten bei. Er wurde beispielsweise mit der Schlagzeile zitiert: „Man will uns als antisemitischen Staat denunzieren“, Simon Wiesenthal bezeichnete er als „politische Mafia, die da gegen Österreich arbeitet“. Den World Jewish Congress (WJC) nannte er gewisse Kreise, allerdings sehr begrenzte“, die sich „in einer, wie ich glaube, ungehörigen Weise in den österreichischen Wahlkampf einmischten“. Zu Menachem Begin sagte er: „Sadat hat es mit Krämern, kleinen politischen Krämern wie Begin zu tun, einem kleinen polnischen Advokaten oder was er ist. Sie sind dem Normalen so entfremdet, sie denken so verdreht diese Ostjuden.“ Ein Fazit: „Kreisky profilierte sich hier als ‚echter Österreicher‘, der zwar antisemitische Argumentation bemüht, aber den Vorwurf des Antisemitismus ‚im Namen aller Österreicher‘ empört zurückweist (…).“ (alle Zitate nach Ruth Wodak.)

Heidemarie Uhl vertritt die These, dass die Waldheim-Debatte für eine „nachhaltige Konfrontation mit der NS-Vergangenheit“ gesorgt habe. Sie verweist allerdings auch darauf, dass die Frage nach einer Aufarbeitung der Schuld während der NS-Zeit gegen Ende der 1980er Jahre nicht nur in Österreich gestellt wurde, sodass sich letztlich nicht sagen lasse, dass es sich um eine genuin österreichische Entwicklung gehandelt habe: „Ende der 1980er Jahre brachen in vielen europäischen Staaten Kontroversen um die bislang ausgeblendete Beteiligung von Teilen der Bevölkerung am NS-Herrschaftsapparat auf, nach 1989 auch in Ländern des ehemaligen ‚Ostblocks‘. Im nun einsetzenden Prozess der Neudefinition des Geschichtsbildes der europäischen Nationen stellte sich auch die Frage des österreichischen Gedächtnissens neu. War die Praxis des Verschweigens, Verdrängens und Verleugnens ein Sonderfall?“

Die Forschungsgruppe um Ruth Wodak zitiert einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1986, in dem zunächst Verständnis simuliert wird, das dann aber Österreich als das eigentliche Opfer darstellt, das darunter leidet, dass der Jüdische Weltkongress und andere die Vergangenheit nicht ruhen lassen wollen: „Selbst Emotionen kommen aus der Tiefe schrecklicher Erfahrungen, und es trifft uns Österreicher immer wieder hart, wenn wir mit der Erkenntnis konfrontiert werden, dass viele Leute in der Welt keine guten Erinnerungen an Österreich haben.“ Zur ganzen Wahrheit gehört natürlich auch, dass es in Deutschland genügend Kreise gab, die solche Debatten in benachbarten Ländern, in Österreich, in Frankreich, in den 2010er und 2020er Jahren in Polen begrüßten, weil sie darin auch eine Möglichkeit sahen, die deutsche Schuld zu relativieren und gleichzeitig sich selbst als diejenigen hinzustellen, die in ihrer „Erinnerungskultur“ allen zum Beispiel dienen sollten, während diese anderen Staaten, allen voran Österreich, sich stets bemühten, sich ausschließlich und vorrangig als „Opfer“ zu präsentieren. Die Kritik an der jüngsten polnischen Gesetzgebung zum Beitrag von Pol*innen zur Shoah und die Berichterstattung über die beiden Prozesse gegen den Ukrainer John Demjanjuk dienten durchaus auch der deutschen Entlastung.

Heidemarie Uhl referiert die Anfänge der österreichischen „Opferthese“ seit 1945 bis zur Waldheim-Affäre. Die österreichische Öffentlichkeit und Politik sonnte sich im Licht der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, die Glaubwürdigkeit der „Opferthese“ wurde durch eine überhöhte Darstellung österreichischen Widerstands untermauert. Und so war es fast zwangsläufig, dass wenig später mit dem Nationalsozialistengesetz von 1947 die Rehabilitierung der „Minderbelasteten“ erfolgte, sodass „etwa 92 Prozent der ehemaligen NSDAP-Mitglieder“ wieder das Wahlrecht zugesprochen wurde. Aktiver Widerstand hingegen geriet unter „Kommunismus-Verdacht“. Möglich waren schon in dieser frühen Zeit des damals noch nicht souveränen Staats Österreich Aufmärsche mit NS-Symbolen. Ein hochrangiger NS-Funktionär wie Franz Murer, verantwortlich für die Ermordung der Juden und Jüdinnen von Vilnius („der Schlächter von Vilnius“), wurde in Litauen verurteilt, 1955 an Österreich ausgeliefert, dort nicht weiterverfolgt und fand seine neue politische Heimat in der ÖVP.

Das Bewusstsein änderte sich im Zuge der Waldheim-Affäre, allerdings darf die Frage gestellt werden, wie „nachhaltig“ dies wirklich war. Zumindest ließen sich Differenzen feststellen. Heidemarie Uhl schreibt: „Am 26. Oktober 2000, zum Datum des Nationalfeiertags, wurde das Holocaust-Denkmal am Wiener Judenplatz enthüllt. Den Medienberichten ist auch eine gewissen Genugtuung darüber zu entnehmen, dass Wien dieses Projekt vor Berlin realisiert hatte. Regierungsvertreter waren nicht geladen, wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Haider erschien dies unangemessen.“ Sie berichtet, dass sich seit 2002 schlagende Burschenschaften am 8. Mai regelmäßig zu einer „Totengedenkfeier für die Wehrmachtssoldaten“ trafen. Ort war die „Krypta des österreichischen Heldendenkmals für die Gefallen des Ersten und Zweiten Weltkriegs im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg“. „Bis 2012 wiederholte sich jährlich das gleiche Schauspiel: Der Heldenplatz wurde am 8. Mai weiträumig abgesperrt, Gegendemonstrationen der Zugang zum Platz verweigert.“ Dies änderte sich 2013 aufgrund zivilgesellschaftlicher Initiativen: „Seit 2013 wird der Tag des Kriegsendes mit einem ‚Fest der Freude‘ auf dem ganzen Heldenplatz gefeiert, das Bundesheer beteiligt sich daran mit einer Mahnwache für die Opfer des Nationalsozialismus.“ Inzwischen – ihr Text erschien 2018 – stellt Heidemarie Uhl „Auflösungserscheinungen“ fest. „Das Holocaust-Gedenken ist mittlerweile zu einem symbolischen Kapital offizieller Geschichtspolitik geworden, die Orientierung an den damit verbundenen normativen Werten ist nicht mehr zwingend notwendig.“ Als Beleg zitiert sie eine Rede des damaligen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache. Es war ein Auf und Ab, durchaus opportunistisch einer tatsächlichen oder zumindest vermuteten Stimmung in der Österreichischen Bevölkerung geschuldet. Entsprechend deutlich war auch die Kritik an diesem Opportunismus.

Antisemitismus von rechts

Die 16 Autor*innen und die beiden Herausgeber*innen von „Antisemitismus in Österreich nach 1945“ präsentieren in 16 Texten ein umfassendes Bild der österreichischen Geschichte. Thema ist Antisemitismus von rechts, von links, von jungen Menschen, von Katholik*innen, von Muslim*innen, im Parlament, in den Medien, im Nachkriegsfilm. Auf der linken Seite wird der israelbezogene Antisemitismus analysiert, auf der rechten Seite der Antisemitismus im „Ehemaligen“-Milieu, in der FPÖ und in Studentenverbindungen. Eine interessante Facette ist der Wandel der Einstellung zu Israel in der FPÖ, in der es immer wieder Phasen gibt, in denen sich die FPÖ als die wahre und einzige Verteidigerin Israels zu inszenieren versteht. Mehrere Essays des Bandes referieren empirische Studien, darunter auch solche, die die österreichische Parlamentsdirektion in den Jahren 2018 und 2019 in Auftrag gegeben hat.

Barbara Serloth, deren Bücher zum Thema im Mandelbaum-Verlag und im Studien-Verlag erschienen sind, nennt die Diagnose bereits im Titel ihres Essays: „Der demokratisch legitimierte legislative Antisemitismus der Zweiten Republik und sein Einfluss auf die Entnazifizierungs- und Restitutionspolitik“. Sie diagnostiziert „Verweigerungsnarrative“, die die „Mehrheitsmeinung“ prägten, über die „kaum verschleierte Vorurteilshaltung und Diskriminierungsbereitschaft“, die zur „Nazifreundlichkeit“ mutierte „Entnazifizierung“. Sie zitiert die Amnestie der Minderbelasteten von 1948, den Gnadenerlass von 1949 sowie den Härteausgleichsfonds von 1950 gegen die Rückgabe arisierten Vermögens. Sie stellt fest, „dass der Opfermythos mit all seinen Verweigerungen und Verkürzungen hinsichtlich der Schuldaufarbeitung nicht nur von den Narrativen über Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus abgesichert wurde, sondern die Narrative ihrerseits durch eine entsprechende Personalpolitik getragen wurden.“ Zivilgesellschaft und Parlament sorgten für „die demokratische Absicherung der Entrechtung und Enteignung der Juden und Jüdinnen“ und die „Zivilgesellschaft trug die politischen Entscheidungen nicht nur mit, sondern forderte sie zum Teil auch ein.“

Matthias Falter analysiert die katholischen Grundlagen des Antisemitismus in Österreich, in der katholischen Arbeiterbewegung schon in den 1920er Jahren, in der Christlichsozialen Partei dieser Zeit. „Dieser katholische Antisemitismus kann nicht auf den traditionell christlichen Antijudaismus reduziert werden, sondern vereinte dessen Motive mit dem modernen Antisemitismus.“ 1991 glaubten immerhin noch 24 %, dass die Juden für Christi Tod verantwortlich wären, 2018 immerhin noch 13 %. Der Kult um das angeblich von Juden ermordete Anderl von Rinn lebt nach wie vor. Ähnliche Geschichten gibt es auch anderswo, beispielsweise in Oberwesel am Mittelrhein zu der Werner-Geschichte, die Ritualmordlüge findet immer wieder Menschen, die sie verbreiten, im israelbezogenen Antisemitismus wird sie ständig zitiert. Matthias Falter verweist auf Verschränkungen zwischen traditionellen katholischen Milieus, der ÖVP und der FPÖ, auch im Hinblick auf einzelne Bischöfe und andere Amtsträger, die die „Erinnerung an die Shoah (…) als Konkurrenz zum Christentum und Gefahr für die nationale Gemeinschaft“ verstehen und mitunter sogar als „Holocaustreligion“ bezeichnen. Nach wie vor ist ein Sitzungsraum in der Parteiakademie in der Parteiakademie der ÖVP nach Leopold Kunschak benannt, der am 17. April 1945 die Unabhängigkeitserklärung Österreichs für die ÖVP unterzeichnete und der sich zeitlebens ausdrücklich als Antisemit bekannte. Die ÖVP tat sich schwer, sich von seinen gelegentlich auch unflätigen Äußerungen zu distanzieren. Die Affäre um Kurt Waldheim war sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. „Der religiöse Antisemitismus ist ein kultureller geworden, der aus den ursprünglichen Trägerinstitutionen zwar großteils verdrängt wurde, im privaten und halböffentlichen Bereich jedoch weitervermittelt wird und jederzeit durch Codes und Bilder abrufbar ist.“

Auf diesem Boden gediehen dann die Stimmungen, die sich in Waldheim-Affäre sowie in der Kreisky-Wiesenthal-Peter-Affäre ebenso auswirkten wie in den Wahlerfolgen der FPÖ bis in die heutige Zeit hinein. Daran änderte auch die Distanzierung des Bundeskanzlers Franz Vranitzky (SPÖ) vom Opfernarrativ im Jahr 1991 nichts Grundlegendes. Diese Distanzierung war durchaus eine Wirkung der beiden Affären, dürfte aber vor allem der internationalen Aufmerksamkeit geschuldet sein. Sie bewirkte eine Atempause, auch in den 1990er Jahren setzte sich – so Karin Bischof und Martin Löffler in ihrer Analyse der „Plenumsdebatten im österreichischen Nationalrat“ – die „Rede von der Nazi- oder Faschismuskeule fort“.

Die FPÖ und ihr Vor- und Umfeld in Burschenschaften und „Ehemaligen“-Verbänden ist Thema mehrerer Beiträge. Durchgängig dominiert die für jeden Antisemitismus typische Täter-Opfer-Umkehr. Karin Bischof und Martin Löffler notieren, dass die FPÖ zum Thema Volksverhetzung beitrug, man möge auch die Beleidigung von Nicht-Juden durch Juden bestrafen. Gegeneinander ausgespielt wurden die „Emigranten“ und die „Hiergebliebenen“, durchaus vergleichbar mit der Einlassung von Franz Josef Strauß, der Willy Brandt anging, weil man doch nicht wisse, was dieser in der NS-Zeit außerhalb Deutschlands gemacht habe, man jedoch sehr genau wisse, was man hier in Deutschland gemacht hätte. Mit dieser zynischen Formel meinte Strauß – es ist eigentlich müßig, dies zu betonen – nicht die Mitwirkung an den Verbrechen der Nazis.

Die Diffamierung von „Emigranten“ – so Margit Reiter – wurde zumindest unterschwellig oder auch ausdrücklich mit Anti-Amerikanismus verbunden. Im Jahr 2019 erschien bei Wallstein in Göttingen Margit Reiters Buch „Die Ehemaligen – Der Nationalsozialismus und die FPÖ“. Das Buch stand auf der Shortlist für das Wissenschaftsbuch 2020 und wurde mit dem Kurz-Zopf-Förderpreis der Universität Salzburg für die „herausragendste wissenschaftliche Monographie der Jahre 2018, 2019 und 2020“ ausgezeichnet. Die „Ehemaligen“ und die „Emigranten“ – das sind die beiden Gruppen, die sich im Narrativ „Wir“ und „die Anderen“ einander gegenüberstellen lassen. Die USA und Israel sind dann die Länder, die „die Anderen“ beherbergen und sie im Grunde auch in ihren anti-österreichischen Einstellungen steuern, allen voran die dort lebenden Juden.

Ein Beispiel sind die Angriffe auf den Publizisten Hans Habe, den Marko Martin in seinem Buch „Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht – Portraits (Wuppertal, Arco, 2022) portraitierte. Margit Reiter schreibt: „Viele Akteur*innen der FPÖ, die diesem rechten Milieu zuzuordnen sind, agierten auch nach 1945 erstaunlich offen antisemitisch, wobei sich sowohl altbekannte antisemitische Stereotype, Vorurteilsmuster und Begrifflichkeiten als auch Formen eines sekundären, auf Schulabwehr abzielenden Antisemitismus finden.“ NS-Begrifflichkeit wurde übernommen, man sprach von „Halbjuden“, „Vierteljuden“, von „Finanzjuden“, vom „Ghettojudentum“. Eine detaillierte Analyse der Sprache Jörg Haiders bietet Helga Embacher. Sie referiert auch zur Geschichte der FPÖ, in der israelfeindliche Äußerungen sowie Rechtfertigungen der Hamas und anderer palästinensischer Terrorgruppen mit der Zeit in den Hintergrund rückten. Unter Heinz-Christian Strache positionierte sich die FPÖ als Freundin Israels, dies bedeutete jedoch kein Ende antisemitischer Einlassungen: „Straches Bemühungen um Israel sind ein anschauliches Beispiel dafür, dass sich ein selektiv positives Israelbild durchaus mit antisemitischen Haltungen vereinbaren lässt.“ Margit Reiter spricht von einer „Doppelstrategie“, die aber nicht nur in der FPÖ grassiere, „sondern mittlerweile ein verbreitetes Phänomen in der extremen Rechten in Europa“ ist, Eingang in den „Mainstream“ (Cas Mudde) der sogenannten „Mitte“ findet und sich auch auf der linken Seite ausbreitet.

Das eigentliche Motiv dieser israelfreundlichen Wende der FPÖ lag in ihrer Stimmungsmache gegen den Islam. Ähnlich wie rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in anderen europäischen Ländern wetterte man gegen den durch Muslim*innen „importierten Antisemitismus“, die FPÖ beschimpfte ihre Konkurrenz als „Islamistenparteien“. In der Corona-Pandemie rückten antisemitische Verschwörungserzählungen wieder in den Vordergrund, schwierig wurde es im Jahr 2018 in der Liederbuchaffäre. Bernhard Weidinger nennt weitere Ereignisse aus der Szene der Studentenverbindungen: 1989 wurde der Holocaustleugner David Irving, 1999 der zum Rechtsextremisten mutierte ehemalige Linksextremist Horst Mahler zu Vorträgen eingeladen. Es gab aus der FPÖ zwar auch sich distanzierende Stimmen, ein Konsens über eine Verurteilung solcher Initiativen aus dem Kreis der rechtsnationalen Akademikerverbände entstand jedoch nicht.

Die FPÖ verlor Stimmen nicht wegen der Verstrickung ihres Führungspersonals in antisemitische und die Shoah leugnende oder verharmlosende Seilschaften. Helga Embacher: „Die FPÖ scheiterte letztlich nicht am Antisemitismus und Rechtsextremismus, sondern an der ‚Ibiza-Affäre‘ und Korruptionsanfälligkeit ihres Parteiobmanns.“ Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die FPÖ von diesen Stimmenverlusten mit der Zeit wieder erholt, die Umfragen im Herbst 2022 deuten darauf hin. Dies wiederum wirft ein erschreckendes Bild auf die Anfälligkeit großer Teile der österreichischen Bevölkerung für antisemitische Aus- und Ansagen, zeigt aber vielleicht auch nur, wie gleichgültig viele die Verstrickung Österreichs in die Shoah betrachten. Wie gesagt: das „Opfernarrativ“ wirkt fort.

Antiimperialistische Narrative

Der linke Antisemitismus in Österreich unterscheidet sich nicht grundlegend vom linken deutschen Antisemitismus. Stefan Grigat, der sich u.a. in dem bei Hentrich & Hentrich 2017 erschienenen Band „Iran – Deutschland – Israel“ mit der Verquickung antiimperialistischer, antizionistischer und linker Narrative befasst hat, schreibt: „Im Antizionismus der Linken wird jenes dichotomische antiimperialistische Schema, das jahrzehntelang die vorherrschende linksradikale Sicht auf globale Herrschaftsverhältnisse geprägt hat, auf die Situation im Nahen Osten angewendet.“ Bereits in den 1930er Jahren begegnen wir in der KPÖ dem Narrativ der „Gleichsetzung des Zionismus mit dem Nationalsozialismus“, ähnlich wie dies in BDS-Äußerungen an der Tagesordnung ist. Stefan Grigat verweist auf fragwürdige Äußerungen des Abgeordneten Peter Pilz (ehemals Grüne) sowie auf diverse antiimperialistische Gruppen, die Plakate mit dem Bild des Chefs der Hisbollah, Hassan Nasrallah, verbreiteten. Die Elemente der links-antisemitischen Narrative setzten sich fort bis hin zur Debatte um Achille Mbembe. Erst im Jahr 2021 distanzierte sich die KPÖ Graz, die in einem Bündnis mit SPÖ und Grünen die dortige Bürgermeisterin stellt, von diesen Narrativen und bekannte sich zum „Existenzrecht Israels“, das „für die KPÖ unantastbar“ sei (zitiert nach Stefan Grigat). Sie distanzierte sich auch von BDS. Welche Auswirkungen dies in der linken Szene Österreichs hat, bleibt abzuwarten.

Bezüge zu Israel finden sich immer wieder in den Medien. Florian Markl referiert antisemitische Narrative der österreichischen Medien. Gemeinsam mit Alex Feuerherdt hat er bei Hentrich & Hentrich mehrere Bücher zur BDS-Bewegung und zur Israel-Politik der Vereinten Nationen veröffentlicht. Ambivalenzen begegnet er in profil – ähnlich wie mitunter in Deutschland in der Süddeutschen Zeitung, dort vor allem in gelegentlichen Karikaturen. Selbst Heinz Fischer (SPÖ) ließ sich als Bundespräsident dazu hinreißen, der israelischen Reaktion auf den Beschuss aus Gaza im Jahr 2014 „extreme Unverhältnismäßigkeit“ zuzuschreiben (zitiert nach Florian Markl). Florian Markl weist darauf hin, dass Heinz Fischer der Luther’schen Umwertung der Formel „Auge um Auge“ folgte und sie als Aufforderung zur Rache unterstellte, obwohl es eigentlich darum ging, unverhältnismäßige Vergeltung auszuschließen und einen gerechten Ausgleich zu finden. Eine Metapher wurde in eine Handlungsanweisung umgedeutet. Heinz Fischer sagte: „Der alttestamentarische Grundsatz Auge um Auge ist überholt und gefällt mir nicht, aber vielleicht manchmal unvermeidbar. Aber auf der Basis ein Auge gegen 100 Augen wird ein Friedensprozess kaum gelingen.“ Dies ist natürlich keine antisemitische Aussage, wohl aber zeigt sie, wie wenig manchen Politiker*innen außerhalb Israels bewusst ist, was es bedeutet, wenn immer wieder Hunderte von Raketen aus Gaza oder aus dem südlichen Libanon auf Israel abgefeuert werden. Die meisten Raketen fängt der „Iron Dome“ glücklicherweise ab.

Antiimperialistische Narrative finden sich auch immer wieder in muslimischen Milieus. Mouhanad Khorchide betont in seinem Beitrag fehlende empirische Grundlagen, kann sich aber immerhin auf qualitative Studien berufen, beispielsweise eine auf Deutschland bezogene Studie von Stefan E. Hößl, deren Erkenntnisse sich auch durch andere Studien belegen ließen, sowie eine österreichische Studie mit dem Titel „Junge Menschen mit muslimischer Prägung in Wien“, die im Jahr 2017 erstellt wurde. Antisemitismus sei unter Muslim*innen unabhängig von ihrer Sozialisation verbreitet, hohe Ablehnungswerte gegenüber antisemitischen Aussagen gebe es allerdings bei Kurd*innen. Ob es Bewegung bei türkischen Gruppen wie beispielsweise bei Millî Göruş gebe, könne noch nicht abschließend bewertet werden. Im Hintergrund wirkt der Gründer dieser Vereinigung, Necmettin Erbakan, der sich „antisemitisch, antiwestlich und antidemokratisch“ positionierte, aber „es bleibt die Frage offen, inwieweit die neuen Generationen der Bewegung sich von den Positionen Erbakans verabschiedet haben, die im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen.“

In Bezug auf eine Studie des Religionssoziologen Detlef Pollack betont Khorchide, dass fundamentalistische Positionen, zu denen auch antisemitische Narrative gehören, für Jugendliche attraktiv sein könnten. Jugendliche bräuchten dringend „Gegenangebote zum Fundamentalismus. Es ist auch nicht ausreichend, sich von Antisemitismus zu distanzieren, ohne sich mit den theologischen Grundlagen auseinanderzusetzen, die für antisemitische Ideologien instrumentalisiert werden.“ Im Koran ginge es nicht um Juden an sich, sondern um politische Konflikte des 7. Jahrhunderts. Die Gefahr eines Transfers dieser Konfliktlage auf die heutige Zeit aber werde oft genug unterschätzt, auch die Moscheen trügen zu wenig zu einer Klärung bei: „Die Ergebnisse der Studie von Pollack lassen erahnen, dass die religiösen Angebote der Moscheen wenig mit der Lebenswirklichkeit junger Muslim*innen korrelieren.“ Dieses Ergebnis entspricht weitgehend dem Ergebnis einer Studie von Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan über Einstellungen junger Muslim*innen in der Jugendorganisation der DİTİB.

Gleichwohl – so auch Hasan Softić in seinem Beitrag zu muslimisch-bosnischen Communities in Österreich – bewirkt die Solidarisierung von Muslim*innen mit der arabischen und muslimischen Bevölkerung in Palästina wiederum – wie in anderen Ländern auch – antijüdische und antisemitische Einstellungen. Aus muslimisch-bosnischer Sicht ist das Massaker an über 8.000 Muslimen in Srebenica durchaus mit dem Holocaust vergleichbar. Der Islam spielt in diesem Kontext in der Regel eine untergeordnete Rolle, wohl aber die Unterdrückung einer muslimischen Minderheit bis hin zum Genozid.

Konjunkturen?

Letztlich ist die Forschungslage disparat. Bernadette Edtmaier konstatiert in ihrem Beitrag über antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen: „Selbst als repräsentativ geltende Studien können folglich nur Momentaufnahmen sein und teils starke Schwankungen im Zustimmungsverhalten aufweisen. Außerdem ist nicht gesichert, wie gut sich einige der verwendeten Items tatsächlich eignen, antisemitische Einstellungen zu messen.“ Ähnlich argumentiert auch Heinz P. Wassermann in seiner Auswertung von Umfragen der Zeit von 1973 bis 2020. Im Zeitverlauf scheinen die Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen zu sinken, andererseits handelt es sich bei den ausgewerteten Studien nicht um Längsschnittstudien, sie können methodisch auch nicht im Hinblick auf aktuelle Ereignisse kontextualisiert werden, sodass es letztlich spekulativ bleibt, ob und wie antisemitische Einstellungen in Österreich in Zukunft wieder reaktiviert werden könnten.

In der Unterhaltungsbranche schien die Einstellung vorzuherrschen, man möge doch in Ruhe gelassen werden. Dies schließt Klaus Davidowicz aus seiner Analyse des Nachkriegsfilms: „Die Shoah war eine filmische Tabuzone.“ Schauspieler*innen, die in der Nazi-Zeit reüssierten, konnten mehr oder weniger nahtlos ihre Karriere fortsetzen. Eine der wenigen Ausnahmen ist „Das andere Leben“, ein Film, der „auf der Novelle Der 20. Juli von Alexander Lernet-Holenia“ basiert. Es werden auch einige weitere Filme genannt, in denen durchaus Elemente einer Aufarbeitung erkennbar sind, auch wenn sich immer wieder die üblichen Klischees in der Darstellung von Jüdinnen und Juden beziehungsweise ihrer „arischen“ Landsleute finden. Ich denke aber, die Darstellung von Jüdinnen und Juden beziehungsweise von Antisemitismus im Film wäre durchaus einen eigenen Band wert. Der Essay von Klaus Davidowicz ließe sich als Grundlage nutzen.

Florian Markl kommt zu folgendem Schluss: mit der Waldheim-Affäre habe sich in Österreich einiges verändert. „nicht zuletzt auch in Debatten über die österreichische Beteiligung an den NS-Verbrechen und in einer gestiegenen Sensibilität im Hinblick auf Antisemitismus“. Inzwischen gebe es „den zweiten Formwechsel des Antisemitismus in der Zweiten Republik: die „‚Israelisierung‘ des Judenfeindschaft“. Dies gilt für Österreich ebenso wie für Deutschland und für andere Länder, in denen Bewegungen wie BDS ihr Unwesen treiben. Er beruft sich auf die Analysen von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz, die in ihrem Buch „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ (Berlin / Boston 2013) darauf hingewiesen hatten, dass sich mit einer „De-Realisierung“ der Verhältnisse in Israel antisemitische Stereotype wieder neu verbreiteten. „Dann wird auf die antisemitischen Stereotype zurückgegriffen, die seit Jahrhunderten tief im kulturellen Gedächtnis verankert sind.“ Monika Schwarz-Friesel hat ihre Forschungsergebnisse in ihrem Buch „Toxische Sprache – und geistige Gewalt“ (Tübingen, Narr Francke Attempto, 2022) zusammengeführt, ich habe sie in dem Essay „Mainstream Antisemitismus“ vorgestellt.

Antisemitische Stereotype haben in Österreich immer wieder Konjunktur. Ihr Auftreten ähnelt durchaus einer Achterbahnfahrt, mal verschwinden sie hinter diversen Distanzierungen und einer durchaus ernst gemeinten Aufarbeitung, mal tauchen sie – je nach Anlass – wieder auf und wiederholen sich, oft genug mit denselben alten Formeln, die wir schon seit Jahrhunderten kennen. Ben Dagan, dessen Beitrag den Band „Antisemitismus in Österreich“ abschließt, bleibt – auch in Bezug auf die Erkenntnisse von Samuel Salzborn zum „Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne“ (2010 bei Campus erschienen), zu Benedict Andersons „Imagined Communities“ (erstmals 1983 erschienen) sowie auf Shulamit Volkovs Begriff des „kulturellen Codes“ – skeptisch: „Noch dominiert das Tabu des Antisemitismus, das nicht zuletzt durch die Shoah unvermeidbar wurde. Es stellt sich vor diesem Hintergrund aber die Frage, ob die Masse an Umdeutungen, die in den Echokammern und in diesen Bewegungen beobachtet wird, dieses Tabu langfristig nicht so weit verwässert, dass es seine Wirkmächtigkeit verliert. / Der Antisemitismus bleibt dabei in seinem Kern immer der Gleiche, ebenso wie die Bedürfnisse, die mit der sich in dieser Ideologie niederschlagenden Wahnvorstellung befriedigt werden.“

Antisemitische Settings

Gibt es eine Sprache des Antisemitismus? Ruth Wodaks Forschungsgruppe verneint diese Frage, doch verweist ihre Antwort auf die Kontexte, in denen Antisemitismus erscheint: „Eine ‚Sprache des Antisemitismus‘ gibt es nicht. Vielmehr finden wir judenfeindliche Settings, und sie lassen sich eben nur aufgrund einer genauen kontextorientierten Analyse als vorurteilsbehaftet erkennen.“ Das Glossar im Anhang des Buches enthält eine Aufstellung antisemitischer Inhalte und antisemitischer Argumentationsstrategien. All diese werden auch von Monika Schwarz-Friesel, Samuel Salzborn, Shulamit Volkov und anderen beschrieben. Wesentlich ist – ganz im Sinne von Carl Schmitt – die Konstruktion eines Feindbildes. Ein solches wurde in den beiden Affären um Kurt Waldheim sowie um Friedrich Peter, Bruno Kreisky und Simon Wiesenthal aufgebaut. Eine empirische Grundlage ist dazu gar nicht erforderlich: „Vergleicht man die Realität der NYT (gemeint ist die New York Times, NR) mit der ‚Dichtung‘ in den österreichischen Medien, so ist man erstaunt: Vieles, was in Österreich zitiert und wiedergegeben wird, taucht in den amerikanischen Medien gar nicht auf! So wurde in Österreich und in den österreichischen Medien das Feindbild NYT und vor allem WJC (World Jewish Congress, NR) errichtet.“

Psychoanalytische Zugänge könnten helfen. Ruth Wodaks Forschungsgruppe benennt die „Angst vor der Rache der Juden“ als Movens, im Grunde eine Art der Flucht nach vorn, die erforderlich wurde, weil sich mit Kriegsende die Voraussetzungen verändert hatten. „Die Ideologie und ihre Propagierung, die Bürokratisierung und Versachlichung der Vernichtung und ihrer Opfer (in der Maschinerie und in der Sprache) – so die Argumentation – machte das totale Leugnen und Abschieben von Schuld möglich. Nach Kriegsende war dies nicht mehr möglich.“ Täter-Opfer-Umkehr, das österreichische Opfer-Narrativ sind die neue Strategie der Schulabwehr: „Wer fühlt sich jedoch schon gerne ständig schuldig? Wer lebt gerne ständig in Angst vor Vorwürfen oder sogar vor der Rückkehr der Opfer? ‚Angriff ist die beste Verteidigung‘, meint schon ein altes Sprichwort; Schuldgefühle wandeln sich in Aggression um, man verspürt Wut auf diejenigen, die einen angreifen, man reagiert abwehrend, defensiv oder mit Umkehr.“

Da kam die Moskauer Deklaration gerade recht. Sie machte „diese Umkehr besonders leicht“. Schaut her, die Alliierten haben gesprochen! Nur dauerhaft ist dies nicht. Elfriede Jelinek nutzt Bilder und Metaphern des Schauerromans und lässt die Ermordeten der Shoah als Tote in die Pension Alpenrose, ein Muster österreichischer Naherholung, österreichischen Fremdenverkehrs und österreichischer Selbstzufriedenheit, eindringen. Die Toten sind niemals auf immer tot, sie sorgen für Erinnerungen, die keine Gedenkveranstaltung und keine Verschiebung, beispielsweise auf die Genozide in anderen Ländern, zu verdrängen vermag. Was bleibt ist eine ständige (Be-)Drohung. Und hier ist Österreich in der Tat kein Einzelfall, sondern ein Paradigma, in dem offen auftritt, was in anderen Ländern vielleicht nur unter der Oberfläche brodelt, wie die Rückkehr der Toten in Elfriede Jelineks Roman. Es gibt den immer wieder zitierten und verschiedenen Autor*innen zugeschriebenen Satz, dass diejenigen, die sich nicht erinnern, gezwungen sind, die Geschichte zu wiederholen. Dann geschieht, was Elfriede Jelinek prophezeit: „Sie schlürfen uns aus, die Toten.“ Und so werden sie zu Vampiren, die wir selbst geschaffen haben: „Als wären wir endlos verurteilt, das, was wir sehen, auch selber zu werden.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Dezember 2022, Internetzugriffe zuletzt am 30. November 2022. Monika Schwarz-Friesel danke ich für den Hinweis auf das Buch der Forschungsgruppe um Ruth Wodak.)