Die verhandelte Einheit
Die unerzählte Geschichte der demokratischen DDR-Regierung
„Wir waren eine frei gewählte Regierung, wir vertraten ein völkerrechtlich anerkanntes Land. Wir waren nicht einfach nur eine Abwicklungsmasse, wie das hinterher oft der Tenor in der Öffentlichkeit war und Deutschland bis heute bei der Würdigung der Regierung immer noch durchschlägt, als ob wir sozusagen den Untergang der DDR repräsentierten. Wir leiteten aus dem Mandat von freien Wahlen einen Anspruch ab, der auf 40jährigen geschichtlichen Erfahren, aber auch aus weiter zurückliegenden fußte.“ (Hans Misselwitz, ehemaliger Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, in: Katharina Kunter / Johannes Paulmann, Hg., Die unbekannten Politikverhandler im Umbruch Europas – Zeitzeugeninterviews mit ausgewählten Staatssekretären der letzten DDR-Regierung 1990, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2023)
Das Thema weckt unterschiedliche Emotionen. Dies zeigt sich gerade an den Diskussionen der letzten Monate um die Bücher von Dirk Oschmann und Katja Hoyer. Aber auch wenn ich mit Menschen auf der Straße ins Gespräch komme, höre ich das, was auch ich denke, dass die deutsche Einheit die Glücksstunde in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ist, 45 Jahre nach den Kriegen und Schrecken, die wir als Deutsche über ganz Europa gebracht haben, wir als Deutsche vereint in Freiheit, das alles enthält diese Glücksstunde.
Ein falsches Narrativ
Gleichzeitig merken wir, dieses Gefühl kommt im Selbstgefühl vieler Deutscher nicht an, gerade auch in Ostdeutschland. Die Frage lautet, warum ist das so? Ich will und kann die Frage hier nicht beantworten. Sie steht auch nicht im Zentrum des heutigen Abends, weil die Konstellation schon sehr komplex ist. Stellen Sie sich aber vor, wir wären auf einem Kongress von Geschichtslehrern und wir würden dort die Frage stellen, warum nach dem 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, vier Wochen später der Runde Tisch beginnt, mit dem Ziel einer demokratischen Wahl in der DDR, warum vier Monate nach dem Fall der Mauer diese freie Wahl stattfindet und nicht etwa als gesamtdeutsche, wie die meisten vermuten würden, wenn sie die Gedenkreden der vergangenen 30 Jahre hören, sondern als freie und demokratische Wahl in der DDR.
Daraus ergibt sich die Frage: Wollten die Ostdeutschen unbedingt an der DDR festhalten? Wer den Wahlkampf in den Wochen vor dem 18. März 1990 verfolgt hat, wird das nicht glauben. Aber wer die Reden zum Gedenken an den 9. November 1989 hört, wird diese Frage nicht beantworten können. Und jemand, der heute zur Schule geht und davon im Unterricht hört, schon gar nicht. Ich habe die Geschichtsbücher nicht im Einzelnen analysiert, aber in diesen Reden hört man von den Hundertausenden auf den Straßen der DDR im Herbst 1989, man hört von dem „Fall der Mauer“ oder wie man oft auch hört von der „Öffnung der Mauer“, als hätte die SED die Mauer geöffnet. Dann folgt nach dem 9. November der Dank an den Kanzler Helmut Kohl, der die Deutsche Einheit gemacht habe. Das ist das übliche Narrativ, in dem die Ostdeutschen zum Objekt gemacht werden, zumindest für die Zeit nach dem 9. November 1989.
Ich erinnere mich an den 10. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1999. Damals hatte der Deutsche Bundestag eigentlich gar nicht vor, eine Veranstaltung zu machen. Dann war aber der amerikanische Präsident George H.W. Bush in der Stadt, er sollte die Ehrenbürgerschaft der Stadt erhalten. Die Berliner Senatskanzlei rief im Deutschen Bundestag an und fragte, was man plane, damit man die Verleihung der Ehrenbürgerschaft damit abstimmen könnte. Geplant war nichts. Dann beschloss jedoch der Ältestenrat des Deutschen Bundestages, eine Feier zu machen, vergaß aber, einen Redner einzuladen, der aus Ostdeutschland kam. Nach einiger öffentlicher Kritik hat man das nachgebessert und Joachim Gauck eingeladen, der eine launige und – wie ich finde – sehr schöne Rede gehalten hat.
Ich denke an den 9. November 2009. Wir waren mitten im Wahlkampf – die Wahl fand am 27. September 2009 statt – und ich hörte, dass zum 9. November Vertreter der Alliierten eingeladen waren, aus den USA, aus Großbritannien, aus Frankreich, aus der Russischen Föderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Man hatte jedoch nicht daran gedacht, jemanden aus Polen, Tschechien, Ungarn einzuladen. Ich habe damals Herrn Heusgen angerufen, den heutigen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, damals Berater von Angela Merkel, und heftig protestiert. Immerhin hat man etwas später Tadeusz Mazowiecki, den ersten nicht kommunistischen Ministerpräsidenten Polens, eingeladen, aber das Programm wurde nicht geändert. Es war dann so, dass am 9. November 2009 die Vertreter der Alliierten mit der Kanzlerin durch das Brandenburger Tor schritten und dass bei der Veranstaltung Mazowiecki, immerhin in der ersten Reihe sitzend, zuhören durfte, was die Politiker auf dem Podium erzählten, wie ihre Erfahrung mit der deutschen Einheit war. Am 9. November hatte keiner von denen, die auf dem Podium saßen, etwas mit dem zu tun, das damals, am 9. November 1989, geschah.
Man könnte die Reihe dieser Veranstaltungen fortführen, aber all dies ist geprägt von dem Narrativ, das ich eben beschrieben habe, dass Helmut Kohl die Deutsche Einheit gemacht hat, dass die Amerikaner ihn unterstützt haben, dass Gorbatschow dem zugestimmt hat. In der Urania, einem Ort, an dem man – wenn ich das sagen darf –den Eindruck haben kann, dass die Stadt heute noch getrennt ist, fand 2009 die Verleihung der Urania-Medaille an Hans-Dietrich Genscher statt, zu der Michail Gorbatschow die Laudatio gehalten hatte. Es wurde über die Einheit diskutiert, aber auch hier kamen Polen, Tschechien und Ungarn nicht vor.
Erfolgreich Demokratie gestalten – in der DDR
Man könnte noch vieles aufführen, aber was passiert da eigentlich in der Erinnerung, in den Köpfen, in dem, was geschrieben und erzählt wird? Mein Narrativ über die deutsche Einheit ist auf jeden Fall ein völlig anderes: Wir hatten im Herbst 1989 in der DDR eine friedliche Revolution, die nicht nur daraus bestand, auf die Straße zu gehen. Es gab politisches Handeln, es gab seit dem 4.Oktober 1989 eine Kontaktgruppe der Opposition, die versucht hat, politische Strategien zu entwickeln, wie man die Macht der SED brechen könnte und was dies konkret bedeutete, worauf man sich konzentrieren sollte. Diese Kontaktgruppe ergriff die Initiative, den Runden Tisch zu etablieren, um die freien Wahlen vorzubereiten und den Prozess der Transformation zu beginnen. Es gab die Hundertausende auf den Straßen, die den nötigen Druck erzeugten, damit die neuen demokratischen Parteien und Initiativen ernstgenommen wurden. Und die SED wagte es nicht, auf diese Menschen zu schießen. Ich habe den 9. Oktober 1989 selbst in Magdeburg erlebt. Ich bin heute noch sehr berührt davon, wenn ich daran denke. Im Magdeburger Dom waren wir zu etwa 6.000 oder 8.000 Menschen, ich kann das schlecht schätzen. Aber da war ein junger Mann, der nach vorne ging und eine Kerze aufstellte. Er sagte, er bete darum, seinen Vater heute nicht zu treffen. Der stehe dort unten bei den Kampftruppen und wenn man sich treffe, gebe es ein Blutbad. Sein Gebet wurde erhört. Nicht nur in Magdeburg, auch in Leipzig und in der ganzen DDR.
Daraufhin gab es vier Wochen, in denen für mich die Mauer ihre Schrecken verloren hatte. Ich lebte in der tiefen Gewissheit – man mag es für naiv halten – aber ich lebte in der tiefen Gewissheit: wir schaffen es, eine Demokratie in der DDR zu etablieren. Wir hatten die Sozialdemokratische Partei in der DDR gegründet, wir suchten Kontakt zueinander, in und mit den verschiedenen demokratischen Initiativen, dem Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch, Demokratie Jetzt und anderen mehr. Dann kam der 9. November. Auch da war ich in Magdeburg, mit Willi Polte, dem späteren Oberbürgermeister, in dessen Party-Keller, und wir bereiteten die regionalen Strukturen der Sozialdemokratischen Partei vor. Ich kam abends zurück nach Niederndodeleben, wo das Ökumenische Zentrum war, und ich sah die Bilder und sagte zu meiner Frau: Nun wird alles komplizierter.
Mir war sofort klar, dass ein Nacheinander, das ich bis dahin im Kopf hatte, erst die Demokratie, dann kümmern wir uns um die Einheit, nicht mehr aktuell war. Ganz Europa war in Wallung und in Bewegung. Die Einheit stand jetzt auf der Tagesordnung. Das hieß aber auch, da müssen viele mitreden. Damit bin ich bei folgenden Fragen: Warum nach dem Fall der Mauer noch ein Runder Tisch, warum nach dem Fall der Mauer eine freie Wahl? Die Antwort: Natürlich gerade weil die deutsche Einheit auf der Tagesordnung steht, muss diese verhandelt werden! Und wer sollte die verhandeln? Doch nicht die SED, die wir nicht gewählt hatten.
Das Ziel, das wir vorher hatten, die Priorität der Demokratie in der DDR, blieb auch nach dem 9. November 1989 notwendige Priorität, weil wir erst eine Regierung brauchten, die das Mandat hat, solche Verhandlungen zu führen. Und genau das ist passiert. Strukturell hätte es kaum besser laufen können. Eine friedliche Revolution puscht die kommunistische Herrschaft weg, ein Runder Tisch mit den Übergangsverhandlungen hin zu einer wirklich freien Wahl, denn wir konnten von der nicht demokratisch gewählten Volkskammer ja nicht erwarten, dass diese ein demokratisches Wahl- und Parteiengesetz macht. Das musste ausgehandelt werden. Und dann die freie Wahl mit einem frei gewählten Parlament, einer frei gewählten Regierung, die die Einheit verhandeln konnte, weil die Mehrheit der Ostdeutschen dies wollte. In diesem Sinne lief alles wunderbar. Es wurde eine verhandelte deutsche Einheit. Nur darüber kann man nichts lesen. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen dieses Narrativ schon einmal irgendwo gelesen hat. Ich behaupte nein.
Natürlich gibt es neben diesem idealtypischen Narrativ auch die anderen Erfahrungen, was dann konkret in diesen Verhandlungen passiert ist. Die Aufgabe der Regierung war natürlich, sofort mit den notwendigen Transformationen zu beginnen, um ein demokratisches Staatswesen auf den Weg zu bringen, eine Riesenaufgabe. Dazu gehörte dann sofort auch die Einführung der Länder, eine Forderung, die wir schon 1989 im Aufruf zur Parteigründung formuliert hatten, um eine entsprechende Identifikation der Bürger der DDR zu erhalten. Dass die deutsche Einheit möglich werden würde, glaubten wir damals noch nicht. Auf der einen Seite ging es um eine Transformation zur Demokratie, auf der anderen Seite um die notwendigen Verhandlungen über die deutsche Einheit.
Bis heute kommt jedoch der zweite Verhandlungspartner, die demokratische DDR, im öffentlichen Narrativ nicht vor. Sie kommt nicht als Subjekt der deutschen Einheit vor. Damit kommt auch nur selten vor, dass auch nach dem Herbst 1989 die Ostdeutschen Subjekt des Prozesses waren. Das halte ich für die zentrale Frage des Narrativs der Deutschen Einheit. Wenn es darum geht, wer die Deutsche Einheit gemacht hat, sage ich, sie war eine verhandelte Einheit zwischen zwei gleichermaßen demokratisch legitimierten deutschen Regierungen, parallel dazu auf der internationalen Ebene zwischen diesen beiden Regierungen und den Alliierten, um dann auch die Souveränität des vereinigten Deutschlands sicherzustellen. Ich bin kein Historiker und wäre dankbar, wenn mir jemand nachweist, dass ich etwas nicht richtig beobachtet habe.
Die kurze Geschichte der demokratischen DDR
Die kurze Geschichte der demokratischen DDR zwischen März und Oktober 1990 ist eine ungeschriebene Geschichte. Zu den Positionen dieser demokratischen Regierung gibt es keine Dokumentensammlung, die versucht, die Beiträge der verschiedenen Mitglieder der Regierung mit den Reden, mit den Protokollen und Konzepten darzustellen und diese demokratische Regierung damit als Subjekt ernst zu nehmen. Fehlanzeige bis heute. Hier frage ich mich schon, warum das so ist. Nach meiner Interpretation hat Helmut Kohl die Jahre bis 1998 weidlich genutzt, um – wie ich es sagen würde – den Mythos vom Kanzler der Deutschen Einheit so fest zu etablieren, dass er auch als dieser in die Sicht der deutschen Historiker eingegangen ist.
Ich bin nun der letzte, der bestreitet, dass Helmut Kohl wichtige Verdienste für die Deutsche Einheit hat. Mitnichten. Nur sehe ich sie woanders als sie sonst gesehen werden. Aus meiner Sicht war das wichtigste Verdienst Helmut Kohls, die anderen EU-Mitgliedsstaaten davon zu überzeugen, dass es keiner besonderen Verhandlungen bedarf, um die DDR als Teil des geeinten Deutschlands in die EU zu integrieren. Er wies konsequent darauf hin, dass die Verträge diese Zusage schon enthielten und dies nun umgesetzt werden müsse. Gleichzeitig wollte er wiederum verhindern, dass wir als Regierung der demokratischen DDR im Rahmen der Europäischen Union mit eigener Stimme verhandelten.
Anfang 1990 kam der Gedanke auf, dass der Art. 23 GG die einfachste rechtliche Möglichkeit wäre, die Einheit zu vollziehen – nämlich als Beitritt. Darüber gab es lange Diskussionen und wir traten bis zur Wahl dafür ein, dass die beiden deutschen Staaten nach Art. 146 GG Einigungsverhandlungen führen sollten.
Harald Ringsdorff, der spätere Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, setzte sich im Februar 1990 für diesen Weg zur Einheit ein. Ich stellte dann in einer Vorstandssitzung der SPD dar, was alles im Rahmen der Einheit verhandelt werden müsse, um die Einheit zu vollziehen. Mit Rolf Schmachtenberg hatten wir das erarbeitet. Die Pointe war: Dies alles muss entschieden werden – und nach unserer Überzeugung muss es ausgehandelt werden. Gibt es keine Verhandlungen, sondern nur einen Beitritt, dann entscheidet darüber der Bundestag, den wir nicht gewählt haben. So bestanden wir dann nach der Wahl, als die Mehrheiten entsprechend waren, dass die Einheit zwar nach Art. 23 als Beitritt vollzogen wird, aber erst nach Verhandlungen und damit auf der Grundlage eines Vertrages. Das wurde dann der Einigungsvertrag. In den Verhandlungen – das lässt sich in den Protokollen nachlesen – stellte allerdings Wolfgang Schäuble auch die Frage, warum sich die Bundesrepublik verändern solle, denn die Ostdeutschen wollten ja beitreten. Dass sich auch in den Rechtsstrukturen der Bundesrepublik etwas ändern könnte, wurde nicht wirklich ernst genommen.
All dies ist dann durchaus auch ein Problem. Wir haben in den Verhandlungen an manchen Stellen feststellen müssen, dass wir nicht wirklich ernst genommen wurden. Ich nenne als Beispiel den Abzugsvertrag der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der DDR. Im Kaukasus war vereinbart worden, dass es einen Rückzugsvertrag geben sollte, zwischen der Bundesrepublik in Absprache mit der DDR-Regierung und der Sowjetunion. Als wir dann in der zweiten Julihälfte 1990 diesen Vertrag verhandeln wollten, wurde uns mitgeteilt, wir wären draußen, es gebe eine Weisung aus dem Kanzleramt, wir würden nicht beteiligt. Obwohl es sich um Truppen auf unserem Gebiet handelte! Diejenigen, die den Abzug dann verhandelt haben, wussten über die konkreten Bedingungen nichts. Es sollte Zahlungen an die Sowjetunion für den Wert der Gebäude geben. Man einigte sich auf eine feste Summe – und von dieser sollten dann die Umweltschäden abgezogen werden. Eine wunderbare Aufforderung an die Sowjetunion, diese Umweltschäden so weit als möglich zu verstecken. Was wir heute in den Wäldern an Munition finden, was wiederum bei Waldbrand den Einsatz der Feuerwehr behindert, ist ein Ergebnis solcher Verhandlungen.
Ein anderes Beispiel ist etwas, das mich in den letzten beiden Jahren immer wieder geärgert hat, angesichts der Veranstaltungen im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Wolfgang Schäuble erklärte im Jahr 2021 in seiner Gedenkrede zum Holocaust-Tag, die Bundesregierung habe in Verantwortung vor der deutschen Geschichte und vor dem jüdischen Volk sowjetische Juden und Jüdinnen eingeladen, nach Deutschland zu kommen. Dafür habe man die Regelung der Kontingentflüchtlinge geschaffen. Das ist Geschichtsfälschung. Die Initiative zur Einladung an die Juden in der Sowjetunion entstand ein Jahr vorher. Urheber war der Jüdische Kulturverein in der DDR. Am 12. Februar 1990 beschloss der Runde Tisch eine solche Einladung, vorerst noch ohne Folgen. Wir haben dann in der Volkskammer am 12. April 1990 eine Erklärung verabschiedet, weil wir uns als demokratische DDR in die Verantwortung und Schuldgeschichte der Deutschen stellen wollten, was die SED nie getan hatte, in der wir unter anderem diese Verantwortung gegenüber dem Jüdischen Volk ausgesprochen haben. In diesem Kontext haben wir mit einer ganz großen Mehrheit sowjetische Juden und Jüdinnen in die DDR eingeladen. Später gab es dann einen Ministerratsbeschluss. Es gab Proteste der Bundesregierung, die dies nicht wollte. Nach meinem Rücktritt am 20. August 1990 gab es einen Brief des Staatssekretärs von Wolfgang Schäuble, der versuchte, das zu verhindern, aber es war nicht mehr zu verhindern.
Am 3. Oktober 1990 waren etwa 2.000 bis 3.000 Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion im vereinigten Deutschland. Man begriff, dass man sie nicht wegschicken konnte. Es folgte eine Debatte im Deutschen Bundestag im Herbst 1990 und dann 1991 ohne großes Aufheben die sogenannte Regelung der „Kontingentflüchtlinge“, indem man eine Regelung, die man für die vietnamesischen Bootflüchtlinge geschaffen hatte, praktisch anwandte. Sie enthielt aber nicht die Frage der Staatsbürgerschaft, die man – wenn es um wirkliche Verantwortung gegangen wäre – auch hätte berücksichtigen müssen. Ich kann nur sagen, dass unsere Einladung vom Sommer 1990 zu einem großen Segen für Deutschland wurde, dass über 200.000 Jüdinnen und Juden nach Deutschland kamen und zu einem breiten und pluralen jüdischen Leben in Deutschland geführt haben. Das hatte seinen Hintergrund und seine Wurzeln in der letzten Phase der demokratischen DDR. Dass dies nicht richtig wahrgenommen wird, zeigt, dass wir neu über die Narrative der deutschen Einheit nachdenken müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass überhaupt erst einmal wahrgenommen wird, dass es noch eine demokratische DDR gab, die nicht Objekt, sondern Subjekt eines von ihr mitgestalteten Einheitsprozesses war.
Die Rechte der Ostdeutschen
Mir ist es wichtig, dass die vielen Geschichten der Demokratisierung in der DDR und der demokratischen DDR wahrgenommen werden. Die unterschiedlichen Erfahrungen ergeben jedoch eine Linie. Wir mussten damals in der Regierung die Erfahrung machen, was es heißt, für die sozialen Rechte der Ostdeutschen einzutreten. Eine Symbolfigur ist Regine Hildebrandt. Gleichzeitig gilt es daran zu erinnern, dass viele DDR-Bürger damals die Verhandlungen gar nicht wollten. Sie hielten das für Zeitverschwendung und Verzögerung. Sie wollten eine schnelle Einheit, weil sie glaubten, damit auch schnell den Wohlstand des Westens zu bekommen.
Die schnelle Einheit als Weg zum schnellen Wohlstand war natürlich auch ein Zeichen von Naivität. Ich habe erlebt, dass vor dem 18. März 1990 auf einer Wahlveranstaltung ein älteres Ehepaar Willy Brandt erklärte, sie müssten diesmal die CDU wählen, denn die habe das Geld. Sie haben wiederholt, was sie in der Schule gelernt hatten. Dort hatten sie gelernt, da sind die Kommunisten, die stehen auf der richtigen Seite, die CDU ist die Partei des Kapitals, die SPD, das sind die Verräter der Arbeiterklasse. Und wenn man die Kommunisten nicht mehr will, dann will man die, die das Geld haben, also die CDU. Dass die CDU darüber hinaus auch noch den Kanzler stellte, spielte eine Rolle, obwohl der am 18. März 1990 gar nicht zur Wahl stand. Es war im Grunde klar, es wurden die Parteien gewählt, die in der Bundesrepublik die Regierung stellten, weil man von dort die eigentliche Hilfe erwartete. Man erwartete sie nicht von der eigenen Regierung, die sich für die Rechte der Ostdeutschen einsetzte.
Zu den unterschiedlichen Perspektiven gehörten damals eben auch Naivität und Missverständnisse. Mir geht es um ein differenziertes Bild dieses komplexen Prozesses, das die großen Linien nicht aus dem Auge verliert. Ich behaupte nach wie vor, die deutsche Einheit war eine verhandelte Einheit, die den Rechtsweg des Beitritts nahm, weil die Mehrheit dies wollte und dies der einfachste Weg war. Ich bin am Anfang für eine Einheit nach Art. 146 GG eingetreten, aber dieser Wunsch erwies sich unrealistisch. Heute brauchen wir den Art. 146 GG nicht mehr. Ich habe daher im September 2023 seine Streichung vorgeschlagen, die Vorläufigkeit des Grundgesetzes zu beenden und es offiziell zur dauerhaften Verfassung zu erklären. Damit würden wir uns als Deutsche vergewissern, dass das Grundgesetz eine hervorragende Grundlage unserer Gesellschaft ist, auf Dauer! Dies wäre auch ein wichtiges Signal gegen die Feinde der Demokratie. Sie sind laut, aber sie sind nicht die Mehrheit.
Zurück zum Einigungsvertrag: Der interessanteste Punkt des Einigungsvertrags ist der zum § 218 Strafgesetzbuch. Dies wurde ganz am Schluss verhandelt. Wer verhandelte den eigentlich? Das war schon nicht mehr allein das Ergebnis der Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung der DDR. Die Situation im Westen hatte sich verändert. Gerhard Schröder gewann am 13. Mai 1990 die Wahl in Niedersachsen, die Bundesregierung hatte keine Mehrheit mehr im Bundesrat, Kohl brauchte aber die SPD, um eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat zu bekommen. Und die West-SPD hatte in diesem Punkt eine andere Auffassung als die von der CDU geführte Bundesregierung. Ende August war man auf einmal bereit, echte Verhandlungen auf Augenhöhe zu führen, mit der West-SPD. So wurde plötzlich möglich, was in den Verhandlungen sonst nicht akzeptiert worden war. Man einigte sich, da man sich in der Sache nicht einigen konnte, dass diese Frage durch eine Gesetzgebung im Bundestag innerhalb von zwei Jahren geklärt wird – und bis dahin die jeweilige Regelung in Ost und West erhalten bleibt. So entstand dann die neue Regelung zum Schwangerschaftsabbruch nach einer verpflichtenden Beratung.
Es war die einzige Frage, in der sich auch für die Bundesrepublik etwas veränderte.
Ein paar Sätze zur NATO
Unterschiedliche Ansichten gibt es zu der Frage, ob es 1990 Zusagen gegeben habe, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Ich war im Jahr 1990 sehr skeptisch gegenüber der NATO, auch angesichts der noch 1989 geplanten Modernisierung von Kurzstreckenwaffen, die nur bis Ostdeutschland reichten, eine Modernisierung, für die sich Frau Thatcher einsetzte, gegen die sich aber auch Hans-Dietrich Genscher aussprach.
Bei einem Besuch mit Staatssekretär Hans Misselwitz im März 1990 in den USA hatte ich den Eindruck, dass es für die Amerikaner, ob Republikaner oder Demokraten, klar war, dass das vereinigte Deutschland als Ganzes in die NATO gehörte. Wir hofften auf gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen, wollten aber auch die NATO verändern. Nach dem NATO-Gipfel im Juni 1990 in London wurde ich kritisiert, weil ich sagte, die Reform gehe nicht weit genug. Davon war ich überzeugt. Aber es gab Vorbereitungen, gemeinsam mit Polen und der Tschechoslowakei, um den Prozess der KSZE voranzubringen. Es gab Versuche, Strukturen für eine gesamteuropäische Sicherheit zu schaffen. Daher haben wir der NATO-Mitgliedschaft zugestimmt. Ich habe die weiteren Entwicklungen der NATO ab 1991 selbst als Abgeordneter erlebt und wurde zunehmend zu ihrem Befürworter, weil hier Sicherheit eben nicht mehr national, sondern in integrierten Strukturen gewährleistet wird.
Ich halte die NATO-Osterweiterung nicht für ein gebrochenes Versprechen gegenüber Russland. Es gab bilaterale Gespräche, auch Zusagen, auch von Genscher, dass man eine Erweiterung der NATO nicht zu seinem Vorteil verwenden wollte. Damals ging es aber ausschließlich um das Gebiet der DDR.
So habe ich mich früh für die Nato-Mitgliedschaft der neuen Demokratien Ostmitteleuropas eingesetzt – und auch der baltischen Staaten, weil ich der Meinung bin, dass wir, gerade im Hinblick auf den Hitler-Stalin-Pakt, eine deutsche Verantwortung für die Sicherheit dieser Staaten haben. Damals war auch noch die eigene Bundesregierung dagegen. Über viele Jahre habe ich mich im Bundestag sehr kritisch mit der von der Mehrheit vertretenen Russlandpolitik Deutschlands auseinandergesetzt.
Selbstbewusst streiten: für Anerkennung und gegen Geschichtsfälschung
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass in meinen Augen das Narrativ zur deutschen Einheit neu diskutiert werden muss. Die Ostdeutschen waren damals nicht Objekt des Handelns anderer, sondern wichtige Akteure. In einer friedlichen Revolution, die eingebettet war in eine mitteleuropäische, wurde das kommunistische Regime gestürzt. Am Runden Tisch wurde der Übergang zur freien Wahl friedlich ausgehandelt. Mit einer frei gewählten Regierung gab es ab April 1990 eine legitimierte Regierung, welche mit der Bundregierung und den Alliierten die deutsche Einheit aushandelte, welche dann am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. So war dieser Weg in die Einheit ein selbstbestimmter Weg der Ostdeutschen in die Einheit.
Gewiss gibt es nachträglich viel zu kritisieren – doch muss dies differenziert und aufgrund von Fakten geschehen. Hier von Kolonisierung zu reden, ist jedenfalls nicht angemessen.
Markus Meckel, Berlin
(Anmerkungen: Der Text beruht auf Vortrag und ergänzenden Anmerkungen von Markus Meckel in der Veranstaltung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur „Über unsere Köpfe hinweg? Zum Narrativ der deutschen Einheit“ vom 26. September 2023. Markus Meckel, Ratsvorsitzender der Bundesstiftung Aufarbeitung und 1990 Außenminister der DDR, diskutierte nach seinem Impulsvortrag mit Petra Erler, 1990 Staatssekretärin für Europa-Fragen, Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, und Katharina Kunter, Universität Helsinki. Das Gespräch wurde von Johannes Paulmann, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, moderiert.
Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im Oktober 2023, Internetzugriffe zuletzt am 20. Oktober 2023. Das Titelbild zeigt die Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung der demokratischen DDR-Regierung nach den Wahlen vom 18. März 1990, von links nach rechts: Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Lothar de Maizière, Hans-Wilhelm Ebeling, Rainer Ortleb. Foto: Klaus Obst. Bundesarchiv 183-1990-0412-019. Wikimedia Commons.)
Zum Weiterlesen: Markus Meckel im Demokratischen Salon:
- Für ein Forum Opposition und Widerstand in SBZ und DDR – Kritische Anmerkungen zu Prozess und Machbarkeitsstudie (gemeinsam mit Peter Steinbach).
- Zeitenwende – Vom alten Denken zur neuen Politik – Markus Meckel am 12. Novemer 2022 in der Evangelischen Akademie Tutzing.
- Deutsche Einheit in Europa – für Europa – Markus Meckels Festrede vom 3. Oktober 2022 im Dom zu Brandenburg.
- „Zu wandeln die Zeiten“ – Gespräche mit Markus Meckel (darin auch zu seiner Autobiographie „Zu wandeln die Zeiten“, Leipzig, Europäische Verlagsanstalt, 2020).