Ein philosophisches Genre

Lukas Dubro über Science Fiction aus China

„Zwei Atomkriege in nur 30 Jahren hatten fast alles vernichtet. Trotzdem konnten sie die Welt ein weiteres Mal aus den Ruinen heben, und fürchteten fortan ihre eigenen Fähigkeiten. / Wir sind so mächtig, dass ein einziger Mensch die Welt zerstören kann, sagte Ruian. / Wir sind so impulsiv, dass ein einziger Streit einen Krieg auslösen kann, sagte Kyoko Yamashita. / Wir können die wahren gewalttätigen Neigungen in unseren Seelen nicht bändigen und lassen unsere Aggressionen auf andere niederprasseln. Es wäre also das Beste, wenn wir uns voneinander fernhalten würden, sagte Aixiia.“ (Chi Hui, Der Algorithmus des Artifiziellen, in: Chi Hui, Das Erbe der Menschheit und andere Geschichten, Augsburg, MaroVerlag, 2022)

Kapsel No. 5. Cover: Marius Wenker. Weitere Informationen des Verlags erhalten Sie mit einem Klick auf das Bild.

Science Fiction aus China wird in der Regel mit Cixin Liu verbunden, dessen Trisolaris-Romane inzwischen auch verfilmt wurden. Eine erste Staffel erschien bei Netflix unter dem Titel „The Three Body Problem“, die zweite ist angekündigt. Aber es gibt in China noch viel mehr zu entdecken. Es ist das Verdienst eines jungen Teams, Lukas Dubro, Felix Meyer zu Venne, Chong Shen, Marius Wenker und Konrad B. Winkler, junge und aktuelle Autor:innen der chinesischen Science Fiction in der deutschen Öffentlichkeit bekannter zu machen. Vier Ausgaben der „Kapsel“ erschienen bei „Fruehwerk“. Seit 2022 wird die Zeitschrift „Kapsel“ im MaroVerlag veröffentlicht. Dort erscheinen auch weitere Bände mit Erzählungen, die ebenso wie die Zeitschrift alle nicht nur literarisch, sondern auch künstlerisch ausgesprochen kreativ gestaltet werden, zuletzt im Oktober die Sammlung „Im Ozean ein Mutterschiff“ von Gu Shi, zuvor im Jahr 2023 die Sammlung „Das Erbe der Menschheit“ von Chi Hui, und Anfang des Jahres 2025 die dritte Auflage der Anthologie „Sechs Geschichten von heute über morgen“ mit unter anderem Xia Jia, Regina Kanyu Wang und Qiufan Chen. Alle Ausgaben der „Kapsel“ erscheinen zweisprachig, deutsch und chinesisch.

Fritz Heidorn hat im Demokratischen Salon die chinesische Science Fiction in europäische und US-amerikanische Traditionen eingeordnet. Der Titel seines Essays „Der chinesische Spiegel“ zeigt bereits, dass die in der Science Fiction verhandelten Utopien und Dystopien sich weltweit ähneln, ungeachtet ihrer jeweils individuellen literarischen Gestaltung, mitunter transponiert in ferne Welten, oft genug auch als fast schon unabweisbar erscheinende Verlängerung des Heutigen in eine gar nicht so ferne Zukunft: Klimaschutz, Plastikmüll in den Meeren, künstliche Intelligenzen, die nach allen wissenschaftlich begründeten Wahrscheinlichkeiten durch das Eingreifen des Menschen selbst gefährdete Zukunft der Menschheit. Die zu Beginn zitierte Szene der Erzählung von Chi Hui mündet in die vielleicht grundsätzliche Frage, die wir Menschen uns angesichts der absehbaren Möglichkeiten, Risiken und Wahrscheinlichkeiten einer Welt, in der perfektionierte Artifizialität uns Menschen optimieren oder gar ersetzen könnte, stellen müssen: „Sind wir dann … noch Menschen?“ Eben diese Frage prägt auch die chinesische Science Fiction. Anlass genug, sich mit einem der Macher:innen der Publikationen der „Kapsel“ ausführlicher zu unterhalten.

Chinesische Science Fiction – eine höchst lebendige Szene

Lukas Dubro, Foto: Yanina Isla.

Norbert Reichel: Wie ist das Kapsel-Projekt entstanden und wie haben Sie die Autor:innen aus China, deren Erzählungen Sie veröffentlichen, entdeckt?

Lukas Dubro: Es war eine Folge von Zufällen. Ich habe Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität in Berlin studiert. Dort wird man sehr praxisnah an die Literatur herangeführt. Mit Marius Wenker, der unsere Kapsel-Hefte gestaltet, hatte ich bereits ein Fanzine über den Berliner Pop-Unterground gemacht, das „Cartouche“ hieß. Zu diesem Zeitpunkt las ich sehr gerne Science Fiction. Ich habe auch immer Sinologie studieren wollen, aber leider wegen des sehr hohen NC keinen Studienplatz erhalten, konnte aber wenigstens in einem Bachelor-Grundkurs ein wenig Chinesisch lernen. Hinzu kam, dass ich mich für chinesische Literatur interessierte und dass es so viele Möglichkeiten gab, günstig zu den abenteuerlichsten Themen zu publizieren. Und so kam ich auf die Idee, eine Zeitschrift für chinesische Science Fiction herauszugeben.

Als wir im Jahr 2015 mit der „Kapsel“ anfingen, gab es noch keine Übersetzungen chinesischer Science Fiction. Die deutschen Übersetzungen von Cixin Liu erschienen erst ab dem Jahr 2016 bei Heyne. Ich war  kein Experte für chinesische Literatur und somit auch nicht für chinesische Science Fiction. In der Mensa lernte ich über einen Freund aus dem Chinesisch-Kurs Chong Shen kennen, der sich von Anfang an bis heute an der Übersetzung der Texte beteiligt und damals auch bei der Konzeption und der Recherche half. Der nächste Zufall war, dass es zu diesem Zeitpunkt an der FU ein Seminar gab, geleitet von Frederike Schneider-Vielsäcker, die sich mit chinesischer Science Fiction befasst.

Ich hatte Chong damals gebeten, einen „Hilferuf“ abzusetzen, um eine chinesische Science-Fiction-Autorin zu finden. Das haben wir über Douban, das größte soziale Netzwerk für Buch-, Film- und Musikliebhaber in China, getan, wir wollten ein Magazin machen, könnte uns jemand eine Geschichte vorschlagen? Über Douban meldete sich dann eine Userin, die Mitglied eines Science-Fiction-Clubs in Shanghai war, den Regina Kanyu Wang mitgegründet hatte. Regina Kanyu Wang haben wir später in der sechsten Ausgabe der „Kapsel“ mit der Erzählung „Zhurong auf dem Mars“ ein eigenes Heft gewidmet. Die Userin sagte, sie habe gerade eine Arbeit über Chi Hui zu dem Thema Utopien in der Science Fiction geschrieben. Sie empfahl uns eine Geschichte von Chi Hui, die auch in „Das Erbe der Menschheit“ vorkommt: „Das Insektennest“. Wir haben dann den Kontakt zu Chi Hui hergestellt und sie für unsere erste Ausgabe über den Messenger QQ interviewt. Frederike half uns bei der Auswahl der Texte.

Felix Meyer zu Venne in Chengdu. Foto: Kapsel.

Ich muss noch eines ergänzen: Ich fliege nicht, weil ich Angst davor habe. Über die Science Fiction und das Kapsel-Projekt hatte ich dann die Möglichkeit, China zu mir zu holen. Mir war gar nicht bewusst, was für ein Fenster ich damit geöffnet habe. Auf die erste Ausgabe gab es viele positive Reaktionen. Sie erschien damals noch nicht bei MaroVerlag, sondern bei „Fruehwerk“. Das war ein weiterer Zufall: Unser erster Verleger Ruben Pfizenmaier von Fruehwerk saß damals neben mir im Chinesischkurs. Und dann gab es noch den, dass über einen Freund Felix Meyer zu Venne als Übersetzer hinzukam. Er war damals gerade in China und traf sich mit Xia Jia, einer anderen in China sehr bekannten Science-Fiction-Autorin. Und schon hatten wir eine Geschichte für die zweite Ausgabe der „Kapsel“. Felix, der gerne und viel nach China fliegt, kennt dort inzwischen viele tolle Autor:innen. Im Jahr 2023 war er auf der WorldCon in Chengdu. In Chengdu gibt es sogar ein riesiges ScienceFiction-Museum mit einer beeindruckenden Architektur. Felix schickte mir ein Selfie nach dem anderen – immer anderen Autor:innen, die wir schon in der Kapsel hatten oder haben wollten.

Das erste Heft der „Kapsel“ erschien 2017 (es ist leider vergriffen). Damals nahmen wir an der „Miss Read“ teil, einer Messe für Independent Publishing. Da saß auf einmal Sarah Käsmayr neben mir – ein weiterer toller Zufall. Daraus entstand eine Freundschaft. Seit 2017 beteiligt sie sich als Lektorin und als Freundin, gibt uns regelmäßig Tipps und Ratschläge, auch Korrekturvorschläge. Irgendwann kam die Idee, die „Kapsel“ beim MaroVerlag zu veröffentlichen. Bei „Fruehwerk“ erschienen die ersten vier Ausgaben, seit 2022 erscheinen „Kapsel“ und die Erzählbände bei Maro.

Wir haben inzwischen ein gutes Netzwerk in Deutschland und in China. Mehrere Autor:innen hatten wir auch schon zu Gast in Berlin. Ich hätte mir damals, als wir mit „Kapsel“ losgelegt haben, in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass es so weit kommen könnte. Dass das alles gelang, ist eigentlich auch schon selbst eine Science-Fiction-Geschichte – und allen zu verdanken, die mit ihrer großartigen Arbeit und Expertise zu der Zeitschrift beigetragen haben.

Norbert Reichel: Wie verbreitet ist Science-Fiction-Literatur beziehungsweise utopische Literatur in China? Die WorldCon, das Museum deuten auf ein großes Publikum hin.

Lukas Dubro: Die Szene in China ist sehr lebendig. Über den internationalen Erfolg von Cixin Liu wurde die chinesische Science Fiction in China fast über Nacht über die Science Fiction-Kreise hinaus bekannt und schaffte damit Zugang zu einem immer breiter werdenden Publikum. Durch Cixin Liu begeistern sich viele Leser:innen für Science Fiction. Die im Jahr 1979 gegründete Science Fiction World hatte einmal eine Auflage von um die 400.000 Exemplaren. Es gibt viele Leute, die schreiben, überall Fanclubs. Gleichwohl ist Science Fiction nach wie vor eine Nische, wenn auch die Szene wächst. Charakteristisch für die Szene in China ist, dass die Anhänger:innen im Vergleich zu anderen Ländern deutlich jünger sind. 

Das ist eine Art von „geweckt werden von außen“ und spricht auch dafür, dass dieses Genre per se international vernetzt ist.

Utopien, Dystopien, Kontroversen und Konflikte

Norbert Reichel: Die Geschlechterverteilung ändert sich zurzeit auch in Europa, es sind eben nicht nur Männer, in Deutschland beispielsweise Theresa Hannig, Zara Zerbe, Patricia Eckermann oder Aiki Mira, deren Romane sich durchaus im Sinne von Ursula K. Le Guin weiter fassen lassen, nicht nur als Science Fiction, sondern als Speculative Fiction. Es geht eben nicht nur um Entwicklungen durch Technologie und Wissenschaft, sondern auch um Entwicklungen in Gesellschaft und Politik. Ich bin ganz zuversichtlich, dass sich die männliche Dominanz unter den Autor:innen auch bei uns langsam auflösen wird.

Eine der sechs Geschichten ist die von Xia Jia über Drachenpferd. Covergestaltung: Marius Wenker, Illustration: Claudia Schramke. Weitere Informationen des Verlags erhalten Sie mit einem Klick auf das Bild.

Lukas Dubro: Unter den erfolgreichen Autor:innen in China sind viele Frauen. Die Autor:innen, mit denen wir arbeiten, haben alle sehr unterschiedliche Stile. Bei Xia Jia gibt es eine Fülle fantastischer Elemente, sodass man ihre Erzählungen gar nicht unbedingt als Science Fiction-Geschichte liest. Es fliegen Inseln in den Wolken, es gibt keine Menschen mehr, es gab irgendeine Katastrophe, aber die wird nicht weiter ausgeführt. Eine ihrer Geschichten wurde von einem Holzpferd inspiriert. In Nantes, der Stadt, in der Jules Verne geboren wurde, stehen um eine Halle herum viele Holzfiguren, darunter auch eine Art Drachenpferd. Daraus machte Xia Jia eine Geschichte: Ein Drachenpferd wacht in einer Welt ohne Menschen auf, lernt eine Fledermaus kennen, mit der es sich dann Geschichten aus der Welt erzählt, in der es noch Menschen gab. Eine eher nostalgische Geschichte, durchaus typisch für die Geschichten von Xia Jia.

Norbert Reichel: Und zugleich ist die Geschichte wie es sich für Science Fiction gehört eine technologisch-futuristische Vision. Ich darf eine kurze Passage aus der Erzählung „Nachtstreifzug des Drachenpferds“ zitieren: „Was sind das alles für gute Geister und Dämonen? Sie kommen in allen erdenklichen Formen, Farben, Stoffen und Linien. (…) Sie alle sind genau wie er: hybride Wesen aus Tradition und Moderne, Mythos und Technologie, Traum und Wirklichkeit. Sie alle sind von Menschenhand gemacht und zugleich ein Teil der Natur.“

Lukas Dubro: Ein anderer Autor ist Jiang Bo, der sich für Künstliche Intelligenz interessiert und sich mit der Technologie und den Fragen, die dadurch aufgeworfen werden, auseinandersetzt. In der dritten Ausgabe der „Kapsel“ gab es eine Geschichte, die in einer Art Krankenhaus spielt. Achtung Spoiler: Dort kommt eine KI zum Einsatz, die anhand von Kalkulationen über Leben und Tod entscheidet. Eine Patientin ist so krank, dass sie sich die Behandlung nicht mehr leisten kann und die KI entscheidet, dass man sie doch einfach töten könnte, um der Familie viel Geld zu ersparen.

Norbert Reichel: Triage und Sterbehilfe sind überall ein kritisches Thema und werden in letzter Zeit auch im Kontext von künstlicher Intelligenz debattiert. Das Thema wird auch in „Eine Einführung zu Ouvertüre 2181, zweite Auflage“ literarisch bearbeitet. Die Grundsituation: Eine Welt, in der nach dem Ausbruch des Yellowstone-Vulkans im Jahr 2084 nur noch eine Milliarde Menschen leben. Es gibt große Kälteschlafstädte, die eine „Alternative zur Sterbehilfe“ bieten. Dann schreibt Gu Shi: „Es dauerte nur dreißig Jahre, um die menschliche Vorstellung von Leben, Tod und Zeit zu revolutionieren, was aus heutiger Sicht unglaublich erscheint. Wenig überraschend mischten sich in dieser Zeit alle möglichen Stimmen in die Debatte ein, auch Gegner, von denen nicht wenige mit Anschlägen drohten.“ Eltern verlassen ihre Kinder in den Kälteschlaf, traditionelle menschliche Beziehungen verschwinden, die Macht der Unternehmen wächst. Man könnte hier sogar von einer Spielart der Kapitalismuskritik sprechen: „Wie ein Konzept entstanden ist oder welche Gewinnabsichten dahinterstecken, ist im Grunde nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass es von allen angenommen wird und die Leute bereit sind, für die Produkte zu zahlen. Das zeigt, dass wir es brauchen.“ Die Gegner:innen des Kälteschlafs sind „die Übriggebliebenen“.

Lukas Dubro: In dieser Erzählung können Menschen aus dem Kälteschlaf in einer Welt aufwachen, in der sie jünger sind als ihre Kinder. Was passiert dann? Wie entwickelt sich dann das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern? Ich mag an dieser Geschichte, dass sie fast schon ein bisschen journalistisch erzählt wird, dass die Protagonistinnen wechseln und Gu Shi so ein sehr heterogenes Bild der Möglichkeiten gibt. Es gibt Leute, die gesund werden wollen, welche, die ihren Lebenstraum erfüllen wollen, solche, die reich werden wollen.

Norbert Reichel: In „An der wilden Furt ist niemand“ wird eine KI, genannt „KA-I“ ausgebildet. „Der Lehrer (…) war überzeugt, dass KA-I früher oder später alle Dichter und Komponisten der Welt ersetzen könnte.“ KA-I wird mit der Zeit erwachsen, die Lehrerin kündigt eine letzte Prüfung an: „Die Menschen sahen mit seinen Augen, hörten mit seinen Ohren, vertrauten ihm ihre ganze Freude an, sie achteten jedoch nicht mehr auf die Schönheit der Jahreszeiten und vernachlässigten ihre Familien. Sie waren wie Maschinen. Und nun war KA-I erwacht. Er besaß ihre Gefühle, kontrollierte ihre Fantasie. Er war der einzige Mensch auf der Welt. Lange Zeit schwieg er. Schließlich setzte er zu einer Antwort an. Seine Geschichte begann so: ‚Die Menschheit wird sterben.‘“ Der letzte ist dann auch der erste Satz der Erzählung. Es ist die Geschichte eines unabwendbaren und geradezu unerbittlich logischen und konsequenten Prozesses.

Lukas Dubro: Chi Hui, die Autorin der ersten „Kapsel“ und des Bandes „Das Erbe der Menschheit“, wirkte während ihres Besuchs in Deutschland eher introvertiert. In der Titelgeschichte des Buches verabschieden sich die Menschen von dem Planeten, den sie zerstört haben. Es bleiben die Ratten, die in dieser Welt zu überleben verstehen.

Covergestaltung: Marius Wenker; Illustration: Theresa Klenke. Weitere Informationen des Verlags über das Buch erhalten Sie mit einem Klick auf das Bild.

Norbert Reichel: Chi Hui schreibt: „Dort ist lebhaft spürbar, dass die Macht der Menschheit in Wirklichkeit sehr groß ist. Wir sind nicht klein und niemals unbedeutend. Die ‚Menschheit‘ als Ganzes ist riesig, der Müll, den wir wegwerfen, bedeckt die Weltmeere, unsere Taten erschüttern im Verborgenen unsere ganze Welt.“ Und nach ihrer Rückkehr werden die Menschen vielleicht zu Archäolog:innen der Zerstörung: „Vielleicht kommt der Tag, an dem unsere Nachfahren von fernen Sternen zurückkehren. Sie werden auf dem Kontinent Rabbilia im Pazifischen Ozean landen und geduldig Plastikmüll ausgraben: erste Luftreifen aus dem Jahr 1945, Ansichtskarten der Weltausstellung 2010, Regencape-Fitzel aus Russland und Plüschkängurus aus Australien … Das gesamte Plastikzeitalter – von dessen Geburt bis hin zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft – wird auf diesem Müllkontinent komprimiert sein und von unseren Kindern und Enkelkindern untersucht werden.“ Ich selbst erlaube mir gelegentlich die Bemerkung, dass von unserer Zivilisation in einigen 1.000 Jahren vielleicht nur ein Haufen Tupperware übrigbleibt.

Aber wir hätten es in der Hand. Haben wir es in der Hand? Ich erlaube mir diese rhetorische Frage, die niemand beantworten kann, es sei denn man ist davon überzeugt, dass Murphys Law stimmt, dass es – sinngemäß zitiert – immer dann, wenn etwas zur Katastrophe führen kann, jemanden geben wird, der diese Katastrophe auslöst.

Lukas Dubro: Regina Kanyu Wang beginnt ihre Erzählung „Zhurong auf dem Mars“, die wir in der sechsten Ausgabe der „Kapsel“ veröffentlicht haben, in der fiktiven Marsstadt „Magna Deserta“. Qiufan Chen erzählt Cyberpunk-Geschichten. Das sind alles Themen, die es auch in der westlichen Science Fiction gibt. Die chinesische Science Fiction wurde durchaus durch westliche Science Fiction beeinflusst, vielleicht versucht sie auch, sich abzugrenzen, um eine andere Perspektive zu eröffnen, so wie es beispielsweise Xia Jia gemacht hat, die einen ganz eigenen Stil entwickelt hat, der ins Fantastische geht. Wie in der westlichen Science Fiction gibt  es aber auch Hard Science Fiction, in der die Dinge, die es jetzt schon gibt, einfach nur ins Extrem gesteigert werden, zum Beispiel von Cixin Liu, Liu Yang oder Jiang Bo.

Norbert Reichel: Bei Motiven wie dem Drachenpferd von Xia Jia dachte ich an ein altes aus der europäischen Mythologie stammendes Motiv, den Hippogryphen, den es schon bei Ariost im „Orlando Furioso“ als Reittier gibt, mit dem der Ritter Astolfo auf den Mond reist, um dort all den verlorenen Verstand von Menschen in Flaschen aufgezogen vorzufinden. Der Hippogryph hat es ja dann auch in die Harry-Potter-Welt geschafft. Nun gibt es auch in der chinesischen Mythologie eine Menge Fabelexistenzen.

Lukas Dubro: Es gibt immer wieder enge Bezüge zur chinesischen Mythologie. Wir versuchen in der „Kapsel“, die Bezüge zur chinesischen Kultur zu erklären. Das Drachenpferd von Xia Jia verlässt irgendwann seinen Körper und fliegt in die Welt der Götter. Gu Shi zitiert klassische chinesische Gedichte. Die klassische chinesische Literatur wird in Form von Zitaten oder von bestimmten Personen immer wieder aufgegriffen, nicht nur bei Gu Shi, und vor allem neu interpretiert oder kreativ umgedeutet. Ich bin daher sehr froh, dass Chong und Felix dies mit ihrer Kompetenz erklären und kommentieren können. Bei „Zhurong auf dem Mars“ haben die beiden gegeneinander kämpfenden künstlichen Intelligenzen die Namen der Götter Zhurong und Gonggong. Zhurong ist Gott des Feuers, Gonggong Gott des Wassers (Zhurong war übrigens auch der Name des chinesischen Marsrovers). Bei der Übersetzung gab es eine Herausforderung: Regina Kanyu Wang verwendet für Zhurong ein geschlechtsneutrales Pronomen und für Gonggong ein Pronomen, das im Chinesischen üblicherweise für Tiere und Gegenstände genutzt wird. Wir haben uns in der Übersetzung für das weibliche Pronomen entschieden, weil „künstliche Intelligenz“ in der deutschen Sprache den weiblichen Artikel hat. Die Götter aus der Geschichte haben in der chinesischen Mythologie allerdings ein männliches Geschlecht.

Cover: Sebastian Vogt. Weitere Informationen des Verlags über das Buch erhalten Sie mit einem Klick auf das Bild.

Norbert Reichel: Mir hat die Erzählung „Die letzte Datei“ von Gu Shi sehr gefallen, eine Erzählung, in der es um eine Technologie geht, mit der man sich in eine andere Zeit versetzen kann: „Der technische Fortschritt hatte dafür gesorgt, dass der Raum biegsam wurde. Entfernungen definierten sich nun nicht mehr durch die eigentliche Strecke, sondern durch die für ihre Überwindung benötigte Zeit. ‚Von Peking nach New York in nur einer Stunde‘, hieß es in einem Werbespot.“ Es gibt ein Unternehmen, das dies organisiert: „Bereust du etwas? Wähl Timeline!“ Es gibt die Möglichkeit, „dass ihr für den Rest eures Lebens an der Welt der anderen teilhaben könnt, vorausgesetzt ihr schließt mit euren Freunden einen Vertrag zum gemeinsamen Speichern ab.“

Bei Regina Kanyu Wang in „Zhurong auf dem Mars“ erleben die künstlichen Intelligenzen Empathie wie reale Menschen auch. Sie denken über Leben und Tod nach. Am Schluss der Erzählung lesen wir: „Kurz vor ihrem Ende erlangte Zhurong die Antwort auf ihre Frage. Wenn sie jetzt starb, musste sie also doch gelebt haben.“

Lukas Dubro: Mir hat die Idee sehr gefallen, eine KI auf dem Mars auf Sinnsuche zu schicken.  Jede Geschichte hat für sich selbst eine große Kraft. Bei Xia Jia gibt es die Geschichte eines Arztes, der sehr krank ist und einen Roboter einsetzt, um seinen Patient:innen zu helfen. Er holt sie zu sich, um sie dann aus dem Bett heraus mit dem Roboter zu behandeln. Das ist natürlich irgendwie auch fast schon romantisch. Diese Geschichte hat Xia Jia ihrem Großvater und der älteren Generation gewidmet, weil sie fand, dass diese ihr gezeigt haben, dass das Leben so nah am Tod nichts ist, vor dem man sich fürchten muss. Ich will damit zeigen, dass die Autor:innen sehr viel von sich selbst in die Geschichten hineinstecken, sodass man auch ein anderes Bild von China bekommt, obwohl viele Autor:innen sagen, dass es nicht ihre Absicht ist, Wissen über China zu vermitteln. In China machen sich Menschen ebenfalls Gedanken über Armut und Reichtum, Städteplanung und Klimawandel, Feminismus, Gesundheit, Leben und Tod, alles Fragen, mit denen auch wir uns in Deutschland, in Europa befassen.

Gedankenspiele der Zukunft

Norbert Reichel: Das Spiel mit Raum und Zeit scheint mir in den von Ihnen veröffentlichten Texten immer wieder thematisiert zu werden. Ein experimentierfreudiges Genre, eigentlich daher auch ein philosophisches Genre. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der weltweiten Anerkennung. Nebula Award, Hugo Award und manches mehr.

Lukas Dubro: Die Geschichten sind einfach toll. Den Hugo Award gewonnen haben zum Beispiel Cixin Liu, Hao Jingfang für „Peking falten“. Gu Shi und Regina Kanyu Wang waren in den vergangenen zwei Jahren nominiert.

Ich bin nicht der absolute Science-Fiction-Nerd. Mich interessiert die philosophische Ebene. Science Fiction setzt sich meist mit der Gegenwart auseinander. Man kann aber in andere Welten hineinschauen und sich mit den Ideen anderer auseinandersetzen. Es gibt immer wieder die nicht-menschliche Perspektive, die Perspektive einer KI, ebenso wie menschliche Perspektiven, oft im Wechsel zueinander. All das hatte ich vor meiner Entdeckung der chinesischen Science Fiction so noch nicht gelesen. Es ist experimentierfreudig, spielt mit den Formen.

Cover: Marius Wenker. Weitere Informationen des Verlags erhalten Sie mit einem Klick auf das Bild.

An der chinesischen Science Fiction interessiert mich gerade auch der Alltagsbezug. Die Technologie ist einfach da und man schaut, wie man damit umgeht und passt sich an. Regina Kanyu Wang sagte im Interview, das wir in „Kapsel Nr. 6“ abgedruckt haben: „Technologien wie das Internet und Smartphones sind ein untrennbarer Teil von vielen von uns geworden und haben unser Leben und sogar unser Denken dramatisch verändert. Von Herzschrittmachern über mechanische Prothesen bis hin zu Gehirn-Computer-Schnittstellen haben kybernetische Veränderungen am menschlichen Körper Einzug in unseren Alltag gefunden. Wie kann man da noch eine klare Grenze zwischen Technik und Natur, zwischen organisch und anorganisch ziehen?“

Norbert Reichel: Man könnte aus dem Dystopischen etwas Utopisches ableiten. Ich sehe auf jeden Fall, dass die chinesische Science Fiction in der Lage ist, uns eine ganze Menge Denkanstöße zu liefern, in etwa das, was Ursula K. Le Guin mit „Speculative Fiction“ meint.

Lukas Dubro: Genau das ist unser Ziel: Wir wollen Denkanstöße liefern. Die Idee der „Kapsel“ war, Themen zu präsentieren, die in meiner Generation eine wichtige Rolle spielen. Manche interessieren sich nicht so sehr für das Morgen. Aber durch den technischen Fortschritt geschieht so viel, das wir um das Morgen gar nicht herumkommen. Das sollte uns doch anregen, uns mit Fragen zu befassen, was geschieht, was sich entwickelt, wenn Roboter oder Algorithmen die Arbeit übernehmen, welche Möglichkeiten es gibt. Hat man in Zukunft als Mensch mehr Freizeit, mehr Zeit zum Philosophieren? Oder was geschieht mit unserem Wohlstand? Da passiert so viel, aber die Fragen nach der Verteilung des Wohlstands werden kaum gestellt. Und was bleibt vom Menschen in einer hoch technologisierten Welt noch übrig? Das ist ein zentrales Thema der Autor:innen unserer „Kapsel“.

Bei Gu Shi haben wir das auf dem Klappentext festgehalten: „Die chinesische Autorin und Stadtplanerin Gu Shi verwebt Zukunftsvisionen mit existenziellen Fragen. Ihre Figuren bewegen sich in Szenarien, in denen technologische Durchbrüche Verluste markieren – an Fantasie, an Autonomie, an Menschlichkeit – aber auch vielfältige Möglichkeiten versprechen.“ Es muss ja nicht die Welt untergehen, es könnte auch alles einfach nur schön werden.

So bin ich an die chinesische Science Fiction herangegangen. Ich dachte auch daran, dass China uns in manchen technologischen Dingen so weit voraus ist, auch im Einsatz von Technologie im Alltag. Wie sehen dort die Menschen die Zukunft? Es ging uns darum, Ideen zu sammeln. Die philosophische Dimension ist das, was mich an Literatur so begeistert. Es ist die Suche nach Gedankenspielen.

Norbert Reichel: Ein solches Gedankenspiel ist die Erzählung „Der Algorithmus der Artifiziellen“ von Chi Hui. Es gibt in dem asiatischen Mian-City im Jahr 2042 nur 2248 „Echte“ und 11,26 Millionen „Artifizielle“, weltweit 7,2 Milliarden „Artifizielle“ und 1,44 Millionen „Echte“, „nur 127 von ihnen kennen die Wahrheit über diese Welt.“ Ein Einstieg, der unwillkürlich an die „Matrix“-Filme der Wachowskis denken lässt. Am Schluss stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch „Echte“ braucht. Wozu sind wir Menschen noch gut? Oder geht von uns die eigentliche Gefahr aus? „Wenn sich ein Mensch in einer Illusion verloren hat und nicht mehr weiß, wen er hassen soll, dann wird er alles hassen. Wenn die Freiheit durch die Umstände zerstört wird, wird er alles zerstören wollen … wie bei Pharells Eltern hat der Algorithmus die Gewaltbereitschaft nicht wirklich eliminiert, im Gegenteil, er hat die manischen Ausprägungen der Echten verdoppelt.“ Die Utopie der „Artifiziellen“ und die Dystopie der „Echten“ – eine versöhnliche Perspektive scheint es da nicht mehr zu geben.

Lukas Dubro: In Chi Huis Geschichten gibt es immer eine Außenseiterfigur, die sich gegen irgendetwas behaupten muss. Dazu passt diese Textstelle, die Sie eben zitiert haben. Chi Hui lässt darin ihren gesamten Frust über die Menschheit, wie sie sie erlebte, heraus. Chi Hui lebt heute als freischaffende SF-Schriftstellerin alleine mit ihrer Katze in Chengdu. Das komplette Gegenmodell.

Vielleicht entsteht mit all diesen Geschichten ein Anlass für einen größeren Austausch. Deshalb versuchen wir in der „Kapsel“ auch immer Leute zu gewinnen, die die Texte kommentieren, wir haben Interviews und Hintergrundinformationen, Fußnoten mit Erklärungen, um beim Textverständnis zu helfen.

Norbert Reichel: Hier haben Sie ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Verlagen. Ihre Art der Kombination verschiedener Genres rund um einen Text beziehungsweise eine:n Autor:in ist sehr gelungen. Und das alles zu einem sehr verträglichen Preis. Man bekommt für 15 EUR pro „Kapsel“ eine Menge geboten. Dazu all die anspruchsvollen Zeichnungen und Bilder, die man sich im Detail nicht lange genug anschauen kann. Das gilt für die Zeitschrift wie für die Bücher und ist im Übrigen auch ein Alleinstellungsmerkmal des MaroVerlags, das ich immer gerne betone.

Lukas Dubro: Danke. Das freut mich sehr. Es ist einfach eine Einladung, ein Genre und ein Land und dazu viele spannende Autor:innen zu entdecken, die sonst wahrscheinlich niemand entdecken würde.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2025, Internetzugriffe zuletzt am 10. November 2025, Titelbild: Gruppenfoto in Shanghai, vorne links Xia Jia, vorne rechts Regina Kanyu Wang, der junge Mann mit der gelben Kappe ist Marius Wenker. Foto: Kapsel.)