„Erinnern für die Zukunft“

Eine Kernaufgabe politischer Kultur!

Als Präsidentin der Kultusministerkonferenz hat Sylvia Löhrmann im Jahr 2014 das Thema „Erinnerungskultur als Gegenstand der historisch-politischen Bildung“ auf die Tagesordnung gesetzt. Im Dezember 2014 beschloss die KMK eine entsprechende Empfehlung. Weitere Empfehlungen und Erklärungen folgten, eine gemeinsame Erklärung der KMK mit dem Zentralrat der Juden (2016), eine Empfehlung zur Demokratie, eine zu den Menschenrechten (beide 2018). Erinnerungskultur hat somit durchaus Konjunktur, allerdings auch einigen Gegenwind. Die KMK-Beschlüsse sind auf der KMK-Internetseite nachlesbar.

Sylvia Löhrmann, Staatsministerin a.D., war lange Jahre Vorsitzende der Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen im Landtag Nordrhein-Westfalen, anschließend sieben Jahre Ministerin für Schule und Weiterbildung und stellvertretende Ministerpräsidentin. Im Jahr 2014 war sie Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Sie engagiert sich heute für Themen rund um Demokratie, Kulturelle Bildung und Erinnerungskultur. Sie lebt in Solingen.

Norbert Reichel: Sylvia, warum hast du das Thema „Erinnerungskultur“ im Jahr 2014, auf die Tagesordnung der KMK gesetzt?

Sylvia Löhrmann: Im Jahr 2014 jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100sten Mal. Ein prägnantes Datum und damit Anlass, die Bedeutung der historisch-politischen Bildung hervorzuheben, zu stärken, die fachlichen Ansätze zu aktualisieren, um so der Erinnerungskultur einen neuen Schub zu geben. „Erinnern für die Zukunft“, das war und ist das Motto. Es zitiert einen Buchtitel der von mir sehr geschätzten Dr. Hildegard Hamm-Brücher, die mir den Titel geschenkt hat. Persönlich umgetrieben hat mich das Thema schon immer: durch guten Geschichtsunterricht in den 1970er Jahren, durch den Besuch der Synagoge in meiner Geburtsstadt Essen, als Lehrerin bei vielfältigen Anlässen in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern.

Norbert Reichel: Als Schulministerin hast du mehrfach Schulklassen bei Fahrten nach Auschwitz und nach Belgien begleitet. Was hat dich am meisten beeindruckt?

Sylvia Löhrmann: Das ist kaum in Worte zu fassen. Zunächst die große Bereitschaft der Jugendlichen, sich auf die schwierige Begegnung mit den Gräueln der deutschen Geschichte einzulassen und die Unmittelbarkeit der Auseinandersetzung. Besonders beeindruckt hat mich immer wieder, wie selbstverständlich und unmittelbar die Jugendlichen den Auftrag zur Verantwortung in der heutigen Zeit selbst hergestellt haben.

Norbert Reichel: In einer Rede zur Vorstellung der KMK-Empfehlung im Jahr 2015 hast du gesagt: „Dreh- und Angelpunkt der Erinnerungskultur in Deutschland ist die Shoah.“ Immer wieder gibt es Studien, die belegen, wie wenig viele junge Menschen über die Shoah wissen. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Herr Dr. Josef Schuster, fordert einen verpflichtenden Besuch einer Gedenkstätte für alle Schüler*innen, natürlich mit guter Vor- und Nachbereitung. Wäre das ein Weg, die historisch-politische Bildung junger Menschen zu verbessern?

Sylvia Löhrmann: Ich verstehe die Forderung von Herrn Dr. Schuster, aber es gibt viele Wege. Entscheidend ist, den Jugendlichen unmittelbare empathische Zugänge zur historisch-politischen Bildung zu eröffnen. Das kann ein Gedenkstättenbesuch sein, aber auch die Gestaltung einer Gedenkveranstaltung zum 9. November, das Forschen über die örtlichen Opfer der Shoah, die Pflege eines jüdischen Friedhofs und vieles mehr. Die Einbeziehung außerschulischer Lernorte und betroffener Zeit- und Zweitzeug*innen ist dabei sehr bereichernd.

Norbert Reichel: Gedenken, Gedenkstättenbesuche – das kann auch Routine werden. Ein Beispiel dafür waren die Pflichtbesuche von jungen Menschen während der DDR-Zeit in Buchenwald. Es fehlte jedoch – so die Analyse – eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit während des Nationalsozialismus. Mit dem Datum 1945 war eben mitnichten alles vorbei, weder im Westen noch im Osten Deutschlands. Auch heute gibt es Tendenzen zur Routine bis hin zur grundlegenden Ablehnung. Welche Möglichkeiten siehst du, Routine und Ablehnung zu überwinden?

Sylvia Löhrmann: In aller Klarheit: das Ob dieser historisch-politischen Bildung steht nicht zur Disposition, das Wie und Wozu ist entscheidend. Beispiele habe ich gerade genannt. Es muss ein authentischer emotionaler Zugang eröffnet werden, der den Fachunterricht ergänzt und vertieft. Ein solcher Weg beugt Routine oder Schematismus vor.

Norbert Reichel: Alle Einstellungen, die wir in unserer Gesellschaft finden, finden wir auch in der Schule, bei Lehrer*innen, bei Eltern und natürlich auch bei Schüler*innen. Wie können wir ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem historisch-politische Bildung und Erinnerungskultur im Geiste unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates den ihnen gebührenden Stellenwert erhalten?

Sylvia Löhrmann: Grundsätzlich habe ich die Jugendlichen als sehr aufgeschlossen erlebt, als bildbar im besten Sinne. Die Verantwortung für das gesellschaftliche Klima prägen ja in hohen Maßen die politischen Akteure. Da hat es in den letzten Jahren nicht zuletzt in Debatten zur Erinnerungskultur eine „Rechtsverschiebung“ gegeben, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Das spricht umso mehr für den Auftrag der Erinnerungskultur, wie er in den KMK-Empfehlungen und letztlich auch in den Erziehungs- und Bildungszielen der Schulgesetze, sogar auch in Landesverfassungen, verankert ist.

Norbert Reichel: Viele Menschen haben eine internationale Familiengeschichte, manche leben schon lange in Deutschland, andere sind erst kürzlich zugewandert. Was könnten wir tun, um diese Menschen auch mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen zu integrieren?

Sylvia Löhrmann: Fachlich gesprochen brauchen wir ein kultursensibles Erinnern, das den Jugendlichen und ihren Familien eigenständige Anschlüsse ermöglicht. Dabei müssen wir die Erinnerungen von Menschen mit internationaler Familiengeschichte ernst nehmen. Wir dürfen unsere deutsche Sicht nicht aufdrängen, sondern müssen dafür werben, die spezifische Geschichte Deutschlands und die damit verbundene Verantwortung anzunehmen. Antisemitische Denkmuster und Haltungen müssen konsequent angegangen werden. Dies ist ein besonderer Auftrag in Deutschland.

Norbert Reichel: Erinnerungskultur setzt sehr auf Zeitzeug*innen. Für die Zeit der Shoah gibt es nur noch wenige, die berichten könnten, für den deutschen Kolonialismus niemanden. Für andere Bereiche, beispielsweise zur SED-Diktatur, scheint es zumindest im Westen Deutschlands nur wenig Interesse zu geben. Wie können wir sicherstellen, dass Erinnerungskultur auch ohne Zeitzeug*innen gepflegt wird und dort, wo das Interesse fehlt oder verschwunden ist, neues Interesse geweckt wird?

Sylvia Löhrmann: Das unmittelbare primäre Gespräch mit Zeitzeug*innen eröffnet enorme emotionale Zugänge. Da sich diese Möglichkeit erkennbar dem Ende zuneigt, müssen wir sekundäre Wege nutzen, wie sie sich – dankbarerweise – vielfältig ergeben und schaffen lassen. In den Gedenkstätten und Museen, in Archiven und Dokumenten, herausragend beispielsweise in der Gedenkstätte Yad Vashem. Die in der dortigen Datenbank dokumentierten Lebensläufe kann man hier im Unterricht nutzen. Die Nutzung elektronischer Medien gehört inzwischen zum Standardangebot einschlägiger Fortbildungen. Ich selbst habe in Ypern die sehr nahegehende Präsentation von Feldpostbriefen junger Soldaten erlebt; Soldaten, die im Alter der Jugendlichen im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben ihr Leben lassen mussten.

Norbert Reichel: Erinnerungskultur befasst sich in erster Linie mit den Opfern. Die Debatten um die „Wehrmachtsausstellung“ sowie um Goldhagens Buch in den 1990er Jahren hatten viel damit zu tun, dass sich eigentlich kaum jemand mit der Frage nach den Täter*innen befassen wollte. Deutsche Studien erschienen erst etwa zehn Jahre später (z.B. Aly, Longerich, Welzer). Wenn wir zukünftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern wollen, müssen wir über die Täter*innen und wie sie welche wurden sprechen. In Nordrhein-Westfalen gibt es klassische Täterorte wie die Wewelsburg und die ehemalige „Ordensburg“ Vogelsang. Wie kann man beispielsweise solche und andere Einrichtungen in eine umfassende Erinnerungskultur einbeziehen?

Sylvia Löhrmann: Es stimmt, dass es in der „Täter“-Forschung und -Dokumentation noch großen Nachholbedarf gibt, aber auch hier geht es voran. Die Frage nach dem „Menschenmöglichen“ hat Harald Welzer gestellt. Das dem Menschen Mögliche bezieht sich eben nicht nur auf Humanität, sondern auch auf jede Form von Inhumanität. Dies in Bildungsprozessen zu thematisieren, ist eine sehr schwierige Aufgabe, weil sich letztlich jede und jeder selbst fragen muss, wie er oder sie sich in einer vergleichbaren Situation verhalten würde. Letztlich lässt sich diese Frage nicht beantworten. Ein Gespräch über diese Frage kann jedoch bewirken, dass wir alle lernen, uns selbst in Bescheidenheit und Demut vor der Geschichte kritisch zu befragen und zu hoffen, dass wir möglichst alle für den Fall, von dem wir nicht wollen, dass er wieder eintritt, mehr Zivilcourage zeigen und erleben werden. Diese Gespräche müssen wir jederzeit führen, wenn sich eine Bedrohung unseres freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats abzeichnet. Die aktuellen Meldungen zum Antisemitismus zeigen, wie wichtig dies ist, auch heute.

Norbert Reichel: Erinnerungskultur ist nicht nur Angelegenheit eines einzelnen Landes. Kannst du dir eine europäische Erinnerungskultur vorstellen und wie könnte die aussehen?

Sylvia Löhrmann: Für mich ist die Europäische Union ein großes Friedensprojekt – natürlich vor dem Hintergrund der Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Insofern ist eine europäische Erinnerungskultur folgerichtig und wird in Ansätzen auch schon gelebt. Der gemeinsame Besuch von Gedenkorten oder die gemeinsame Gestaltung von historischen und kulturellen Veranstaltungen hilft, die geschichtlichen Hintergründe zu erarbeiten, zu verstehen und das gemeinsame Europa der Zukunft verantwortlich zu gestalten.

Zum Weiterlesen:

  • Götz Aly, Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main (Fischer) 2006.
  • Aleida Assmann, Das neue Unbehagen in der Erinnerungskultur – Eine Intervention, München (Beck) 2013.
  • Inge Deutschkron / Lukas Ruegenberg, Blindenwerkstatt Otto Weidt – Ein Ort der Menschlichkeit im Dritten Reich, Kevelaer (Butzon & Bercker) 2008.
  • Ines Geipel, Umkämpfte Zone – Mein Bruder, der Osten und der Hass, Stuttgart (Klett-Cotta) 2019.
  • Viola Georgi, Entliehene Erinnerung – Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg (Hamburger Edition) 2003.
  • Dana Giesecke / Harald Welzer, Das Menschenmögliche – Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg (Edition Körber) 2012.
  • Rebekka Habermas, Skandal in Togo – Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main (Fischer), 2016.
  • Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände – Folge 10, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp) 2018.
  • Anita Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben – Die Cellistin von Auschwitz – Erinnerungen, Reinbek (Rowohlt) 2000 (Erstauflage der deutschen Ausgabe 1997).
  • Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945, München (Siedler) 2006.
  • Oliver von Mengersen (Koord.), Sinti und Roma – Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation, Bonn / München (Bundeszentrale für politische Bildung) 2015.
  • Sally Perel, Ich war Hitlerjunge Salomon, München (Heyne) 2010 (21. Auflage, Erstauflage 1992).
  • Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München (Piper) 2014.
  • Harald Welzer, Täter – Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main (Fischer) 2007.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)