Europäische Realpolitik

René Cuperus, 7 Mythen über Europa

„Martin hustete. Sorry sagte er und: Das ist doch die Idee der Kommission, so steht es in den Gründungsdokumenten, den damaligen Absichtserklärungen und Sideletters! Okay, es klingt ziemlich abstrakt, aber es ist doch auch völlig klar: die Kommission ist keine internationale, sondern eine supranationale Institution, sie vermittelt also nicht zwischen Nationen, sondern steht über den Nationen und vertritt die gemeinsamen Interessen der Union und ihrer Bürger. Sie sucht nicht Kompromisse zwischen Nationen, sie will die klassischen nationalen Konflikte und Widersprüche in einer nachnationalen Entwicklung überwinden, also im Gemeinsamen. Es geht um das, was die Bürger dieses Kontinents verbindet, und nicht um das, was sie trennt. Monnet hat geschrieben – / Wer? / Jean Monnet. Er hat geschrieben: Nationale Interessen sind abstrakt, das Gemeinsame der Europäer ist konkret.“ (Robert Menasse, Die Hauptstadt, Berlin 2017)    “

Von welchem Europa ist die Rede? Wie „konkret“ ist es? Was „verbindet“ die Bürger*innen? Lässt sich das Verbindende verordnen? Hat ein solches Europa eine Zukunft? Gibt es so etwas wie eine gemeinsame europäisch definierbare Vergangenheit? Jenseits von zwei Weltkriegen und zusammenbrechenden Kolonialreichen? Welchen Anteil hat welches Land, hat welche Nation an dem Menschheitsverbrechen der Shoah? Reicht es, den Schrecken der Vergangenheit zu beschwören, um eine europäische Zukunft zu begründen? Ist Auschwitz wirklich der Gründungsmythos der Europäischen Union wie Robert Menasse in seinem Roman „Die Hauptstadt“ (er erhielt für diesen Roman 2018 den Deutschen Buchpreis) den deutschen Referenten Martin Susman seiner zypriotischen Chefin Fenia Xenopoulou erklären lässt?

Heiliges Europa – zwei Fanatismen

Hört man Politiker*innen zu, wenn sie sich zu europäischen Fragen – es sind immer Fragen, die aber in der Regel wie Lösungen formuliert werden – geht es immer um die oft geradezu mit religiöser Inbrunst formulierte Frage, ob es mehr oder weniger Europa geben müsse. Der niederländische Autor René Cuperus, Senior Assocate Fellow im Netherlands Institute for International Relations „Clingendael“, Research Fellow am „Duitsland Instituut“ der Universität Amsterdam und politischer Kolumnist für den Nachrichtensender RTLZ, warnt in seinem Buch „7 Mythen über Europa“, das der Bonner Dietz-Verlag 2021 veröffentlichte und das 2022 in einer zweiten Auflage erschien, vor einem „doppelten Fanatismus. Fanatische Europhile predigen öffentlich eine ‚Revolution gegen die Nationalstaaten‘. Sie sehen einzig eine Europäische Republik vor sich, einen einzigen und ungeteilten Staat. Dem gegenüber stehen fremdenfeindliche Nationalpopulisten, die für eine fanatische Revolution gegen das Phantom eines zentralistischen Superstaats plädieren und in den europäischen Mitbürgern nichts anderes sehen als Schnorrer und Konkurrenten.“

Rene Cuperus je višji raziskovalec na Clingendael – Inštitut za mednarodne odnose na Nizozemskem. V Ljubljani 16.11.2019[Rene Cuperus.Clingendael.Nizozemska.evropsko-kitajski odnosi]

Das Europa, über das René Cuperus schreibt, ist im Wesentlichen die Europäische Union. Europäische Staaten, die nicht Mitglied der EU sind, werden nur am Rande erwähnt. Allerdings hätten Fragen, wie weit sich Europa als erweiterter Kreis im Sinne der Mitglieder des Europarates verhält, und wie sich Mitglieder und Nicht-Mitglieder zueinander verhalten, miteinander kooperieren und kommunizieren, möglicherweise den Rahmen des Buches gesprengt, vor allem dann, wenn eine so heikle Frage zu debattieren wäre, welche Rolle die Russische Föderation im europäischen Kontext spielt und was die sogenannte Eurasische Union, die Putin gegründet hatte, für die EU bedeutet. Etwas näher liegt sicherlich der Westbalkan, aber auch dort zeigen sich Verflechtungen nicht nur mit der EU, sondern auch mit anderen nicht der EU angehörenden Akteuren. René Cuperus spricht die geopolitische Situation der EU an, diese auf alle europäischen Staaten zu beziehen, wäre sicherlich ein lohnendes Unterfangen für einen zweiten Teil seiner Ausführungen.

Doch zunächst geht es darum, wie sich die EU intern und gegenüber externen Partnern und Mächten positionieren sollte. René Cuperus vertritt die These, dass diejenigen, die immer mehr Europa, eine immer weiter gehende Integration der Europäischen Union – Stichwort „ever closer“ – fordern, offensichtlich in den gegebenen Konstellationen das Gegenteil erreichen. Der Untertitel seines Buches lautet daher folgerichtig „Plädoyer für ein vorsichtiges Europa“. Ein „vorsichtiges Europa“, das ist „eine EU, die ihre Grenzen und Schranken kennt“. Die Niederländer bezeichnet er als „europäische Realisten“. Die Deutschen hingegen scheinen ihm unter Europa etwas zu verstehen, das mehr oder weniger eine Kopie des deutschen Föderalismus ist. Wahrscheinlicher ist seines Erachtens jedoch „so etwas Ähnliches wie eine komplexe Vergrößerung Belgiens“. In Belgien liegt Brüssel, das so etwas wie eine europäische Hauptstadt ist, obwohl es sich die Eigenschaften eines solchen politischen Zentrums mit einer Stadt teilt, die in der Vergangenheit mal deutsch, mal französisch war und heute sozusagen sich als Symbol der Versöhnung zwischen zwei sich ursprünglich feindlich begegnenden Nationen zu präsentieren vermag: Straßburg.

Europa lässt sich nur aus seiner Vergangenheit verstehen. René Cuperus: „Ich habe kein Problem damit, die Europäische Union als ein heiliges Projekt zu bezeichnen. Heilig im Lichte des barbarischen 20. Jahrhunderts, in dem Europa in zwei Weltkriegen beinahe Selbstmord begangen hätte.“ Nationalpopulisten machen sich daher „einer ahistorischen Einfältigkeit schuldig. Insbesondere dann, wenn sie keine Antwort auf die Machtunterschiede zwischen großen und kleinen Ländern, die der Rohstoff für Konflikte und Krieg waren, und auf die Great Power Competition in einer globalisierenden Welt haben.“ Es gibt keine friedlichen Alternativen zu europäischer Kooperation, wohl aber Alternativen, wie man die Kooperation gestalten könnte. Wenn man das von René Cuperus ins Spiel gebrachte Bild Belgiens weiterdenkt, ergäbe sich als Alternative das Schicksal Jugoslawiens in den 1990er Jahren, das nach wie vor die Politiken auf dem Westbalkan belastet und den Beitritt der West-Balkan-Staaten zur Europäischen Union erheblich erschwert. Wer zu intensiv für die Aufgabe regionaler beziehungsweise nationaler Zuständigkeiten wirbt, läuft Gefahr, dass es seinem Europa ergeht wie im Märchen dem Fischer und seiner Frau.

Hotel California

Die gängige Formel zur Begründung europäischer und damit transnationaler Verfasstheit lautet „Nie wieder!“. René Cuperus dekonstruiert verschiedene Fortführungen dieser Formel, mal geht es um „Krieg“, mal um „Nationalismus“, um „deutsches Großmachtdenken“ oder um „deutsches, rassistisches Überlegenheitsdenken“? Bezieht sich die Formel ausschließlich auf den Zweiten Weltkrieg? Eine der Antworten von René Cuperus: „Falscher Mythos: Die EU ist die Antwort auf den Ersten Weltkrieg, nicht auf den Zweiten“. Womit wir wieder beim Balkan wären. Aber nicht nur dort. Nicht umsonst waren Balkanisierung und – in einer nur kalt kriegerischen Version – Finnlandisierung in Deutschland lange Zeit die Schreckgespenster einer wenig friedfertigen Zukunftsvision für Europa. Joschka Fischer begründete die deutsche Beteiligung am Krieg in Jugoslawien mit Auschwitz, aus jüdischer oder israelischer Sicht sehe ich eine weitere Formel des „Nie wieder“: „Nie wieder wehrlos!“

Nach dem 24. Februar 2022 prägen diese Begriffe wieder die Debatten um die verschiedenen in Europa umgehenden Gespenster. René Cuperus schrieb sein Buch vor dem 24. Februar 2022. Die nach dem 24. Februar beschworene europäische Einigkeit hatte Vorgänger, die zeigten, dass Europa stärker ist als es im Allgemeinen in diversen Presseverlautbarungen gemacht wird. Ein Grund für mehr Einigkeit in der Europäischen Union war der Brexit, ein zweiter, der nach Einschätzung von René Cuperus sogar bedeutsamer war, die Corona-Krise. Beides wirkte „als Katalysator für eine engere europäische Zusammenarbeit unter französisch-deutscher Führung“. Und jetzt die Ukraine?

Die sieben Mythen, die René Cuperus analysiert, sind die „Ever Closer Union“, der „Ursprung“, der „Brexit“, die „europäische und nationale Souveränität“, der „Populismus“, die „europäische Wertegemeinschaft“ und die „Einheitswährung“. Dem entsprechen „vier Sorgen“, die sich Gegner*innen eines (zu) starken Europas zunutze machen, „die große Entfremdung zwischen der europäischen Politik und dem durchschnittlichen EU-Bürger“, „die Instabilität der nationalen Gesellschaften“, der „Angriff der Nationalpopulisten“ und „die geopolitischen Machtverschiebungen auf unserem Globus“. Vielleicht ist der zuletzt genannte Punkt der Kern des von René Cuperus vorgeschlagenen „Europa-Realismus“: „Ein ‚geopolitisches Europa‘ ist besser als eine ‚politische Union‘ / Was wir brauchen ist eine europäische Doppelstrategie: stark nach außen, sanft nach innen.“

Europa ist „ein hybrides Projekt von Konföderation und Föderation“, in dem offen bleibt, ob sich die Bürger*innen „miteinander verbunden“ fühlen. Im Grunde lautet die Antwort auf diese Frage: „Ja und nein“. Wie komplex diese ambivalente Haltung der europäischen Bürger*innen zum europäischen Projekt ist, belegt der Brexit: „Der Brexit führt uns, mehr als alle Sitzungen des Europäischen Parlaments und alle Europawahlen zusammen, den Wert, den Zwang und die Hyperkomplexität der EU vor Augen. Das ist das Beste, was man darüber sagen kann.“ Er zeigt aber auch, wie „illusorisch“ und „riskant“ eine „Renationalisierung“ ist. René Cuperus verweist auf den Song „Hotel California“ der Gruppe „The Eagles“, aus dem man immer auschecken, das man jedoch nie verlassen könne.

Der Brexit hat viele Gesichter, seine Wiedergänger sind – so René Cuperus – die Gilets jaunes in Frankreich, die Blockierfriesen in den Niederlanden, die diversen Bauernproteste und nicht zuletzt die in vielen EU-Mitgliedstaaten ständig virulenten Proteste gegen jede Migration aus außereuropäischen Ländern. „Das Vereinigte Königreich ist eine konzentrierte Version von uns selbst.“ Auch im Hinblick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse. Der Brexit wurde nun nicht mit rauschender Mehrheit beschlossen. Es war äußerst knapp, aber so ähnlich ist es bei zahlreichen Fragen, in denen Bürger*innen oder die sie vertretenen politischen Parteien befürchten, an Handlungsspielraum, in lingua politica „Souveränität“ zu verlieren.

Checks and Balances

Letztlich sind Debatten über mehr oder weniger Europa durchaus mit Debatten über mehr oder weniger Globalisierung, mehr oder weniger Abkommen zum Freihandel vergleichbar. Verführerisch sind die Botschaften derjenigen, die behaupten, ihr eigenes Land wieder „great again“ machen zu können. „Take Back Control“ war das Motto des Brexits. Europa macht sich jedoch kleiner und schwächer als es ist: „Europa kann nicht länger ein reiner wirtschaftspolitischer Riese sein und die idealistische, politische Nichtregierungsorganisation spielen“ oder wie Sigmar Gabriel, den René Cuperus zitiert, auf Deutschland bezogen sagte, sich als eine Art größere Schweiz verstehen. Es ist schlichtweg falsch, „Wirtschaft, Geopolitik und Sicherheit getrennt zu halten.“ Ebenso sind „Innen- und Außenpolitik oft unentwirrbar miteinander vermischt.“

Letztlich ist es falsch „Nationalstaat“ und „Neonationalismus“ miteinander zu verwechseln. „Der Nationalstaat ist lebenswichtig für einen gut funktionierenden, von breiten Bevölkerungsschichten getragenen Wohlfahrtsstaat und für eine Demokratie. Die Nationalstaaten tragen das europäische Gesellschaftsmodell, den European Way of Life. Die EU muss dies unterstützen und stärken, nicht untergraben. Der Sozialvertrag in Demokratie und Wohlfahrtsstaat kann nicht funktionieren ohne politische und juristische Begrenzungen von Bürgerschaft, und dies setzt sehr wohl Formen von nationaler Selbstbestimmung und Souveränität voraus. Das ist aber etwas völlig anderes als populistische Agitation gegen internationale und europäische Zusammenarbeit, die es in vielen Ländern gibt und die man auch als Aufstand des ‚Neonationalismus‘ bezeichnet.“

Hier liegt auch der wahre Sinn des „Nie wieder“: „nie wieder allein“. „Man kann die Europäische Union als den Versuch sehen, die Ehre des Kontinents nach dem barbarischen 20. Jahrhundert wiederherzustellen und als eine Antwort auf die geopolitische ‚Verzwergung‘ Europas nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.“ Das ist kein Aufruf zur Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Diese wären nicht durchsetzbar, die großen Staaten der EU, allen voran Deutschland und Frankreich müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Wie gesagt: „sanft nach innen“.

Dies ist – so Timothy Garton Ash, den René Cuperus zitiert – „a new German question. It is this: Can Europe’s most powerful country lead the way in building both a sustainable, internationally competitive eurozone an a strong, internationally credible European Union.” In diesem Sinne verweist René Cuperus auch auf Joschka Fischer: „Unter dem vielsagenden Titel ‚Die Deutschen müssen ihren instinktiven Pazifismus hinterfragen‘ ruft er Deutschland und Deutschen dazu auf, ihre Narben aus Krieg und Nazizeit nicht länger obsessiv zu beachten und sich stattdessen für die Realpolitik Europas verantwortlich zu fühlen.“ Ich will jedem Missverständnis vorbeugen: das ist kein Plädoyer für einen wie auch immer gearteten Schlussstrich. Aus der durchaus respektablen deutschen Erinnerungskultur lässt sich nicht ableiten, dass Deutschland in Europa keine Verantwortung übernehmen dürfe. Das hat Deutschland oft genug ohnehin schon getan, wenn auch nicht immer mit der erforderlichen Sensibilität für das Europäische und das geopolitische Ganze, siehe der Alleingang in Sachen Nordstream 2 und das Beharren auf einem spätestens mit Aufkommen der Modern Monetary Theory fragwürdigem Austeritätskurs, der Europa spaltet statt es zu stärken.

Die Botschaft gilt jedoch auch den kleinen Mitgliedstaaten, will man nicht „die schlechteste von zwei Welten: schwache Nationalstaaten und ein schwaches Europa. Und das in solch einer feindlichen, rauen geopolitischen Welt wie die von Putin und Xi.“ Und wie die Wahlen 2024 in den USA ausgehen ist auch nicht ausgemacht. Europa braucht eine diversifizierte Strategie, in der es nicht „nur zwei Geschmacksrichtungen“ gib, entweder „mehr Europa“ oder „raus aus der EU“. Es ist sicherlich müßig darüber zu spekulieren, ob ein Entgegenkommen gegenüber David Cameron, die Formel der „ever closer union“ aus den europäischen Verträgen zu streichen, den Brexit verhindert und eine offensive europäische Politik gefördert hätte. Wer jedoch „ever closer“ hinterfragt, ist noch lange kein*e Anti-Europäer*in, möglicherweise kommt es darauf an, wie man „closer“ definiert“, nicht nur in der Krise, sondern auch als Zukunftsvision. „Eine These dieses Buches ist daher auch, dass wir die EU gefährden, weil wir statt über geopolitische und außenpolitische Zusammenarbeit (Security Union) zu sprechen, uns ganz und gar auf die Europäisierung der nationalen (Wirtschafts-)Politik fokussieren.“

Es geht um Checks and Balances im besten Sinne, nicht um Scheinalternativen und Spiegelfechterei. Zu diesen Spiegelfechtereien gehören die Reaktionen auf die Finanzkrisen der vergangenen etwa 15 Jahre, in denen im Süden linkspopulistische, im Norden rechtspopulistische Bewegungen entstanden. Manche Bewegungen lassen sich weder links noch rechts einordnen wie beispielsweise die Cinque Stelle in Italien. Die Entwicklungen in Italien und in Frankreich belegen, wie sich liberale Politiker*innen dort zwischen rechts- und linkspopulistischen Bewegungen positionieren müssen. In manchen westeuropäischen Staaten gelang es diesen Bewegungen, die Regierung zu bilden, in Österreich, in Italien, in Griechenland, sie landeten dort aber auch regelmäßig in einer Art Endlosschleife zwischen Aufstieg und Niedergang, in der populistisch inspirierte Regierungen entstehen, die dann aber angesichts in der Praxis erwiesener Inkompetenz auch wieder verschwinden. Eine Wahl später sind manche wieder da, sofern sie es mit der Korruption nicht zu heftig getrieben haben, aber selbst dies scheint manche Wähler*innen nicht abzuschrecken. Ungarn und Polen wiederum belegen, wie sich eine rechtspopulistische Partei an der Regierung halten kann, wenn sie einerseits ursprünglich eher links definierte Sozialprogramme verwirklicht, andererseits aber auch jede Liberalisierung in der Familien-, Geschlechter- und Migrationspolitik bekämpft. Europa wird dann zur Chiffre für angeblich anti-nationale, anti-religiöse Werte.

Die Preisfrage Europas

René Cuperus verweist auf die Analyse von Ivan Krastev und Stephen Holmes in ihrem Buch „Das Licht das erlosch“ (Berlin 2019) vom Ende des „Zeitalters der Nachahmung“. Der Westen verlor seine Vorbildfunktion für den Osten. Ist dies eine „Rache der Geschichte“? Oder sind die östlichen Länder, die ehemals unter sowjetischer Dominanz litten, einfach nur erwachsen geworden und schauen sich nunmehr anderswo um? Der 24. Februar 2022 hat Polen vorerst wieder europäischer gemacht, obwohl es in Polen immer schon deutliche Mehrheiten für die EU gab, lediglich die Bedingungen wurden in Frage gestellt. In Ungarn sieht dies etwas anders aus. Mit einem reinen Bekenntnis kommen wir jedoch nicht weiter. René Cuperus formuliert die „Kernwerte“: „Es gibt Grenzen der Diversität, die man vereinbaren kann, und diese Grenze muss bei den Kernwerten liegen, bei den Grundprinzipien der Europäischen Union: Demokratie, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, unabhängige Jurisdiktion, Gleichgewicht der staatlichen Gewalten.“

Es bedarf eines klaren Blicks auf das jeweils Trennende. Zwischen Nord und Süd ist dies in erster Linie die Finanz- und Wirtschaftspolitik, zwischen Ost und West liegt diese Trennlinie zwischen den von David Goodhart beschriebenen „Anywheres“ und „Somewheres“, die Verschiebung der Rechts-Links-Opposition zu einer Volk-Elite-Opposition. Andererseits – und dies wäre dem ausgesprochen lesens- und bedenkenswerten Essay von René Cuperus hinzuzufügen – gibt es nicht nur diese Gegensätze, sondern auch die Frage, welche Mittel und welche Möglichkeiten die EU hat, liberal-demokratische Werte zu vertreten, durchzusetzen und vor allem illiberal bis offen antidemokratischen Tendenzen entgegenzutreten. Auch „sanft nach innen“ hat Grenzen. Ungarn und Polen, populistische und extremistische Parteien in Frankreich, Italien und anderswo, sind die Spitze des antidemokratischen und illiberalen Eisbergs. Es stellt sich meines Erachtens durchaus die Frage, ob und wie weit sich manche von der Effizienz Chinas verführen lassen und die Brutalität eines Putins zu verharmlosen neigen, weil sie sich davon welche Vorteile auch immer erhoffen.

René Cuperus schließt mit „21 Aussagen als Zusammenfassung und Schlussfolgerungen“. Direkt zu Beginn formuliert er die Alternative: „Das Gefährlichste, was passieren kann ist, eine falsche Schwarz-Weiß-Wahlmöglichkeit auf die Spitze zu treiben: für Europa oder für den Nationalstaat. Keine Grautöne, keine Optionen, keine Alternativen.“ Dies führt zur „Preisfrage“, die René Cuperus bereits im Brexit-Kapitel formuliert: „Wie werden die Wähler der politischen Mitte im Kräftefeld des Postbrexits mobilisiert werden? Wie kann man die europalaue Bevölkerung für große, komplexe, europäische Ambitionen gewinnen? Welche Reformen der Währungsunion sind nicht nur im Interesse der südlichen Länder, sondern dienen auch den ‚Armen‘ in den neoliberalen, zu stark abgebauten Wohlfahrtsstaaten im finanziell soliden Norden? Wie sorgt die europäische Zusammenarbeit für mehr Sicherheit inmitten des Putinismus, Erdoğanismus und Xi-ismus.“

Post-Scriptum

An Stammtischen wird oft über anscheinend unsinnige Regelungen der EU diskutiert. René Cuperus nennt in einem „Epilog“ die „EU-Gurkenverodnung“. Die gab es wirklich, doch im Jahr 2008 wurde sie wie insgesamt „100 Seiten Vorschriften über die Form von Obst und Gemüse“ gestrichen. „Der tatsächliche Gurken-Mythos besteht jedoch darin, dass nicht Brüssel die treibende Kraft hinter der Verordnung war, sondern die Landwirtschaft selbst, zusammen mit den Landwirtschaftsministern einiger EU-Mitgliedstaaten. Es war europäischer Regelungswahn auf Bestellung, wie es oft bei den hyperdetaillierten Richtlinien für den Binnenmarkt der Fall ist.“

Ein zweites Beispiel erlaube ich mir zu ergänzen. Günter Verheugen berichtete davon vor längerer Zeit in einer Talk-Show. In Bayern gab es einen Hersteller von Traktorsitzen, der den damaligen Ministerpräsidenten Bayerns, Edmund Stoiber, der später in der EU zum Beauftragten für Bürokratieabbau wurde, bewegte, sich für die Normierung von Traktorsitzen einzusetzen, die er als bisher einziger Hersteller auch herstellte. Das nennt man Förderung der heimischen Wirtschaft. Das Vorhaben gelang. Im nächsten Wahlkampf polemisierte Edmund Stoiber gegen die EU, die sogar nicht davon zurückschrecke, Traktorsitze zu normieren.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im August 2022, Internetzugriffe zuletzt am 2. August 2022.)