Feministische Außenpolitik
Ein Beitrag zur Menschlichen Sicherheit
„Wenn man einen etwas umstrittenen Begriff wie diesen wählt, wird man natürlich kritisiert, aber es gibt einem auch die Möglichkeit zu definieren, was dahintersteckt. Man muss erklären, was man erreichen will und warum. Auch wecken Sie Interesse. Drittens schafft es eine Verantwortlichkeit. Der Begriff wurde zu einem Maßstab, zur Messlatte, und ist nun ein etabliertes Konzept. Ich finde es erstaunlich, dass mehr als zehn Länder nachgezogen haben und nun selbst eine feministische Außenpolitik verfolgen wollen.“ (Margot Wallström in einem Gespräch mit Elisabeth Knoblauch für ZEIT online am 24. Januar 2023)
Margot Wallström war als schwedische Außenministerin im Jahr 2014 die erste gewählte Politikerin, die Feministische Außenpolitik („Feminist Foreign Policy“) zum Regierungsprogramm gemacht hat. Das in der Öffentlichkeit immer wieder geäußerte Unverständnis für diesen Begriff will sie als Herausforderung verstehen. Es gehe um „Rechte, Repräsentanz und Ressourcen“, Feministische Außenpolitik sei Teil einer umfassenden „Außen- und Sicherheitspolitik“. Vor ihrer Zeit als Außenministerin war Margot Wallström unter anderem als UN-Sonderbeauftragte zum Thema sexuelle Gewalt in Konflikten tätig.
Das von Margot Wallström genannte Unverständnis traf auch Annalena Baerbock, als das von ihr geleitete Auswärtige Amt im Februar 2023 ein 89 Seiten umfassendes Papier zum Thema der im Ministerium und in der Außenpolitik zukünftig geltenden feministisch inspirierten Grundsätze veröffentlichte. Ein großer Teil der medialen Öffentlichkeit reagierte nicht nur skeptisch, sondern geradezu feindselig-hämisch und versuchte, das Konzept ins Lächerliche zu ziehen. Die meisten Kritiker*innen haben das Papier offensichtlich nicht gelesen, und die, die es gelesen haben, schafften es nicht in die Schlagzeilen.
Die drei Rs: Rechte, Repräsentanz, Ressourcen
Eine umfassende Darstellung Feministischer Außenpolitik hat Kristina Lunz in ihrem Buch „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch – Wie globale Krisen gelöst werden müssen“ (Berlin, Econ, 2022) geleistet. Kristina Lunz wurde 1989 geboren. Sie studierte unter anderem in London. Sie ist Mitbegründerin und Mit-Geschäftsführerin des Centre for Feminist Foreign Policy gGmbH und kann auf Erfahrungen in der Beratung des Auswärtigen Amtes sowie in UN-Missionen in Myanmar und in Kolumbien zurückblicken.
Kristina Lunz analysiert Begriff und Praxis feministischer wie anti-feministischer Politik in elf Kapiteln am Beispiel unterschiedlicher Politikfelder: Diplomatie, Menschenrechte, Gesundheitspolitik, Klimagerechtigkeit, Abrüstung. Frauen sind Subjekt und Objekt feministischer Politik zugleich, die aber ihren Namen erst verdient, wenn sie Subjekt sind. Das bedeutet schlicht und einfach Zugang zu allen Tätigkeiten und Ämtern, zu denen Männer schon immer Zugang hatten. Es geht nicht um neue Hierarchien, sondern keine, doch dahin ist ein weiter Weg.
Kristina Lunz referiert die Anfänge und die Entwicklung feministischer Außen- und Innenpolitik und präsentiert 13 Portraits von Frauen aus allen Erdteilen und unterschiedlichen beruflichen Situationen, die eines gemeinsam haben: ein eindeutig feministisches Profil und nicht nur feministische Erfahrungen in internationalen Kontexten. Jede der von ihr portraitierten Frauen* empfiehlt Bücher zum Thema, die alle Leser*innen anregen sollten, sich weiter und möglichst intensiv mit dem Thema zu befassen. Eine dieser Frauen ist Margot Wallström. Margot Wallström hat auch eines der Vorworte geschrieben.
Feministische Politik ist Politik gegen Gewalt. Kristina Lunz schreibt: „Die Zeit in London war mein Feminist Awakening. Ich lernte beispielsweise, dass, wann immer eine Menschengruppe zum Gesamtobjekt erklärt wird – beispielweise indem man sie sexualisiert –, diese Individuen dehumanisiert werden. Diese Objektifizierung senkt die Hemmschwelle, Gewalt gegenüber diesen Menschen auszuüben.“ Auf ihrer Internetseite formuliert Kristina Lunz zugespitzt und programmatisch: „Kein Frieden ohne Feminismus“. Der Gegenbegriff zu „Frieden“ ist jedoch nicht „Krieg“, sondern „Gewalt“. Es geht um jede Art von Gewalt, es geht um das Verhindern von Gewalt, um Prävention gegen Gewalt, um Gewalt unter Individuen im zivilen Alltag, zwischen Staaten und in sogenannten Bürgerkriegen.
Gewalt ist nicht nur Waffengewalt – dazu gehören sämtliche Ausprägungen verbaler und körperlicher Gewalt, die einzelnen Menschen, einer Gruppe oder gleich einem ganzen Land klarmachen sollen, dass sie sich mit einer untergeordneten Rolle zu begnügen hätten. Gewalt kann strukturell sein (Johan Galtung) und sehr subtil erfolgen. Gewalt betrifft als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (im Sinne von Wilhelm Heitmeyer) grundsätzlich jede Minderheit in mehr oder weniger illiberalen Mehrheitsgesellschaften, die Birgit Rommelspacher daher zutreffend als „Dominanzgesellschaft“ bezeichnete, in der „VerAnderung“ (Julia Reuter) das konstituierende Prinzip ist, und es betrifft auch eine Gruppe, die alles andere als eine Minderheit ist: Frauen. Gewalt existiert und verbreitet sich – wie Carolin Emcke schreibt, „weil es sagbar ist“. „Gewalt“ ist ein „Code“ – so Boris Schumatsky am 31. März 2023 im Tagesspiegel, der privates und öffentliches Leben gleichermaßen kontaminiert. Eine grundlegende Beobachtung von Kristina Lunz: „Die im Privaten erlebte Gewalt hängt mit staatlicher Gewalt zusammen, massenhaft ‚persönlich‘ erlebte Ungerechtigkeit hat eine politische und strukturelle Ebene.“ Ganz im Sinne von Carol Hanisch: „The Personal is political“. Und umgekehrt.
Agents of Change
Hier knüpft das Papier von Annalena Baerbock an. Zwei Sätze seien hier zitiert, die meines Erachtens mit vielen Voreingenommenheiten aufräumen dürften. Der erste Satz lautet „Solange Frauen nicht sicher sind, ist niemand sicher.“ Daher das Ziel Feministischer Außenpolitik: sie „will den Weg dafür bahnen, dass sie den gleichen Zugang zu Ressourcen haben. Sie will davon profitieren, dass Frauen als agents of change und Führungspersonen Gesellschaften voranbringen und Demokratie stark machen. Sie möchte dies in gleichem Maße für alle Menschen erreichen.“ Im Folgenden entfaltet die deutsche Außenministerin, was „die ‚drei Rs‘ (Rechte, Repräsentanz, Ressourcen)“, von denen Margot Wallström und andere sprechen, in den einzelnen Politikbereichen bedeuten. Begriffe wie „Gender-Mainstreaming“, „Gender-Budgeting“ oder „Gender-Medizin“ werden konkret.
Fatal ist nur, dass ein solches Papier in der Öffentlichkeit erst einmal zerredet statt gelesen und diskutiert wird. In der Tat wirken manche Begriffe, manche Formulierungen durchaus sperrig, weil sie sich nicht aufs erste Hören oder Lesen erschließen, sodass die Frage erlaubt sein sollte, ob es nicht gut wäre, mit dem in dem Papier enthaltenen Gedanken einen umfassenden Implementations- und Beteiligungsprozess zu initiieren, in dem auch Gegner*innen und Skeptiker*innen die Möglichkeit erhalten sich zu äußern. Oft sind gerade die ursprünglichen Skeptiker*innen diejenigen, die ein solches Konzept nach einem solchen Prozess besonders engagiert vertreten und umsetzen. Diese Chance wurde im ersten Anlauf leider verpasst, daher bedarf es eines neuen Anlaufs.
In einem solchen Implementations- und Beteiligungsprozess müssen die Gegnerschaften eindeutig benannt werden. Rückschläge für die liberale Demokratie sind immer mit Rückschlägen für die Rechte von Frauen verbunden und Rückschläge für die Rechte von Frauen sind immer Rückschläge für die liberale Demokratie. Nach der jüngsten Leipziger Autoritarismus-Studie dient der Anti-Feminismus als eine entscheidende „Brückenideologie“ für Rechtsextremist*innen. Das radikale Abtreibungsverbot in Polen, in El Salvador und in einigen Staaten der USA ist nur die Spitze dieses Eisbergs. Die Abtreibung weiblicher Föten in China und in Indien ist die andere Seite derselben Medaille. Die Rhetorik Putins und anderer ihm Gleichgesinnter brandmarkt immer wieder die sogenannte „Gender-Ideologie“ des Westens. Eine besondere Infamie bieten (in der Regel westliche) Rechtsextremist*innen, wenn sie Muslime mit dem Argument angreifen, sie würden ihre Frauen unterdrücken. Kopftücher, sogenannte „Ehrenmorde“, „Zwangsehen“ und „Importbräute“ gehören in den Reden von Rechtsextremist*innen zu den Kampfbegriffen ihres politischen Repertoires, offenbar auch weil sie Anlass haben zu glauben, dass sie damit Bündnispartner*innen im bürgerlichen, liberalen oder gar linken Spektrum finden könnten.
Doch wie lässt sich „Feministische Außenpolitik“ verständlicher machen? Kristina Lunz erinnert an die Tradition feministischer Zivilgesellschaft: „Feministische Außenpolitik kommt von der Straße. Die sieben Länder, die offiziell eine Feministische Außenpolitik und / oder Entwicklungszusammenarbeitspolitik haben, stehen in der Schuld von feministischer Zivilgesellschaft und Feministinnen seit dem 19. Jahrhundert. An ihrer visionären Arbeit müssen sich Schweden, Kanada, Frankreich, Mexiko, Spanien, Luxemburg, Libyen – und nun auch Deutschland messen lassen.“ Leser*innen dieser Sätze werden sich wundern, was beispielsweise Mexiko – das Land mit der weltweit höchsten Zahl von Femiziden – und Libyen – das allgemein als „Failed State“ gilt – in dieser Liste zu suchen haben. Kristina Lunz erklärt dies ausführlich. Im Detail belegt Kristina Lunz, dass es nicht um eine reine Lehre geht, sondern um in sich kontroverse und widersprüchliche Prozesse.
Krieg und Frieden
Andrea Böhm beklagte in ZEIT Online am 19. Mai 2022 in einer Kolumne mit dem Titel „Kann ein Marder feministisch sein?“, dass der Gedanke der feministischen Außenpolitik als Begriff im Verlauf des Kriegs um die Ukraine wieder in den Hintergrund gerückt sei. Daran wären allerdings auch ihre „Verfechter*innen nicht ganz unschuldig. Auch sie reduzieren feministische Außenpolitik allzu leicht auf die These, dass Frauen unter bewaffneten Konflikten besonders schwer leiden, vor allem unter sexualisierter Kriegsgewalt, und folglich von politischen Akteur*innen besonders berücksichtigt werden müssen. Vergewaltigungen oder Zwangsprostitution durch Soldaten oder Milizionäre – ob als militärische Strategie oder nicht – sind ein horrendes Verbrechen, und es ist ein Verdienst feministischer Politiker*innen und Aktivist*innen, dass sie inzwischen völkerrechtlich geahndet werden.“ Die Mehrzahl der Getöteten – darauf verweist Andrea Böhm – seien jedoch nach wie vor Männer.
Die Opferperspektive alleine schafft noch keine Feministische Politik. Andrea Böhm: „Die besondere Empathie mit Frauen als Opfer ist gut gemeint. Aber sie unterstützt unwillentlich auch den Rückfall in die klassischen Rollenbilder, der mit fast jedem Krieg einhergeht: Männer zu den Waffen, um Frauen und Kinder zu beschützen.“ So gibt es inzwischen durchaus Widerstand und Kampagnen ukrainischer Feministinnen gegen das von der ukrainischen Regierung verhängte Ausreiseverbot für Männer. Die Gruppe „Femsolution“ betont die Sichtbarkeit von Frauen in der ukrainischen Armee.
Kateryna Turenko beschrieb am Vorabend des Internationalen Frauentags 2023 über die Perspektiven feministischer Politik und Sichtbarkeit auch nach dem Ende des Krieges. Sie gehört zur Feminist Initiative Group „The Right to Resist“, die bereits am 7. Juli 2022 ein Feministisches Manifest veröffentlichte (diesen Hinweis verdanke ich Steffen Vogels Essay „Gezwungen zur Abschreckung – Das neue Gesicht Europas“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 04/2023). Ein zentraler Satz des Manifests: „Abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg teilnehmenden Seiten verdammt, führt zu unverantwortlichen Lösungen in der Praxis. Wir bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als einem Mittel der Unterdrückung und als einem Mittel zur Selbstverteidigung.“ (Übersetzung des ersten Satzes NR, des zweiten Satzes Steffen Vogel) Es geht nicht nur um den aktuellen Krieg. Das Manifest enthält die wesentlichen Inhalte einer Feministischen Politik, die auch die Rechte von LBTTIQ*-Menschen umfasst. Die zentralen Punkte sind „Sichtbarkeit“ und „Anerkennung“. Vergleichbare Beispiele ließen sich zum Iran oder zu Afghanistan und manch anderem Land zitieren. Feministische Revolten und Revolutionen sind letztlich Revolten und Revolutionen für Menschenrechte.
Sind alle Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen, auch bekennende Feminist*innen? Nicht unbedingt. Vielleicht hilft die Definition, die Chimamanda Ngozi Adichie vorschlägt: „Feminist(in): Eine Person, die an die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichheit der Geschlechter glaubt.“ Gerade das Beispiel Belarus belegt, dass die Entdeckung und Verbreitung der Rechte von Frauen ein langer Prozess ist. Olga Shparaga berichtet in ihrem Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht – Der Fall Belarus“ (Berlin, edition suhrkamp, 2021): „Während der zwei Wochen im Gefängnis kam ich mit mehr als zwanzig Frauen zusammen. Die jüngste war 18, die älteste 63. Sie hatten die unterschiedlichsten Ausbildungen und Berufe. Keine einzige bereute, sich den Protesten angeschlossen zu habe Die meisten zeigten sich entschlossen, den Kampf fortzuführen. Doch nur wenige dieser Frauen verstanden sich als Feministin. Manche waren nicht bereit, sich mit dem stereotypen Frauenbild in Belarus auseinanderzusetzen. Fast alle aber unterstützten die Aussage des Vereinigten Teams, dass die gesamte Gesellschaft aufbrechen müsse, dass alle verantwortlich für den Wandel sind, Frauen wie Männer.“
Andrea Böhm verweist auf Debatten um die finanzielle Ausstattung von Militär – Stichwort Sondervermögen für die Bundeswehr – und die finanzielle Ausstattung von zivilen Prozessen, auch von Friedensprozessen. An den Verhandlungstischen sitzen nach wie vor vorwiegend Männer, oft solche, die maßgeblich für den Terror gegen die Zivilbevölkerung verantwortlich sind. Ein bedenkenswertes Beispiel: die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1973 an Henry Kissinger und Lê Đức Thọ. Was – so Andrea Böhm – wünschenswert wäre: „Außerdem ein bisschen Geld für den Bundestag, damit dieser Deutschlands Militärmissionen der letzten Jahre endlich einmal entlang der Ziele einer feministischen Außenpolitik auswertet – am besten auch im Beisein von Malier*innen und Afghan*innen. Und irgendwann lädt vielleicht auch ‚Hart aber Fair‘ ein zum Thema: ‚Feministische Außenpolitik – altes Gedöns oder neuer Weg?‘“
Auch die Diskriminierung von Frauen in der Armee wäre ein Thema. Julia Friedrich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global Public Policy Institute in Berlin hat zu diesem Thema geforscht. In einem Gespräch mit Hannes Soltau im Berliner Tagesspiegel vom 6. August 2022 mit dem Titel „Im Veteranenverein gibt es keinen Wickeltisch“ berichtet sie von fehlender auf Frauen zugeschnittener Kleidung in der Armee, von unzulänglicher medizinischer Versorgung von Frauen, von despektierlichen Äußerungen von Männern, die unterstellen, dass Frauen in der Armee doch nur einen Mann suchten. Es gibt allerdings auch Gegenbewegungen: „Ein erfolgreiches Beispiel für den Abbau der gesellschaftlichen Stigmatisierung ist die Kampagne ‚Unsichtbares Bataillon‘ von Maria Berlinska und ihren Kolleginnen vom ‚Ukrainian Women Veteran Movement‘. Diese wurde bereits 2014/2015 ins Leben gerufen. Dazu gibt es auch einen Dokumentarfilm.“ Der Film dokumentiert sechs Geschichten. Manches, was die Frauen berichten, im Guten wie im Schlechten, lässt sich auch in den von Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ dokumentierten Berichten von sowjetischen Frauen aus dem Zweiten Weltkrieg finden (deutsche Ausgabe 2008 bei Suhrkamp). Alles nichts Neues, weder im Osten noch im Westen, weder im Süden noch im Norden.
Margot Wallström formulierte in dem oben zitierten ZEIT-Interview ihren Wunsch an den ukrainischen Präsidenten: „Ich würde mir wünschen, dass Präsident Selenskij Frauen öfter eine Bühne bieten würde. Er sollte einerseits betonen, wie Frauen von diesem Krieg betroffen sind, aber andererseits vor allem auch zeigen, was sie in der aktuellen Situation alles beitragen. Wie sie kämpfen. Auch sie leiden und sterben für die Freiheit der Ukraine. Ich würde mir wünschen, dass er sie sichtbarer macht.“
Ein erweiterter Sicherheitsbegriff
Feministische Außenpolitik wird – so ist der Eindruck nach Lektüre der Reaktionen auf das zitierte Papier von Annalena Baerbock – gerne als naiv-grüner Spleen, als Kuriosität aus der grünen liberalen Ecke abgetan. Das Konzept ist jedoch letztlich eine grundlegende Neukonzeption des Wertekompasses von Außenpolitik. Darauf wies mich Ursula Stark Urrestarazu hin, die sich intensiv mit der Genese und Umsetzung von Friedensprozessen auseinandergesetzt hat. Ziel feministischer Außenpolitik ist ein Begriff Menschlicher Sicherheit („Human Security“), ein Begriff, der um die Jahrtausendwende entstanden ist. Es ging damals darum, eine Lücke in den Millenium Development Goals (MDG) zu schließen, den Vorgängern der heutigen Sustainable Development Goals (SDG).
Frieden und Sicherheit spielten in den MDG keine Rolle, in den SDG sind sie als Ziel 16 enthalten: „Promote just, peaceful and inclusive societies“. Dies korrespondiert mit Ziel 5 „Gender Equality“. Es geht somit um ein erweitertes Konzept der Menschlichen Sicherheit sowie die Anwendung der Gleichstellung beziehungsweise Gleichberechtigung der Geschlechter in diesem Sicherheitskonzept. Einer der Vertreter des Konzepts der Menschlichen Sicherheit ist Andrew Mack sel.A. von der Universität Vancouver. Er hat dort ein „Human Security Center“ gegründet und einen Atlas zur menschlichen Sicherheit herausgegeben. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat 2013 eine Übersicht von Thorsten Nieberg veröffentlicht, die zeigt, dass der Begriff der Menschlichen Sicherheit den Sicherheitsbegriff von der staatlichen auf die individuelle Ebene hin erweitert. Zur Frage, wie ein konsensfähiger Begriff der Menschlichen Sicherheit formuliert werden könnte, gehört die Frage, ob ein eher breites Konzept angemessen wäre, dass neben der „Freiheit von Furcht“ die „Freiheit von Mangel“ enthalte oder ob man sich auf „Freiheit von Furcht“ beschränken solle.
Ein Dossier der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags von 2006 verweist darauf, dass der Begriff der Menschlichen Sicherheit erstmals im Jahr 1994 im damaligen Entwicklungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) verwendet wurde. Die wissenschaftlichen Dienste verweisen auf verwandte Begriffe wie „Good Governance“ und „Strukturelle Stabilität“. Das BMZ wendete den Begriff im Kontext der Armutsbekämpfung an. 2004 beschloss die Bundesregierung einen Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Ein Sonderbericht der UNDP zur Menschlichen Sicherheit erschien im Jahr 2022.
Auch an diese Dokumente und Beschlüsse schließt das Papier von Annalena Baerbock an. Alle Ressorts der Bundesregierung, die sich heute mit Sicherheit befassen, wenden den Begriff in einer breiten Bedeutung an. Es geht um mehr als die Abwesenheit von Gewalt, es geht um Wohlstand, Stabilität, gleichberechtigte Teilhabe, Zugang zu Bildung, Gesundheit, menschliche Entwicklung, Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu Medikamenten, all das, was Menschen brauchen, um ohne Beeinträchtigungen leben zu können und sich zu entfalten. Das bezieht sich nicht nur auf Frauen, auch auf ethnische Minderheiten, auf Menschen mit Behinderungen, auf sexuelle Identitäten. Gleichzeitig sollten wir daran erinnern, dass in der Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland!) erst in den 1970er Jahren Frauen das Recht erhielten, ohne Zustimmung des Ehemanns einen Beruf zu ergreifen oder ein Bankkonto zu eröffnen. Heute noch gilt in deutschen Standesämtern auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen dem damaligen Deutschen Reich und dem damaligen Iran aus dem Jahre 1929 (!), dass mit dem Ziel einer Anerkennung der in Deutschland geschlossenen Ehe einer Iranerin mit einem Deutschen auch im Iran sie die im Iran erforderliche Zustimmung ihres Vaters beizubringen habe.
Nun ließe sich annehmen, dass es für mehr oder weniger alles, was Gegenstand der Menschlichen Sicherheit ist oder sein sollte, eine UN-Konvention gibt. Kristina Lunz nennt neun Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen, von denen die Bundesrepublik Deutschland acht ratifiziert hat. Zu diesen Abkommen gehören die Frauenrechtskonvention (CEDAW), die Kinderrechtskonvention (CRC) und die Behindertenrechtskonvention (CRPD). Noch nicht ratifiziert hat Deutschland die Internationale Konvention zu Schutz der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICMW). Darüber hinaus nennt Kristina Lunz zehn UN-Resolutionen der WPS-Agenda („Women, Peace and Security“) im Sinne von Ziel 16 der SDG.
Diese Beschlüsse werden jedoch in der politischen Praxis oft genug nicht zusammengedacht, der Begriff der Menschlichen Sicherheit wäre jedoch geeignet, die verschiedenen Politikfelder zu bündeln und aufeinander abzustimmen. Es geht um einen Wertekompass, eine Art Wertekanon, der sich beispielsweise auf diplomatische Prozesse anwenden ließe, um die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen oder von Frauen im Militär, auch um die Beteiligung von inter- und transsexuellen Menschen.
Der Begriff der Feministischen Außenpolitik allein enthält allerdings diese Verbindung noch nicht. Diese Kritik sollte ernstgenommen werden, damit der Begriff nicht als Plädoyer für eine sektorale Politik im Interesse einer bestimmten Zielgruppe verstanden wird. Es geht um ein umfassendes Konzept von Außenpolitik und von Sicherheit. Gerade im Sicherheitsbegriff sehen viele Politiker*innen und auch in der Regel Mehrheiten der Öffentlichkeit ausschließlich militärische Kontexte. Aber auch im deutschen Verteidigungsministerium denkt man inzwischen ganzheitlicher. Dort wird der Begriff der Menschlichen Sicherheit in der Formel Vernetzte Sicherheit erfasst.
Markus Meckel, Außenminister der demokratischen Regierung der DDR im Jahr 1990 und anschließend langjähriger Abgeordneter im Deutschen Bundestag, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Sicherheit nicht nur militärisch, sondern auch zivil verstanden werden muss. In einem gemeinsamen Aufruf mit Andreas Weigel hat er im Deutschen Bundestag eine Enquête-Kommission zur Reform der Sicherheitspolitik vorgeschlagen: „Der Handlungsrahmen für deutsche Sicherheitspolitik reicht heute von nationaler Sicherheitsvorsorge, über weltweite Krisenprävention und Krisenbewältigung bis zur Konfliktnachsorge. (…) Alle diese Instrumente müssen besser verzahnt und integriert werden. Sicherheitspolitik erfordert heutzutage ressortübergreifendes Denken und Handeln. Blockaden der Information und Koordination müssen überwunden werden.“ (in: Markus Meckel, Zeitansagen – Texte und Reden aus zwei Jahrzehnten, ibidem Sachbuch, 2019) Leider kam diese Enquête-Kommission nicht zustande. Zu dieser Initiative hätte auch die 2018 erhobene Forderung der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) nach einem feministischen UN-Sicherheitsrat gepasst, zu der auch – so referiert Kristina Lunz – der Ausbau der „Zusammenarbeit mit feministischer Zivilgesellschaft“ und „Gender-Konflikt-Analysen“ gehören.
Zu diesem erweiterten Sicherheitsbegriff passen – dies der Vollständigkeit halber – diverse Studien, die belegen, dass der Zugang von Frauen zu Bildung, zu Mikrokrediten für die Gründung eines kleinen Unternehmens, zu Verhütungsmitteln und gegebenenfalls einem Schwangerschaftsabbruch, zu Gesundheitsversorgung, unmittelbare Auswirkungen auf die Bekämpfung von Armut, auf die Generierung von Wohlstand hat. Dann haben Zivilgesellschaft, Demokratie eine Chance. Feministische Außenpolitik und Feministische Entwicklungszusammenarbeit sind zwei Seiten derselben Medaille.
Die „Manifest Destiny“ des „Westens“
Wenn nun aber Ministerien aus dem sogenannten „Westen“ eine solche Politik verfolgen, besteht immer die Gefahr des „Westsplaining“. Hinweise auf feministische, auf demokratische Entwicklungen können – angesichts der Geschichte verständlich – als eine Art von Neokolonialismus verstanden werden, eine Auffassung, die sich dann beispielsweise ein Land wie China zunutze macht. Auch andere Staaten, beispielsweise der Iran, sehen sich als Speerspitze eines anti-imperialistischen Kampfes, in dem der „Westen“ der Gegner und in dem Frauenrechte, Kinderrechte, Bildung, Gesundheitsvorsorge sehr schnell zu einem ihnen fremden und daher abzulehnendem Anliegen abgewertet werden. Kristina Lunz sieht darin „einen faden, neokolonialen Beigeschmack, als ob Länder wie Deutschland es nicht nötig hätten, die eigene Politik feministischer zu gestalten“, eine Variante des „White Savior“-Komplexes, der schon den Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts prägte. Und nicht nur in Deutschland. Kristina Lunz berichtet, wie der damalige US-Präsident Donald Trump 2019 eine deutsche Initiative im UN-Sicherheitsrat scheitern ließ. Trump verhinderte eine Resolution, die in kriegerischen Konflikten vergewaltigten Frauen den Zugang zu Abtreibungen garantieren sollte.
In diesem Kontext lohnt sich die Lektüre von Felwine Sarrs Buch „Afrotopia“, das Beate Blatz im März 2023 im Demokratischen Salon vorgestellt hat. Der senegalesische Autor dekonstruiert die Begriffe der „Entwicklung“ und der „Moderne“. Er beschreibt die erfolgreiche Strategie Japans, dem in der Meiji-Periode die „Einbeziehung westlicher Technik“ und die Bewahrung „des lebendigen Herzens der eigenen Tradition“ gelungen sei. Felwine Sarr fordert „eine Neu-Erzählung der Moderne (…), die auf die Unterschiedlichkeit ihrer Manifestationen ebenso besteht wie auf ihre fernab vom westlichen Kernland gelegenen Schauplätze.“
Mit dem israelischen Soziologen Shmuel Eisenstadt sel.A. spricht Felwine Sarr „von der Existenz unterschiedlicher Modernen“. „Die Übertragung des westlichen Fortschrittsmythos hat eine Zerstörung des Grundcharakters der gesellschaftlichen Gruppen Afrikas zur Folge gehabt, ebenso der vorhandenen Solidaritätsnetzwerke und ihrer Bedeutungszusammenhänge.“ In diesem Kontext ist „‚Entwicklung‘ (…) eine Ausdrucksform jener westlichen Unternehmung, die darin besteht die eigene Weltanschauung vermittels der eigenen Mythen und Vorstellungen von gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit in anderen Erdteilen zu verbreiten.“ In anderen Worten: es ist – ganz im Sinne der Besiedlung des nordamerikanischen Westens – eine Art „Manifest Destiny“ des Westens, die darüber hinaus noch oft genug religiös begründet und überhöht wurde.
Feministische Außenpolitik ist eben nicht nur Außenpolitik. Sie kann nicht verordnet werden, sondern muss sich aus den jeweiligen politischen Prozessen in all ihrer Komplexität ergeben. Vergleicht man die heutige Außenpolitik von Annalena Baerbock mit der Außenpolitik von Joschka Fischer, lassen sich einige Veränderungen feststellen. Joschka Fischers Außenpolitik basierte mit der Entscheidung zum Eingriff im Konflikt zwischen Serbien und Kosovo im Kontext des Zerfalls Jugoslawiens auf dem Grundsatz „Nie wieder Auschwitz“. Dieser Grundsatz gilt nach wie vor, auch wenn es verschiedene Versionen des „Nie wieder“ geben kann, je nach Lage. Interessanter wäre heute vielleicht die Formel „Nie wieder wehrlos“, die natürlich das „Nie wieder Auschwitz“ einschließt, aber auch deutlich macht, dass militärische Sicherheit und zivile Sicherheit untrennbar miteinander verbunden sind. Die Sicherheit von Frauen, von Kindern, von Familien, der Zivilbevölkerung wird an vielen Orten der Welt bedroht, in der Ukraine durch russisches Militär, in Israel durch Angriffe palästinensischer Terrorgruppen, sodass militärische Sicherheit als Voraussetzung ziviler Sicherheit fungiert.
Ownership und Empowerment
Felwine Sarr plädiert im Anschluss an Martha Nussbaum für eine Politik der „Sorge“ („Care“), der es gelingt, den spezifischen (eigenen und besonderen) Bedürfnissen und Vorlieben der Individuen gerecht zu werden und einen Raum für deren Befriedigung bereitzustellen.“ Es gelte, „die Klippe des Ökonomismus zu umschiffen und die Ökonomie wieder in ein umfassenderes Gesellschaftssystem zu integrieren.“ Hier steht wiederum die zivile Sicherheit im Vordergrund des Konzepts.
Auf der Münchener Sicherheitskonferenz hatte Kristina Lunz 2020 gefordert, wir müssten auf allen Ebenen „Geschlechterkonfliktanalysen zum Standard machen“. Diese müssten sich an den jeweiligen lokalen Gegebenheiten orientieren. Wer sich beispielsweise mit dem Thema der Schulbildung von Mädchen, der Gesundheitsvorsorge (einschließlich der reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen) oder der weiblichen Genitalverstümmelung befasst, die lokalen Akteur*innen aber nicht berücksichtigt, wird spätestens scheitern, wenn die westlichen Aktivist*innen das Land wieder verlassen haben.
Es geht um die Stärkung von „Ownership“ und um „Empowerment“. Der Erfolg jeden einzelnen Projekts hängt vom Grad der Vernetzung ab sowie von der Berücksichtigung von Querschnittthemen. Dies lässt sich an dem im Westen angesichts der fortgeschrittenen Säkularisierung eher fremd erscheinenden Kontext der Religion erläutern. Religion ist Gegenstand des Projekts „Religion Matters“ der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Gegenstand war beispielweise ein Anti-Korruptionsprojekt, für das die Kirchen gewonnen werden sollten, da etwa 98 Prozent der ugandischen Bevölkerung sich als religiös verstehen. Das Projekt wurde Thema eines Hirtenbriefes mit dem Titel „Enhancing Voice and Action on Integrity and Ethical Conduct for Religious Leaders in Uganda”. In Mali wurden „56 religiöse und traditionelle Autoritäten (davon 26 weibliche Autoritäten) geschult und 110 Predigten mit Bezug zur Genitalverstümmelung und geschlechtsbasierter Gewalt abgehalten. Dazu wurden 80 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auf Gemeindeebene ausgebildet und 60 Mütter zu Kinderrechten und den Risiken der Genitalverstümmelung geschult, die ihr Wissen an 800 Frauen weitergaben.“ In Jordanien wurde mit Unterstützung der Regierung eine Predigerin für ein Projekt zur Bewirtschaftung des knappen Guts Trinkwasser gewonnen: „Atika Almomany organisiert Trainings, vermittelt Frauen Grundkenntnisse im Klempnern und steht ihnen auch in alltäglichen Situationen mit religiösem Rat zur Seite.“
Die „Ambivalenz der Wirkung von Religionen“ ist den Akteur*innen von „Religion Matters“ bewusst. „Diese wird sichtbar, wenn Menschen in ihrem Namen andere ausgrenzen, Gewalt schüren, die Legitimation demokratisch gewählter Regierungen untergraben, Reformen ausbremsen oder Gesundheitsangebote wie Impfungen in Frage stellen. Gerade weil religiöse Akteurinnen und Akteure in so vielfältiger Weise einflussreich sind, müssen sie ernst genommen und in gesellschaftliche Veränderungsprozesse einbezogen werden.“ Die Frage ist letztlich, ob es sich um einzelne Initiativen handelt oder möglicherweise doch um „Democracy in the nutshell“, sodass es lediglich eine Frage der Zeit ist, bis diese Projekte auch flächendeckend wirken, ungeachtet aller denkbaren Rückschläge, deren schlimmste wir zurzeit in Myanmar und in Afghanistan erleben.
Democracy in the nutshell
Auf der Ebene der deutschen Ministerien ist die Abstimmung zwischen Auswärtigem Amt (AA) und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) essenziell. Da gibt es durchaus Konkurrenzen. Eine wesentliche Entwicklung war die Änderung des Namens des BMZ, das lange Zeit Entwicklungs(hilfe)ministerium war. Das BMZ entstand aus dem 1949 gegründeten Ministerium für Angelegenheiten des Marshallplans. Es wurde einige Jahre später in Bundesschatzministerium umbenannt. Adressat war Deutschland selbst, andere Länder waren noch nicht Gegenstand der Arbeit. Dies änderte sich mit dem Jahr 1961, als das Ministerium zum „Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ wurde. 1993 wurde es in Reaktion auf die Agenda 21, die im Jahr 1992 in Rio de Janeiro von 193 Staaten beschlossen wurde und den Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“, einen ursprünglich forstpolitisch definierten Begriff, zum politischen Ziel erklärte, zum „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Kapitel 24 der Agenda 21 befasst sich mit Geschlechtergerechtigkeit. Als besonders dringlichen Handlungsbedarf formuliert die Agenda 21: „24.6 Die Länder sollten dringliche Maßnahmen zur Verhütung der rapide voranschreitenden Verschlechterung der Umweltsituation und der wirtschaftlichen Lage in den Entwicklungsländern ergreifen, die in ländlichen Gebieten ganz allgemein das Leben der Frauen und Kinder beeinträchtigt, welche unter den Folgen von Dürren, Wüstenausbreitung und Waldvernichtung, bewaffneten Feindseligkeiten, Naturkatastrophen, Giftmüll und den Folgen des Einsatzes ungeeigneter agrochemischer Produkte zu leiden haben. / 24.7 Damit diese Ziele erreicht werden können, sollten Frauen voll und ganz in die Entscheidungsprozesse und in die Durchführung nachhaltiger Entwicklungsmaßnahmen einbezogen werden.“
Mit der Namenserweiterung des BMZ und der Agenda 21 wurde ein Mentalitätswandel eingeleitet. Paternalistische Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit gehörten der Vergangenheit an, zumindest sollten sie es. Ob sich diese Einstellung auch in der öffentlichen Wahrnehmung durchgesetzt hat, ist eine andere Frage. Die Neigung zur Darstellung vor allem afrikanischer Staaten als „Failed States“ dominiert nach wie vor die Presseberichterstattung. Afrikanische Staatschefs werden durchweg als korrupt, als Wahlfälscher, als nur an ihrem eigenen Vermögen interessierte Diktatoren dargestellt. Solche Staatschefs gab und gibt es, aber auf diese Weise werden alle bei genauerem Hinsehen offensichtlichen Entwicklungen ignoriert.
Einen Rückblick auf „zentrale Stationen des geschlechterpolitischen Vor und Zurück in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit“ bietet Birte Rodenberg auf der Seite der Heinrich Böll Stiftung. Sie benennt auch den Unterschied zwischen einem eher fürsorglich definierten Ansatz der traditionellen Frauenförderung und einer nachhaltigen Genderstrategie, die Frauen aktiviert, ermutigt und in ihren Anliegen und Politiken stärkt und eben nicht nur als Objekt und Opfer versteht. Sie fordert von „Gender und entwicklungspolitischen Ansätzen (….), dass sie machtkritisch bleiben.“ Eben dies ist auch das Anliegen von Felwine Sarr, das er in „Afrotopia“ ausführlich beschreibt und begründet und das – auch wenn er den Begriff nicht verwendet und auch keine eigenen genderpolitischen Aspekte benennt – durchaus mit Feministischer Außenpolitik kompatibel ist.
Eine Feministische Außenpolitik, die sich als Teil des umfassenden Konzepts der Menschlichen Sicherheit versteht, könnte genau dort beginnen, wo Felwine Sarrs Konzept endet. In den Worten von Kristina Lunz: „Wie viel Utopie ist möglich angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten? Doch hier bin ich mir sicher: Wenn eine Gesellschaft derart ungerechte Tatsachen produziert wie unsere, sollten wir maximal utopische Forderungen stellen – also laut nach einer gerechten Welt rufen. Wenn wir maximal utopisch fordern, dann erreichen wir im ersten oder zweiten Schritt vielleicht ein Ergebnis, auf das wir aufbauen können.“ In diesem Sinne ist die Initiative von Annalena Baerbock vielleicht doch so etwas wie eine konkrete Utopie, die es eigentlich schon lange gibt oder besser gesagt: hätte geben können.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2023, Internetzugriffe zuletzt am 5. April 2023. Für Anregungen und viele wichtige Hinweise danke ich Beate Blatz und Ursula Stark Urrestarazu.)