Fünfte Gewalt oder fünfte Kolonne?
Zehn Thesen zur politischen Bildung
„Ghandi erkannte ähnlich wie Nietzsche, dass im Zeitalter des Pluralismus und der multiplen Perspektiven bereits die Tendenz zu einem Zeitalter des Nihilismus steckte – wo der Mangel an einer Gemeinsamkeit des Verständnisses, des Sinns und der Gemeinschaft das globale Dorf zum Schauplatz des globalen Bürgerkrieges macht. Gandhi erkannte auch – wie es die Philosophin Martha Nussbaum formuliert hat – dass die demokratische Politik lernen muss, die innere Welt der Menschen zu kultivieren, jeden einzelnen Bürger mit der Kraft auszurüsten, dass er der Leidenschaft nach Dominanz widerstehen und die Wirklichkeit und Gleichheit anderer akzeptieren kann.‘“ (Pankaj Mishra, Gandhis Vermächtnis, in: Lettre International 126, 2019)
Pankaj Mishra schrieb dies anlässlich aktueller Debatten über die Bedeutung und das Vermächtnis Gandhis. Der Hintergrund: An der University of Ghana wurde eine Büste Gandhis entfernt, in Südafrika eine Statue beschädigt, in Indien werden Menschen aus dem Umfeld seines Mörders geehrt. Seine Diagnose: Aktuelle politische Debatten werden nicht mit dem Ziel geführt, eine Einigung im Sinne möglichst vieler Menschen zu erreichen, sondern schließen geradezu eine solche Einigung aus.
Gandhi hingegen (alle Zitate Gandhis nach Mishra): „Wir verschließen die Türen der Vernunft, wenn wir uns weigern, unseren Gegnern zu lauschen, oder ihnen zwar zuhören, sie dann aber anschließend verspotten. Wenn die Intoleranz habituell wird, riskieren wir, die Wahrheit nicht mehr zu sehen.“ Gandhi befürchtete, als er diese Sätze um das Jahr 1925 schrieb, dass demokratische Staaten „offen totalitär werden“. Er begründet dies mit bestehenden und andauernden „Ungleichheiten, die auf Besitz oder Besitzmangel, Farbe, Rasse, Glaube oder Geschlecht beruhen“. Demokratie könne sich nicht durchsetzen, „solange der Abgrund zwischen den Reichen und den hungrigen Millionen weiter existiert.“
Aus heutiger Sicht könnten diese Sätze Gandhis als Grundlagen einer sozialliberalen Demokratie gelesen werden, einer Demokratie, in der Liberalismus und Sozialstaat nicht Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen und voraussetzen. Als Grundlage eines Sozialstaats sollte heute darüber hinaus die Ökologie im Sinne nachhaltiger Entwicklung, einer die Generationen übergreifenden Gerechtigkeit, genannt werden. Dann wäre das Bild des Zusammenspiels materieller Sicherheit und persönlicher Freiheitsrechte komplett. Politische Bildung hätte in diesem Konzept die Funktion einer Fünften Gewalt und somit einen eigenständigen Auftrag zur Stärkung liberaler Demokratie. Das Gegenbild wäre Exklusion als Programm, politische Bildung als Fünfte Kolonne illiberaler Politik.
These 1: Der Ort der Politischen Bildung ist immer mehr die informelle Bildung
Politische Bildung findet nicht nur in Schulen, Universitäten und Volkshochschulen, statt. Sie findet auch informell statt, im privaten wie im öffentlichen Raum.
Der private Raum ist in höchstem Maße politisch belegt, wenn – wie es einige Studien plausibel belegen – die Menschen heute selbst dort, wo alle geregelten Zugang zu formeller Bildung haben, mehr als 70 % ihres Wissens in informellen Bildungsprozessen erwerben, in den Medien, in Peer Groups, in sozialen Netzwerken, durch das, was man oder frau so aufschnappt, durch das, was sich wie ein Lauffeuer verbreitet oder auch die Botschaften, die eher in abgeschotteten und sich abschottenden Zirkeln vagabundieren. Denkbar wäre die These: Je schwieriger der Zugang zu formeller und nicht-formeller Bildung, desto höher die Bedeutung und Wirkung informeller Bildung.
Internet und soziale Netzwerke verstärken die Verwischung der Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum. Pankaj Mishra: „Twitter und Facebook haben die alte Technologie, die noch eher Informationen verbreitete, dezentralisiert. Jedermann kann über Ereignisse berichten und Meinungen und Wahrnehmungen erschaffen, ohne dass es irgendeines Gefühls der Verantwortlichkeit bedürfte. Und jedermann kann sich irgendeinem der kämpfenden Stämme dort draußen anschließen und für dessen Position kämpfen – tatsächlich ist Twitter ein Schlachtfeld, auf dem rund um die Uhr der Kampf tobt.“
These 2: Politische Bildung muss sich öffnen – raus auf die Marktplätze
Wir sind die „Guten“ – das ist das Mantra vieler Akteur*innen der politischen Bildung, von Gruppen, die sich für den Klimaschutz, für die Menschenrechte, für die Rechte welcher Minderheit auch immer, gegen illiberale Politik einsetzen. Eine ständige Parole angesichts der jüngsten Wahlergebnisse in den Ländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR lautet: die brauchen mehr politische Bildung, die brauchen Politikunterricht in den Schulen, die müssen zu uns kommen.
Andererseits wächst die Bereitschaft von Bürger*innen, sich zu welcher politischen Frage auch immer zu positionieren. Gerade junge Menschen – so ein Ergebnis nicht nur der Shell-Jugendstudie 2019 – interessieren sich mehr für Politik als noch vor einigen Jahren. Im öffentlichen Raum, auf den Straßen, äußern sich Menschen, von denen vor einigen Jahren niemand gedacht hätte, dass sie sich jemals äußern würden. Die Teilnahme an Demonstrationen ist heute relativ leicht, vor allem dann, wenn diese dezentral organisiert sind. Ein wenig erinnert dies an die Entstehungszeit der sogenannten „Ostermärsche“. Das gilt für Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände oder #unteilbar, auch für Gruppen wie Maria 2.0 in der katholischen Kirche. Das ist die eine Seite. Eine andere Seite sind PEGIDA und andere Veranstaltungen dieser Art, die fast immer auch Gegenveranstaltungen der erstgenannten Seite motivieren.
Dieses öffentliche Engagement ist eine Chance, auch für die politische Bildung. Dialog über Konflikte und Proteste könnte mehr Verständnis und Respekt schaffen. Ängste, Ignoranz und Verweigerung des Gesprächs ähneln eher der gängigen Interpretation der Politik der berüchtigten drei Affen, obwohl diese vielleicht viel schlauer sind als manche Menschen, denn jeder der drei behält zwei Sinne offen. Das wäre eine andere Interpretation des Bildes: Multiperspektivität! Nur gemeinsam bekommen wir ein vollständige(re)s Bild.
Politische Bildung wäre meines Erachtens erfolgreicher, wenn sie sich auf die Marktplätze begäbe. Eine Bildungseinrichtung könnte vor Ort kontroverse Themen moderieren, nicht neutral, aber unvoreingenommen. Sie würde Fünfte Gewalt.
These 3: Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist nicht verhandelbar
Die AfD fordert in den letzten Jahren von der Schule, von Journalist*innen immer wieder Neutralität. Jede Äußerung, die sie als Kritik an ihrer Programmatik verstehen könnte, habe zu unterbleiben. In einigen Ländern hat die AfD Meldeportale eingerichtet, über die Eltern und Schüler*innen Lehrer*innen anzeigen sollten, die sich kritisch zu ihren Positionen äußern. Mit ähnlichen Anliegen wurden türkische und polnische Generalkonsulate bei Landesministerien vorstellig. Sie forderten Neutralität gegenüber der polnischen bzw. türkischen Regierungspolitik, sprich: das Unterlassen von jedem Widerspruch gegen diese Politiken.
Die KMK hat sich eindeutig positioniert: Sie hat die Meldeportale verurteilt und festgestellt: Der Beutelsbacher Konsens fordert mitnichten Neutralität, sondern klare Kante „im Geiste der Demokratie“. Ein Zitat aus der KMK-Empfehlung zur Demokratie: „Werden in der Schule kontroverse Thematiken behandelt, haben Lehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, den Unterrichtsgegenstand multiperspektivisch zu beleuchten, zu moderieren, bei Bedarf gegenzusteuern, sowie Grenzen aufzuzeigen, wenn diese überschritten werden. Voraussetzung für die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses ist somit eine Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte.“
Eine Gleichberechtigung demokratischer und antidemokratischer Positionen gibt es nicht. Verletzende und stigmatisierende Äußerungen müssen zurückgewiesen, Invektiven gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss widersprochen werden. Die Menschenwürde ist unantastbar. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist nicht verhandelbar. Alles andere ist diskutabel.
These 4: Zu jeder Frage gibt es eine Gegenfrage
Es hilft nicht, diejenigen, die illiberale Ansichten äußern, mit R-Wörtern, als „Rechte“ und „Rassisten“, oder mit dem F-Wort, als „Faschisten“ zu beschimpfen. Dies führt nur dazu, dass die Beschimpften sich verbal distanzieren, aber in ihren Einstellungen nur bestärkt fühlen.
Vielleicht war der Versuch von Frank Richter, damals als Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, heute Landtagsabgeordneter der SPD, richtig, den Dialog mit Akteur*innen von PEGIDA anzubieten. Vielleicht war es richtig, dass sich Sigmar Gabriel in eine solche Versammlung hineinsetzte. Ich plädiere nicht dafür, Björn Höcke oder Götz Kubitschek einzuladen, ganz und gar nicht. Es wäre aber wichtig, mit denen zu sprechen, die deren Versammlungen besuchen.
Elisabeth Kagermeier hat am 10. Januar 2019 in der ZEIT Ali Cans #MeTwo-Initiative vorgestellt: „Ali Can ging schon 2015 auf Pegida-Demos und wollte mit Islamgegnern ins Gespräch kommen. Er richtete eine ‚Hotline für besorgte Bürger‘ ein, bei der bis heute jede Woche Leute anrufen. Jetzt will er die Menschen, die er dabei kennengelernt hat, nach Essen in sein Zentrum holen. 2017 diskutierte er vor dem Brandenburger Tor mit dem Chef der Jungen Alternativen. Danach schrieb er auf Instagram, er habe auch Positives mitnehmen können aus dem Gespräch. Eine Aussage, für die jeder CDU-Politiker einen Shitstorm kassieren würde. Ali Can steht für Dialog, und zwar mit allen, das hat er von seinen Eltern gelernt.“
Man mag den Ansatz und die Schlussfolgerungen von Ali Can naiv nennen. Aber sein Vorbild ist jede Nachahmung wert, denn mit bloßer Verkündigung des „Guten“ ist niemandem geholfen. Vielleicht sollten Veranstaltungen, die auf Plakaten mit „N.N. spricht“ angekündigt werden, der Vergangenheit angehören. Vielleicht sollte es heißen: „Ihr*e Gesprächspartner*in“. Es gibt viele mutige Kommunalpolitiker*innen, die dies praktizieren. Diese bräuchten Ermutigung und Unterstützung auch von „ganz oben“, leider in manchen Fällen auch Polizeischutz. In solchen Formaten lassen sich vielleicht Widersprüche auflösen oder zumindest offen ansprechen.
Eine Gelegenheit wurde kürzlich verpasst. Als am Abend nach den Wahlen in Brandenburg und Sachsen gemutmaßt wurde, es gäbe jetzt mit den Stimmen von CDU und AfD in Sachsen eine „bürgerliche Mehrheit“, blieb dies unwidersprochen. Warum fragte niemand, was diejenigen, die dies sagten, mit „bürgerlich“ meinten? Eine Debatte darüber, wie sich die Begriffe des „Bürgerlichen“ bei AfD und CDU zueinander verhalten, hätte die Unterschiede deutlich gemacht. Leider gibt es eine öffentliche Debatte darüber, was denn „bürgerlich“ sein könnte, immer noch nicht. Ähnliches gilt für den Umgang mit behaupteten Fakten: „Woher wissen Sie das?“ „Wer sagt das?“
Die Strategie von Michael Kretschmer in Sachsen zeigte, dass und wie das funktionieren kann. Er betrieb „Haustürwahlkampf“ im großen Stil. Er hat es sicherlich nicht geschafft, alle von ihm angesprochenen Menschen, die der AfD zuneigen, von ihren Positionen abzubringen, aber es gelang ihm offenbar, manche in diesen Positionen zu verunsichern. Er schuf Vertrauen. Ein erster Schritt. Vergleichbares hat Bodo Ramelow in Thüringen getan und geschafft. Ein Ergebnis seiner Kampagne: auch unter CDU-Wähler*innen bescheinigen ihm viele, er sei ein guter Ministerpräsident. Eine ähnliche Strategie verfolgte Robert Habeck in Schleswig-Holstein. Politiker*innen müssen mit denen reden, die ihnen eben nicht von vornherein zuhören wollen.
Und warum sollte diese Form der Auseinandersetzung nicht auch zur Praxis politischer Bildung gehören? Damit wäre vielleicht auch ein Beitrag zur aktuellen Debatte um die „Meinungsfreiheit“ gewonnen. Allen Invektiven, Beleidigungen und Shitstorms von Seiten der „Rechten“ zum Trotz: Es bringt niemanden auch nur einen Schritt weiter, wenn Vortragende von Seiten der „Linken“ niedergebrüllt werden (wie kürzlich Bernd Lucke in Hamburg und Thomas de Maizière in Göttingen). Intoleranz kann man – auch wenn es schwerfallen mag – nicht mit Intoleranz bekämpfen. Wer konstruktiv diskutieren will, könnte sich auch einfach ins Auditorium setzen und mit Zwischen- und Gegenfragen zu Wort melden. Es reicht, sich zu zweit, zu dritt oder zu viert zu verabreden, auch auf das Risiko hin, selbst niedergebrüllt zu werden. Das dürfte erheblich wirkungsvoller sein als ein Niederbrüllen.
These 5: Regierung und Opposition brauchen einander
Die Lenin’sche Frage „Wer wen?“ lautet in der Demokratie „Wer mit wem?“ Nur leider wird sie angesichts der zu beobachtenden Diversifizierung des Parteienspektrums zurzeit diskutiert, als gelte es vor allem, bestimmte Konstellationen zu vermeiden. Sind demokratische Parteien wirklich untereinander alle und immer koalitionsfähig?
Der Vorsitzende der CDU in Brandenburg musste angesichts eines desaströsen Wahlergebnisses gehen, auch deshalb, weil er eine Zusammenarbeit mit der Linken, dem Gottseibeiuns all derjenigen, die sich für konservativ halten, als Möglichkeit nicht ausschließen wollte. Der Vorsitzende der CDU in Thüringen hat am 28. Oktober vielleicht Türen aufgestoßen, die andere in seiner Partei wenige Stunden später wieder zuschlugen. Minderheitenregierungen sind in Deutschland selten, hatten aber in der Vergangenheit durchaus Erfolg, beispielsweise in Sachsen-Anhalt unter Reinhard Höppner, in Nordrhein-Westfalen unter Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann.
Doch wie sieht es in anderen Staaten aus? Dort erleben wir die Macht einzelner Personen, denen es gelingt, politische Gegner als „Volksfeinde“, Verräter“ etc zu diffamieren. Für sie gilt in Umkehrung eines Satzes von Johannes Rau: „Spalten statt versöhnen“. Oft können sie sich auf eine absolute oder sogar Zwei-Drittel-Mehrheit in den Parlamenten stützen, obwohl die sie tragende Partei nur etwa 35 – 40 % der Stimmen erhielt. Mehrheitswahlrecht, Wahlmännerverfahren (the winner takes it all), ein Sitze-Bonus für die stärkste Partei, all dies erleichtert das Geschäft von Autokraten (ich wähle bewusst nur die männliche Form). Diese können Verfassungen und Parlamentsbeschlüsse ignorieren, eine unabhängige Rechtsprechung unter ihre Kontrolle bringen. Medien werden gleichgeschaltet, aufgekauft oder verboten, Oppositionsparteien schikaniert oder von Wahlen ausgeschlossen, Kritiker*innen mit fadenscheinigen Vorwürfen wie Beleidigung der nationalen Ehre oder des jeweiligen Präsidenten eingesperrt. Und wenn das alles nicht reicht, hilft der Vorwurf des Rowdytums, der auch die friedlichste Demonstration diskreditiert.
Das Verhältnis von Regierung und Opposition ist Indikator Nummer Eins für die Funktion einer parlamentarischen und rechtsstaatlichen Demokratie. Politische Bildung sollte das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, zwischen Regierung und Zivilgesellschaft, zwischen Parteien und außerparlamentarischen Initiativen immer wieder thematisieren. Mehrheiten können wechseln, die Regierenden verdienen ebenso Respekt wie die Opponierenden. Auch hier gilt das Spiel der Gegenfrage, institutionalisiert in der Gewaltenteilung. „Wer mit wem?“ ist keine exkludierende Frage. Sie inkludiert, bei Wahrung der Grundprinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats ebenso wie unterschiedlicher Auffassungen. Ein gehöriges Maß an Institutionenkenntnis gehört natürlich dazu, aber dies erwirbt niemand ausschließlich auf einer Schulbank. Institutionenkenntnis muss sich in der Praxis bewähren können. Politische Bildung muss Wege finden, Menschen diese Erfahrung demokratischer Prozesse in der Praxis zu ermöglichen.
These 6: Politiker*innen brauchen Mut
Bernd Ulrich plädierte am 12.10.2019 mit seinem Artikel „Von der Angst diktiert“ für eine Politik, die sich nicht von der Angst bestimmen lässt, Wähler*innen zu verprellen. Er verwies auf die Entscheidungen zur Westbindung, zur Wiederbewaffnung, zur Ostpolitik, die alle nur mit knappen, aber immer demokratischen Mehrheiten durchgesetzt werden konnten und verlangte dies für aktuelle Notwendigkeiten des Klimaschutzes (wahlweise auch „Klimakrise“ oder „Klimakatastrophe“ genannt): „Angela Merkel sagte, Politik sei halt die Kunst des Möglichen, und hat seither bei mehreren Gelegenheiten den Wert des Kompromisses in der Demokratie unterstrichen. Auch die Umweltministerin Svenja Schulze verteidigte das Paket im Gespräch mit der ZEIT so: „Man muss das demokratisch lösen.“ Dabei hatte niemand von Belang vorgeschlagen, zum Zwecke der Klimarettung die Demokratie infrage zu stellen. Dass die Regierung ihr Klimapaket dennoch weniger klimapolitisch, sondern demokratietheoretisch rechtfertigte, zielte auf etwas anderes: Merkel, Schulze und andere wollten sagen, dass sie das demokratisch maximal Mögliche beschlossen haben. Sie suggerierten damit, dass Forderungen, die deutlich darüber hinausgingen, nur noch mit undemokratischen Mitteln zu realisieren wären.“
Interessant ist, dass die Regierung das „maximal Mögliche“ zu einem Zeitpunkt verkündete, zu dem sie noch mit niemandem darüber gesprochen hatte, was denn maximal möglich und was unmöglich wäre, geschweige denn es jemandem erklärt hätte. Das „maximal Mögliche“ erscheint als gefühlte Größe vorauseilenden Gehorsams gegenüber einer Fiktion von Bürger*innenwillen. Mit Bürger*innenbeteiligung hat das nichts zu tun.
Aber nicht nur die Regierung hat offenbar der Mut verlassen, auch die Opposition scheint mutlos. Während die FDP nicht müde wird, jede nur vorstellbare Maßnahme zum Klimaschutz, zur Biodiversität, zur ökologischen Landwirtschaft, zur gesunden Ernährung als Einschränkung der persönlichen Freiheit zu brandmarken und statt dessen ausschließlich auf technologische Lösungen zu setzen, fürchten sich die Grünen, man könne ihnen eine neue Veggie-Day-Debatte anhängen.
Es gibt zwar laut Umfragen nicht mehr so viele Menschen, die der FDP so viel abgewinnen könnten, dass sie sie wählen würden, aber sie schafft es, Regierung und konkurrierende Oppositionsparteien mit ihrem Lamento zu verunsichern. Die Unterstützung solcher Positionen durch die ganz rechts im Bundestag sitzende Partei nimmt man dann gerne als Argument, dass zu viel Klimaschutz diese noch mehr stärken würde.
Politische Bildung könnte diese gegenseitigen Blockaden und Selbst-Blockaden aufbrechen helfen, durch Einmischung und Moderation, auch bei hoch kontroversen Themen. Sie könnte Menschen miteinander ins Gespräch bringen, die von selbst nicht auf die Idee kämen, dass sie miteinander sprechen sollten und könnten.
These 7: Politische Bildung ist keine Besserwisserei
Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sprach anlässlich des Festaktes „100 Jahre Volkshochschule in Deutschland“ in der Frankfurter Paulskirche über den „Bildungsauftrag des Grundgesetzes“ (nachlesbar in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 15. April 2019): „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vermieden es, der jungen Bundesrepublik einen paternalistischen Erziehungsauftrag zu verordnen; der Staat sollte nicht besserwisserisch belehren, von oben herab elitär bevormunden.“
Ein Paradox: Es gab und gibt kaum mehr politische Bildung als in den Ländern, in denen Demokratie und Liberalismus keine Rolle spielen. In der DDR gab es Pflichtbesuche in Buchenwald, Staatsbürgerkunde war tragendes Fach in der Schule, Staatsfeiertage wie der 1. Mai und der Gründungstag der DDR wurden gemeinsam mit Großdemonstrationen gefeiert, bei denen die örtlichen SED-Größen von der Tribüne herabwinkten. So in anderen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs, so in China.
Auch ursprünglich demokratisch verfasste Länder sind gegen ein solches Übermaß an politischer Bildung nicht immun: In der Türkei, in Russland, in Ungarn und in Polen, wo Politiker*innen und Parteien regieren, die sich wenig um Minderheitenschutz und Gewaltenteilung scheren, werden Schulbücher umgeschrieben, um die eigene Geschichte zu heroisieren und von jeder Kollaboration mit welchem Feind auch immer zu exkulpieren. Oppositionelle werden – vorsichtig gesprochen – zumindest schikaniert.
Das gilt auch für die Inanspruchnahme von Wissenschaft und Presse. Es reicht nicht aus, sich auf wissenschaftliche Ergebnisse und journalistische Recherchen zu berufen, um zu belegen, dass man oder frau recht haben, moralisch formuliert: zu den „Guten“ gehören. Und was von „wissenschaftlichem Sozialismus“ und „wissenschaftlich-technischer Intelligenz“ zu halten war, wussten in der DDR fast alle.
Der Vorwurf der „Lügenpresse“ mag seine Vorbilder auch in der Sprache des „Schwarzen Kanals“ des Karl-Eduard von Schnitzler haben. Dort wurde alles, was USA, BRD, NATO und andere Verkörperungen des Klassenfeindes von sich gaben, der „Lüge“ bezichtigt. Die Tweets von Donald Trump klingen übrigens kaum anders als der „Schwarze Kanal“. Die „Bösen“ – das waren und sind immer die anderen.
Grundsätzlich gilt: Rechthaberei hilft niemandem – mit Gelassenheit und Hartnäckigkeit lassen sich Angriffe auf Wissenschaft und Presse leicht dekonstruieren. Politische Bildung sollte allerdings jeden Eindruck vermeiden, sie gebe die Ergebnisse jeder politischen Analyse vor. Auch die Erarbeitung wissenschaftlicher Begründungen braucht den demokratischen Dialog, der die Freiheit des anderen respektiert, mit dem Mut zum Widerspruch und der Gelassenheit, Widerspruch zu ertragen.
These 8: Die Schule könnte, wenn man sie ließe
In Veranstaltungen zu Stand und Strategie politischer Bildung wird immer gerne auf die Schule verwiesen. Denn da müssen alle hin, da kann (fast) niemand weglaufen. Der Schule vorgeworfen wird, dass es zu wenig politische Bildung gebe, dass das Fach Politik nur randständig sei, die Lehrpläne zu viel Wert auf Wirtschaft legten (das taten übrigens schon die alten Lehrpläne zur Arbeitslehre, also gar nichts Neues), vier von fünf Politikstunden fachfremd unterrichtet würden, in der Lehrer*innenbildung Demokratie und Politik kaum eine Rolle spielten. Mitunter gibt es dann die grundsätzliche Frage, ob es denn so sinnvoll wäre, im Fach Politik Noten zu vergeben, eine Frage, die im Übrigen nach dem 9. November 1989 in den diversen Gremien zur Neuordnung der Bildungseinrichtungen der DDR intensiv diskutiert wurde.
Alles an dieser Kritik stimmt. Und doch stimmt es nur zum Teil. Die Kultusministerkonferenz (KMK) zumindest ist politischer als ihr nachgesagt wird. Sie beschloss zuletzt Empfehlungen zur Demokratie und zu den Menschenrechten (beide 2018), zur Erinnerungskultur (2014) sowie eine gemeinsame Erklärung mit dem Zentralrat der Juden (2016). Demokratie ist der Kern einer guten Schule, ganz im Sinne des Grundgesetzes, Partizipation die Methode.
Viel wäre erreicht, wenn diejenigen, die Lehrpläne schreiben, Abituraufgaben formulieren oder Fortbildung anbieten, die KMK-Empfehlungen ernst(er) nähmen. Wir müssen viel mehr als bisher Schulleiter*innen ermutigen, engagierte Lehrkräfte zu unterstützen, auch dann, wenn jemand aus der Elternschaft oder der örtlichen Kommunalpolitik protestieren könnte.
Wenn es darüber hinaus gelänge, dass Schüler*innen in ihrer Schulzeit immer wieder Gelegenheit hätten, konkrete demokratische Prozesse zu erleben, wäre viel erreicht. Ein Beispiel: Ein Gymnasium in der Nähe von Aachen lässt Schüler*innen lokalpolitische Themen auswählen, die ihnen wichtig sind. Es werden Anträge für den Stadtrat formuliert, Gespräche mit dem Bürgermeister und den Ratsfraktionen geführt, öffentliche Aktionen durchgeführt. Im Ergebnis werden oft genug die Ideen der Schüler*innen umgesetzt, nicht immer im vollen Umfang, aber es gibt immer zumindest ein Teilergebnis.
Das gibt es nicht nur dort. Die Buddy-Kinderrechteschulen und das Förderprogramm „Demokratisch handeln“ fördern und dokumentieren erfolgreiche Projekte dieser Art in allen Schulstufen und Schulformen, nicht nur in Gymnasien.
These 9: Politische Bildung braucht eine andere Förderstruktur
Eine Förderstruktur, die vorrangig Teilnehmende zählt, ist wenig geeignet, die hier skizzierten Grundlagen politischer Bildung umzusetzen. Wir müssen uns ferner von dem üblichen Gießkannenprinzip der Förderung verabschieden, das die Großen der Branche bevorzugt, die Kleinen, unter denen es viele höchst kompetente Initiativen gibt, aber an den Katzentisch der Projektförderung verweist.
Es gibt einige wenige große Einrichtungen, die es geschafft haben, über einen Mix von Finanziers so etwas wie eine quasi-institutionelle Förderung hinzubekommen und ihren Mitarbeiter*innen angemessene Gehälter zu zahlen. Bei vielen Initiativen ist dies jedoch nicht möglich. Die Mitarbeiter*innen sind befristet angestellt und wechseln daher häufig, sodass eine kontinuierliche Arbeit erheblich erschwert wird. Sie arbeiten oft irgendwo zwischen Ehrenamt und prekärem Beschäftigungsverhältnis, mit hoher Bereitschaft zur Selbstausbeutung.
Warum gibt es eigentlich keinen auf lange Sicht angelegten Demokratieförderplan wie es Kinder- und Jugendpläne gibt, auf Bundesebene und in den Ländern, warum nicht mehr institutionelle Förderung? Warum können Förderpläne nicht unter Beteiligung der Betroffenen erstellt werden, beispielsweise nach dem Modell der Planungszelle?
These 10: Die konkrete Utopie der politischen Bildung – Zivilisation und Empowerment
Grundrechtsklarheit braucht Klarheit Gelassenheit. Der kürzlich verstorbene Carlo Strenger nannte diese Strategie „Zivilisierte Verachtung“: „Eine Kultur der zivilisierten Verachtung beruht somit auf einer intellektuellen Selbstdisziplin, die dazu verpflichtet, Informationen zu sammeln und diese sorgfältig abzuwägen; und auf dem Willen diese Disziplin konsequent aufzubringen – genau darin besteht nämlich das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung. Zivilisierte Verachtung ist dann angebracht, wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen, weil sie es bequemer finden, Tatsachenbehauptungen zu akzeptieren, die zu ihren emotionalen oder weltanschaulichen Präferenzen passen, selbst wenn sich leicht Indizien finden lassen, die diesen Behauptungen widersprechen. Eine solche Tendenz zur kognitiven Verzerrung ist in allen Lagern zu finden“. (Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung – Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin, Suhrkamp, 2015)
Ein wenig erinnern die Worte von Carlo Strenger an die Beschreibung des Zivilisationsprozesses durch Norbert Elias. Das macht Hoffnung, denn letztlich setzten sich die Anliegen einer zivilisierten Gesellschaft immer wieder durch – Rückschläge unbenommen. Damit die Hoffnung Wirklichkeit wird, sind das Ziel der politischen Bildung die politisch aktiven Bürger*innen, die wissen, was sie tun.
In den Worten von Andreas Voßkuhle: „Ein Schlüssel zum status activus des Staatsbürgers ist Bildung. Bildung nicht im klassischen, die Ungebildeten ausschließenden Sinne, sondern Bildung verstanden als „Empowerment“ Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)