Kontextualisierung im Kontext

Plädoyer für eine andere Geschichtskultur

„Ich habe nichts gegen Kontextualisierung an sich, dennoch frage ich mich, warum es vielen so schwerfällt, erst mal die Dimension des Verbrechens an sich anzuerkennen und angesichts dieser unfassbaren Grausamkeit einen Moment innezuhalten, einen Moment still zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass nach den Massakern in Srebrenica während des Bosnien-Kriegs oder im ukrainischen Butscha sogleich die Forderung nach einer Kontextualisierung der Verbrechen erhoben wurde. Warum wird die Kontextualisierung ausgerechnet dann reflexhaft eingefordert, wenn Israelis abgeschlachtet werden? Natürlich sollte man auch in Zukunft über die Besatzung des Westjordanlands, über Israels Siedlungspolitik, über die nationalistische Regierung diskutieren, aber nicht in jenem Moment, wenn ganze Familien noch zu Grabe getragen werden. Und kontextualisieren heißt auch, beide Seiten zu beleuchten und nicht nur über die israelische Besatzung zu sprechen, sondern auch darüber, dass die Hamas-Terroristen alles andere als Freiheitskämpfer für die palästinensische Sache sind. Was am 7. Oktober geschehen ist, hat überhaupt nichts mit dem politischen Anliegen der Palästinenser:innen zu tun.“ (Meron Mendel am 31. Oktober 2023 in ZEIT Campus)

Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 gibt es ein merkwürdiges Gemisch bei Gesprächen über Antisemitismus, Kolonialismus, die Shoah, Völkermorde. Eines dieser Gemische hat sich als „Historikerstreit 2.0“ etabliert, obwohl im Unterschied zum ersten Historikerstreit diejenigen, die sich daran beteiligen, oft gar keine Historiker:innen sind, sondern einfach nur mehr oder weniger historisch interessierte Intellektuelle und solche, die sich dafür halten. Inzwischen diskutieren nicht mehr nur Intellektuelle in Feuilletons darüber, welche Erinnerungskultur, welches Verständnis von Geschichte, welche Geschichtspolitik, welche praktische Politik sich aus der Geschichte, sprich den diversen Kontexten, in denen Geschichte betrachtet werden kann, legitimieren ließe. Erinnerungskultur ist letztlich ein Teil von Geschichtskultur und Geschichtskultur ist ein Gewirr von Interpretationen, je nachdem wer über welche Fakten verfügt, welche gelten lässt und welche nicht.

Erinnerung ist kein Nullsummenspiel

Exemplarisch für die Wirren um Erinnerungs- und Geschichtskultur lassen sich die Debatten um diverse Preisverleihungen nach dem 7. Oktober nennen, sofern sie Debatten sind und nicht bloß eine Gegenüberstellung von Statements. Zu nennen sind die Debatten um die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen (fand ohne die Stadt Bremen in kleinem Kreis statt), des LiBeraturpreises an Adian Shibli (wurde ausgesetzt), des Peter-Weiss-Preises an Sharon Dodua Otoo (die vorgesehene Preisträgerin zog sich angesichts des Rückzugs der Stadt Bochum selbst zurück). Manche sprechen in den USA schon von „McCarthyismus“, manche befürchten dies auch für Deutschland. Dirk Peitz kommentierte das dahinter liegende Problem am 14. Dezember 2023 anlässlich der Wirren um Masha Gessen in der ZEIT: Nur wird der Schrecken des Kriegs im Gazastreifen nicht dadurch diskursiv verhandelbarer, auch fassbarer, indem man den Holocaust als Vergleichsfolie benutzt. Mit diesem relativiert Masha Gessen den Holocaust nicht – das wäre ein üblicher, hier aber unpassender Vorwurf. Schlimmstenfalls macht Gessen den Nahostkrieg damit weniger gut besprechbar. Doch genau das ist es ja, was nun passieren muss, nicht nur in Deutschland: Wir müssen zumindest wieder ins Reden kommen. Nicht nur mit Masha Gessen.“

Fazit: Wir brauchen dringend eine offene Debatte, damit in den diversen irrlichternden Debatten mit der Zeit vielleicht schon manches wieder geradegerückt werden könnte. Dieser Aufgabe stellten sich zwei im Jahr 2023 erschienene Sammelbände. Der eine wurde von Meron Mendel bei Beltz Juventa herausgegeben und trägt den Titel „Singularität im Plural – Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit“. Den anderen gaben Stephan Grigat, Jakob Hoffmann, Marc Seul und Andreas Stahl im Verbrecher Verlag heraus. Er trägt den Titel „Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um)-Deutungen des Holocaust und der ‚Historikerstreit 2.0‘“.

Beide Bücher wurden vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben und veröffentlicht. Es ließe sich durchaus diskutieren, ob sie umgeschrieben oder ergänzt werden müssten, aber eine solche Debatte führt nicht weiter. Ich gehe zunächst davon aus, dass der 7. Oktober die vorangegangenen Debatten, so auch die als „Historikerstreit 2.0“ firmierende Kontroverse, zugespitzt und verschärft hat. Und möglicherweise Auswege blockiert.

Meron Mendel formuliert in seiner Einleitung zu „Singularität im Plural“ die Frage, „ob die Relativierung des industriellen Massenmords an den europäischen Juden für eine angemessene Anerkennung von Kolonialverbrechen erforderlich ist.“ Mit diesem Satz benennt er treffend das Elend der Kontextualisierung jenseits historischer Fakten und Entwicklungen, ausschließlich begründet aus dem Gefühl, dass ein bestimmter Typus von Verbrechen bisher zu wenig bedacht worden wäre und diesem Missstand nur abgeholfen werden könnte, wenn der gefühlt vorrangig bedachte Verbrechenstypus in den Hintergrund gerückt würde. So als handele es sich beim Gedenken an verschiedene Menschheitsverbrechen immer nur um ein Nullsummenspiel der Gefühle, so als wäre einfach nicht genug Platz im menschlichen Gedächtnis für verschiedene Verbrechen, konkret hier: für Kolonialverbrechen und Shoah. Es versteht sich fast von selbst, dass es sich hier vorrangig um eine deutsche Debatte handelt. Dies hat Meron Mendel auch bereits in seinem Buch „Über Israel reden – Eine deutsche Debatte“ formuliert.

Viel zitiert wurde im sogenannten „Historikerstreit 2.0“ Michael Rothberg mit seinem Buch „Multidirektionale Erinnerung – Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“. Die deutsche Übersetzung erschien 2021 im Berliner Metropol-Verlag, 12 Jahre nach der amerikanischen Originalfassung (Stanford University Press). Eine Würdigung der Thesen von Michael Rothberg ist nicht Gegenstand dieses Essays, wohl aber die oft genug vereinfachende Rezeption, die zur Legitimierung von Thesen herangezogen wird, die sich aus dem Buch nicht unbedingt ableiten lassen. Michael Rothberg vertritt nicht die Ansicht, dass Erinnerung ein „Nullsummenspiel“ wäre. Darauf verweist Mark Terkessidis in seinem Beitrag zu „Singularität im Plural“. Mark Terkessidis schreibt: „Die Debatte um die documenta 15 hat dann gezeigt, wie die notwendige Auseinandersetzung in den Medien auf eine geradezu vulgäre Binarität zusammenschrumpfte.“ „Historikerstreit 2.0“, „documenta 15“ und manch andere Debatte erwecken den Eindruck, als müssten Menschheitsverbrechen in einer Opfer-Hierarchie neu geordnet werden, weil es für die Vergangenheit einfach nicht genug Platz gäbe so wie ohnehin schon der schulische Geschichtsunterricht nicht nur unter seinen falschen Prioritäten, sondern auch unter dem geringen Stundendeputat leidet. Da fällt schon manch wichtiger Aspekt unter den sprichwörtlichen Tisch, beispielsweise die Geschichte von Antijudaismus und Antisemitismus in Europa. Der paradox klingende Titel des von Stephan Grigat und Kollegen herausgegebenen Buches verweist jedoch auch auf eine zweite Gefahr, die Ritualisierung von Erinnerung, sei es in politischen Reden an bestimmten Gedenktagen, sei es in der pflichtschuldigen Abarbeitung curricularer Vorgaben und Stundentafeln. Wird das eine erinnert, das andere vergessen? Gibt es eine Balance der Erinnerungen – wohlgemerkt im Plural formuliert, die Vergessen verhindert? Es geht letztlich eben nie um ein Entweder-Oder, sondern immer um ein Sowohl-Als-Auch.

Moralisierung einer politischen Debatte

„Singularität im Plural“ schafft es, jede Aufrechnung zu vermeiden. Das Buch nähert sich dem Thema mit detaillierten Einzelbetrachtungen und dekonstruiert somit alle Neigungen zu Nullsummenspielen, welcher Provenienz auch immer. Das Buch enthält fünf Teile. Es beginnt mit drei Essays von Omer Bartov, Felix Auster und Steffen Klävers über den Charakter der Debatte, fährt fort mit Essays von Esra Özyprek, Mark Terkessidis, Wolfgang Meseth und Davide Torrente zu den postmigrantischen Bezügen der Debatte. Im dritten Teil sorgen Zofia Wóyicka, Meron Mendel und Mirjam Zadoff für eine Würdigung aus internationaler Sicht, bezogen auf Polen, Israel und die USA. Im vierten Teil befassen sich Iris Nachum, Naita Hishoono und Ruprecht Polenz mit Wiedergutmachungsabkommen, konkret dem Luxemburger Abkommen von 1952, und den Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen Deutschland und Namibia. Der fünfte Teil enthält drei Essays von Per Leo, Claudia Baumgart-Ochse und Ralf Michaels zum Begriff der „Staatsräson“, die Meron Mendel bereits in seinem Buch „Über Israel reden“ differenzierte.

Der Band schließt mit einem Gespräch zwischen Carola Lenz und Meron Mendel. Hier formuliert Meron Mendel eine grundlegende Botschaft des Bandes: „Etwas plakativ zusammengefasst würde ich sagen: Wir brauchen weniger Erinnerungskultur, wir brauchen mehr Geschichtskultur, wir brauchen mehr Wissen über die Geschichte von Erinnerung. Auch in der pädagogischen Arbeit, glaube ich, ist es ganz wichtig, erst einmal Wissen zu vermitteln. Es gibt dabei keinen zwingenden Gegensatz zwischen Aktivismus und Wissenschaft, meines Erachtens. Kluger Aktivismus wird an Forschungsbestände und an Wissen anknüpfen.“

Durchweg ist zu unterscheiden, ob jemand aus rechtlicher oder aus moralischer Perspektive spricht. Die moralische Perspektive ließe sich durchaus auch zur politischen Perspektive ausweiten, zumal sich Politik oft moralisch geriert, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Ein politisch-moralischer Begriff ist die „Staatsräson“. Ralf Michaels verbindet diese mit dem Gedanken der Sicherheitspolitik. „Staatsräson ist nur die Sicherheit und Existenz Israels, das Eintreten für eine Zweistaatenlösung ist lediglich eine einfach formulierte politische Position.“ Eine solche Unterscheidung mache den Gedanken der „Staatsräson“ „in vielerlei Hinsicht wirksamer, jedenfalls auch flexibler.“ Dies gelte für die Außenpolitik Deutschlands, nicht jedoch für Demonstrierende auf den deutschen Straßen. „Inwieweit sie Israels Existenz und Sicherheit infrage stellen dürfen, beantwortet sich nicht über die Staatsräson, sondern über die Strafgesetze und die Verhältnismäßigkeit.“ Demonstrationen können „nicht schon wegen der Ansichten verboten werden, die bei ihr geäußert werden“ verboten werden. „Wann Kritik an Israel in die Volksverhetzung umschlägt, ist eine (umstrittene) juristische Frage, die aber mit der Staatsräson nichts zu tun hat.“

Die voraussetzungslose Einschränkung von Rechten ist jedoch eine Gefahr für die Demokratie, weil „ein Staat, der einmal Rechte beschränkt, das als Präzedenzfall sehen wird, mehr zu tun, und die Einschränkungen ausdehnt.“ Dies wird nicht nur am Beispiel der Demonstrationen nach dem 7. Oktober 2023 deutlich, sondern auch an den Vorschlägen verschiedener Politiker:innen, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft die deutsche abzuerkennen, wenn sie sich mehr oder weniger gewalttätig gegen Israel betätigten. Unerwähnt blieb bei diesen Vorschlägen, dass sich die Möglichkeit der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft auch gegen die richten könnte, die durch diese Maßnahme eigentlich geschützt werden sollten. Es wäre letztlich eine Frage des Zeitpunkts und der jeweiligen Regierung.

Der von Ralf Michaels beschriebene Sicherheitsaspekt ist auch ein Aspekt des Beitrags von Claudia Baumgart-Ochse. Sie analysiert die Verbindungen zum Völkerrecht und betont, dass die Siedlerbewegung, gerade als von der aktuellen israelischen Regierung unterstützter Akteur, „in kürzester Zeit die Sicherheitslage in Israel und Palästina massiv verschärft“ hat, damit aber auch die Art und Weise beeinflusst, wie im Westen über Israel diskutiert wird. Per Leo wird noch deutlicher. Seine Warnung: „Man kann darüber streiten, ob und inwiefern die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist. Aber man sollte unter keinen Umständen zulassen, dass sich die Unschärfen der deutschen Erinnerungskultur in Gebote der deutschen Leitkultur verwandeln. Je stärker sich die unbedingte Solidarität mit Israel von der Sicherheitspolitik aber auf Fragen von Ideologie und Propaganda verlegt, desto mehr bedarf das deutsch-israelische Verhältnis der Revision.“ In genau diese Richtung scheint jedoch manche Debatte abzugleiten, wie sich nach dem 7. Oktober in Äußerungen mancher Politiker:innen zum Islam und zur Migrationspolitik zeigt, einer der Kollateralschäden des 7. Oktober. Bestimmte Positionen werden geradezu der politischen Debatte entzogen. Moralische Positionierungen werden entpolitisiert.

Wolfgang Mesetz spricht von „Moralkommunikation“ und damit verbundenen „wir/sie-Unterscheidungen“, die er in erziehungswissenschaftlichen Seminaren zum Thema „Migration, Postkolonialität und Erinnerungskultur“ erlebe. Beispielsweise wird der Antisemitismus-Vorwurf mit dem Rassismus-Vorwurf gekontert, der sich in der unzureichenden Würdigung von Kolonialerfahrungen zeige: „Klärungsbedürftig an diesem Streit ist nicht, dass der öffentlich ausgetragene Konflikt zwischen postkolonialer Rassismuskritik auf der einen und Antisemitismuskritik auf der anderen Seite in ein Hochschulseminar hineingetragen wird. Dies ist angesichts der Annahmen von dessen gesellschaftlicher Einbettung erwartbar. Klärungsbedürftig ist vielmehr, warum sich in dieser Situation jene Kriterien nicht durchsetzen, die für die Bildung von Sach- und Werturteilen im wissenschaftlichen (und auch pädagogischen) Kontext der historisch-politischen Bildung zentral sind.“ In manchen Runden wird teilnehmenden Jüdinnen und Juden sogar das Recht abgesprochen, sich als Opfer von Antisemitismus zu zeigen, denn sie wären weiß und damit per se Akteure der europäischen Kolonialpolitik. David Baddiels Buch ist Programm „Jews don’t count – How Identity Politics Failed One Particular Identity” (London, Harper Collins, 2021).

Geschichtsbilder nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip

Das Geschichtsbild vieler Menschen scheint sich am Pippi-Langstrumpf-Prinzip zu orientieren. Man macht sich die Welt oder eben auch ihre Geschichte, vor allem die eigene Geschichte, wie sie einem gefällt. Dies trifft für die USA zu, für Polen, für Ungarn, für viele Länder, in denen die Heroisierung der eigenen Vergangenheit im Vordergrund politischer Maßnahmen stand und steht. Wenn AfD-Vertreter:innen die zwölf Jahre nationalsozialistischer Gewaltherrschaft mit angeblich über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte aufrechnen, belegen sie ebenso wie die polnische PiS, die ungarische Regierung Viktor Orbáns oder große Teile der US-amerikanischen Republikaner, dass sie nichts von der Komplexität und all den Widersprüchen historischer Entwicklungen verstehen wollen. Die national(istisch)e Perspektive dient dann nur noch der Selbst-Rechtfertigung. Das von ihnen propagierte „Volk“ hält sich letztlich für moralisch besser als die anderen.

Oft sehen gerade auch Deutsche die Geschichte in anderen Ländern ausschließlich aus ihrer eigenen Sicht der Geschichte und begreifen kaum, dass Kolonialgeschichte beispielsweise in Polen etwas anderes bedeutet als in Deutschland, „so etwa im Zusammenhang mit den polnisch-ukrainischen Beziehungen und der Situation der Bauern in Polen Litauen“. Zofia Wóycicka fragt danach, ob es die von Rothberg geforderte „multidirektionale Erinnerung“ in Polen gäbe. Die polnische Öffentlichkeit ist stark polarisiert, wie sich beispielsweise bei dem Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig zeigte, aber auch in dem Streit um die polnische Gesetzgebung, die das Sprechen von „polnischen Lagern“ – eine entsprechende Formulierung von Barack Obama führte zu diplomatischen Wirren – oder von einem Beitrag von Pol:innen zur Shoah unter Strafe stellte. In Polen wird immer wieder konstatiert, dass der deutsche Vernichtungskrieg gegen Polen nicht wahrgenommen werde, sodass manche polnische Reaktion durchaus als Spiegelbild zu deutschen Versuchen gesehen werden kann, die eigene Verantwortung für NS und Shoah herunterzuspielen.

Erinnerungskultur oder vielleicht besser Erinnerungspolitik muss sich internationaler verstehen. So Mirjam Zadoff im Hinblick auf ihre eigenen Erfahrungen nach dem Umzug in die USA. Sie beschreibt detailliert die Debatten um das sogenannte „1619 Project“ und die von Trump eingerichtete „1776 Commission“, die als „Gegenerzählung“ dienen sollte. „Das Ergebnis war eine Aufforderung zur patriotischen Erziehung, die ‚Progressivismus‘ und ‚Rassismus / Identitätspolitik‘ als ‚Herausforderung für Amerikas Grundsätze‘ identifizierte und sie mit ‚Kommunismus‘, ‚Sklaverei‘ und ‚Faschismus‘ gleichsetzte.“ Joe Biden löste die „1776 Commission“ mit seinem Amtsantritt auf. Die Gesetzgebung von Ron de Santis in Florida hat im Grunde jedoch deren „Gegenerzählung“ umgesetzt. Aber offenbar brauchte es diese Umsetzung gar nicht so sehr, weil die schulische Praxis ohnehin schon einseitig genug war. „Als europäische Einwanderin in den USA hat mich überrascht, festzustellen, wie wenig ich selbst anfangs über strukturellen Rassismus in Nordamerika wusste – aber auch wie wenig meine Studierenden wussten. Dieses Thema wird in den Schulen kaum behandelt, wie überhaupt die Geschichte der nicht-weißen Bevölkerung der USA.“

Mirjam Zadoff beschreibt, wie schwer es Raul Hilberg hatte, einen Verlag für sein Buch „The Destruction of European Jewry“ zu finden. Der Einfluss der „Studierendenbewegung in den 1960er Jahren“ bewirkte „ein drastisches Umdenken“ und sollte nicht unterschätzt werden. Kern der Erfahrungen in verschiedenen Ländern ist jedoch die politisch-moralische Fixierung einer bestimmten Form von Erinnerung. Umso wichtiger ist eine saubere Trennung. „Nathan Sznaider vertritt die Ansicht, die Erinnerung an den Holocaust und die Erinnerung an koloniale Gewalt werden sich gegenseitig aufheben, sollten sie einander zu nahekommen – und die Erinnerung an den Holocaust werde zwangsläufig verblassen (….). Meines Erachtens ist das Schlimmste, was Erinnerung passieren kann, wenn sie isoliert wird und nicht mehr Gegenstand des demokratischen Diskurses ist. Erinnerung kann- und die transnationale Geschichte des Holocaust-Gedenkens zeigt es – das Fundament für eine in Zeiten immenser globaler Krisen so dringend benötigte globale Solidarität sein.“ Von dieser „Solidarität“ sind wir jedoch nach dem 7. Oktober wohl weiter entfernt denn je, ein weiterer Kollateralschaden des Massakers der Hamas.

Vor Fehleinschätzungen sind nicht einmal wohlmeinende offizielle Vertreter der Erinnerungskultur gefeit. Mark Terkessidis verweist auf die Reaktion des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, auf die Einlassungen des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, in der berüchtigten Pressekonferenz am 16. August 2023 mit dem deutschen Bundeskanzler. Abbas habe – so Felix Klein – mit seinem Vergleich der Situation der Palästinenser mit dem Holocaust „jegliche Sensibilität gegenüber uns deutschen Gastgebern (!) vermissen lassen“. Damit missformuliert Felix Klein – in bester Absicht, aber dennoch unangemessen – das, was an der Äußerung von Abbas tatsächlich unannehmbar ist. Es geht hier gerade nicht um eine deutsche Befindlichkeit, es geht um die von Abbas vorgenommene Relativierung des von Deutschen initiierten und begangenen Mordes an den europäischen Juden, die Shoah. Abbas nannte die Zahl 50 und suggerierte damit, dass das, was den Palästinenser:innen von Israel angetan würde, um ein Fünfzigfaches schlimmer wäre als die Shoah. Der Bundeskanzler war wohl angesichts dieser Äußerung so fassungslos, dass es ihm die Sprache verschlug. Immerhin distanzierten sich 190 palästinensische Wissenschaftler:innen. Wie Abbas denkt, hätten die Ministerialen, die den Bundeskanzler vorbereitet haben, wissen und aufschreiben können. Schon in seiner Dissertation im Jahre 1984 hatte er die Shoah relativiert, wenn nicht sogar geleugnet.

Mark Terkessidis ist Autor des Buches „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ (Hamburg, Hoffmann und Campe, 2019). Er schließt in seinem Beitrag zu „Singularität im Plural“ an dieses Buch an und verweist auf die in einer Migrationsgesellschaft gegebenen zahlreichen „Erinnerungen, die in Deutschland eine Rolle spielen, aber sozusagen ohne Deutschland auskommen.“ Terkessidis kritisiert mit Recht die eurozentrischen Lehrpläne der Schulen, dort fehlende „erinnerungspolitische Kontroversen“ und die Neigung, alle Geschichte in binär-moralischen Kategorien aufzulösen. Etwas zugespitzt: „Mittlerweile ist jede kommerzielle US-amerikanische Serie dazu in der Lage, eine Geschichte sehr elegant aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen. Im deutschen Schulunterricht hingegen gilt oft noch die Vorstellung, Geschichte ließe sich ‚objektiv‘ darstellen.“

Gegenüber Afrika – so Davide Torrente in seinem sehr lesenswerten Beitrag zur Geschichte der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte – herrscht so etwas wie eine „koloniale Amnesie“ (Jürgen Zimmerer). Torrente sieht „Verharmlosung und Romantisierung (post-)kolonial-rassistischer Gewalt in der Alltagssprache und alltäglichen Afrikabildern“ und referiert verschiedene Initiativen von Selbstorganisationen Schwarzer Menschen (zum Beispiel Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, ADEFRA, Each One Tech One), die angesichts der „komplexen Realitäten der Migrationsgesellschaft bzw. der Gesellschaft der Vielheit“ (ein Begriff von Terkessidis) in Bildungsprozessen aufbereitet werden müssten. Eine Entscheidung, welche Erinnerung Vorrang habe, sei nicht erforderlich: „Gedächtnisräume, welche intersektionale Sensibilität für Differenz wie Verwobenheit der Vergangenheiten zur Grundlage nehmen, können bestenfalls sozialräume darstellen und demokratische Strukturen stärken, in denen keine Entscheidung zwischen einem Kampf gegen anti-Schwarzen Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus oder Gadje-Rassismus (….) sowie weitere Rassismen verlangt ist, sondern neue Perspektiven für Solidarisierungen aufgeschlossen werden, wo immer diese möglich sind.“ So ließe sich vielleicht das von Felix Axster diagnostizierte Gefühl einer „Erinnerungsüberlegenheit“, die sogar in Deutschland zum Teil von „Nationalstolz“ geworden sei, auflösen. In der Tat: Deutsche Selbstzufriedenheit, deutsches Selbstlob bedürfen dringend einer solchen Auflösung. Es ist das Verdienst des von Meron Mendel herausgegebenen Buches, dass es Wege zeigt, diese Aufgabe zu erfüllen, ohne Shoah und Kolonialgeschichte gegeneinander aufzurechnen.

Singularität und Opferkonkurrenzen

Jede Relativierung der Shoah wird mit einem Hinweis auf ihre „Singularität“ beantwortet. Stephan Grigat, Jakob Hoffmann, Marc Seul und Andreas Stahl sehen die Frage nach der „Singularität“ im Mittelpunkt der Debatte um die deutsche „Erinnerungskultur“. Der Band beruht auf einer Online-Veranstaltungsreihe aus dem Jahr 2022. Geradezu freudianisch inspiriert klingt der Titel ihrer Einleitung: „Vom notwendigen Unbehagen in der deutschen ‚Erinnerungskultur‘ – jenseits des revisionistischen Raunens“. Die Deutschen als „Erinnerungsweltmeister“? Dies könnte man schon meinen, wenn man sich auf die Selbstinszenierung mancher Akteure in Politik, Medien, Schulen, Hochschulen und Zivilgesellschaft verlässt. Programmatisch klingt der Buchtitel von Susan Neiman, seit 2000 Direktorin am Einstein Forum in Potsdam: „Von den Deutschen lernen – Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können“ (München, Carl Hanser, 2020). Im Text werden die Herausgeber von „Erinnern als höchste Form des Vergessens?“ jedoch sehr deutlich. Sie zitieren mit ironischem Unterton Eike Geisels Buchtitel „Die Wiedergutwerdung der Deutschen – Essays und Polemiken“ (Berlin, Edition Tiamat, 2015): so „spottet diese deutsche Selbstwahrnehmung jeglicher Empirie. Vor allem ist sie als Wunschdenken der Nation der Täter:innen stets der Schuldabwehr verdächtig.“

Das Buch „Erinnern als höchste Form des Vergessens“ ist zumindest in der Einleitung erheblich polemischer als Meron Mendels „Singularität im Plural“. Allerdings bietet es auch eine lesenswerte Würdigung der Debatten um „Singularität“ beziehungsweise – diesen Begriff Yehuda Bauers ziehen sie vor – „Präzendenzlosigkeit“ der Shoah. Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil befassen sich Stephan Lehnstaedt, Rolf Pohl, Steven T. Katz, Jeffrey Herf und der langjährige Leiter von Yad Vashem Yehuda Bauer (in einem Gespräch mit Jakob Hoffmann) mit der „Präzendenzlosigkeit des Holocaust“ (der Essay von Jeffrey Herf wurde bereits im Jahr 2007 geschrieben). Im zweiten Teil geht es die im Untertitel des Buches genannten „(Um-)Deutungen des Holocaust“. Die Beiträge schrieben Nicolas Berg, Jan Gerber, Anja Thiele, Ingo Elbe und Steffen Klävers. Der dritte Teil befasst sich mit „Erinnerungsabwehr und Antisemitismus in der Gegenwart“. Autor:innen sind Ljiljana Radonić, Felicitas Kübler, Samuel Salzborn, Niklaas Machunsky, Lars Rensmann und Elke Rajal. Der entscheidende theoretische Teil ist der erste, der zweite und dritte Teil lassen sich als vertiefende Fallstudien lesen, beispielsweise der Beitrag Anja Thiele über Peter Edel und die (Nicht-)Thematisierung der Shoah in der DDR oder der Beitrag von Ingo Elbe zu Hannah Arendts Bild von Holocaust und postkolonialen Theorien.

Benannt werden auch untaugliche Versuche im Kampf gegen Antisemitismus, so zum Beispiel von Elke Rajal, die begründet, warum es wenig hilft, wenn „Holocaust Education (…) als Tool der Menschenrechts- oder Demokratieerziehung instrumentalisiert“ werde. Erinnerungsorte immunisieren nicht vor extremistischen Gesinnungen, sind auch keine „Orte, an denen die Läuterung der Nation erfahrbar wird“. Felicitas Kübler kritisiert, „dass Räume fetischisiert werden“, letztlich „das narzisstische Bedürfnis der kollektiven Identifikation mit der Nation auch im postfaschistischen Deutschland“ triggern. Zu kritisieren seien doppelte Standards, wie sie Lars Rensmann in Bezug auf die Jerusalem Declaration on Antisemitism konstatiert, die Antisemitismus „auf eine bloße Spielart des Rassismus reduziert“, und darüber hinaus Verbindungen nahelegt, „als sollten Juden, die zum Objekt von Antisemitismus werden, Judenfeindschaft nicht thematisieren dürfen, ohne auch zum Beispiel auf den Kampf gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung zu verweisen. Man würde das zurecht auch nicht von Frauen, Schwarzen oder diskriminierten ethnischen Minderheiten erwarten.“

Niklaas Machunsky befasst sich mit der Initiative „GG 5.3 Weltoffenheit“ und Aleida Assmann, der „Galionsfigur der deutschen Vergangenheitsbewältigung.“ „Den linken Revisionisten (…) scheint die veränderte Weltlage im Allgemeinen und die Migration im Besonderen ein willkommener Anlass für diese Entkopplung (der Shoah von Deutschland, NR) zu sein. Sie müssen den Holocaust nicht leugnen, es reicht, ihn zu re-framen. Wird er in den Kontext des Kolonialismus gerückt, wird aus der deutschen Tat zur Erlösung der Menschheit, die das Heil in der Ermordung noch des letzten jüdischen Individuums suchte, ein koloniales Verbrechen unter anderen.“ Die AfD geht noch einen Schritt weiter, indem sie „Deutsche generell als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen“ pflegt, durchaus in Erinnerung an die bereits genannte Walser-Rede, auch in der Wortwahl. „Schuldabwehr“ als gängige Variante der in Deutschland immer schon virulenten Schlussstrich-Forderungen ist anschlussfähig, für größere Teile der Bevölkerung, wie die Bielefelder Mitte-Studien, die Leipziger Autoritarismusstudien und die MEMO-Studien belegen. Samuel Salzborn bezieht sich mit seiner Analyse auf sein Buch „Kollektive Unschuld“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2020). Wenn Gerhard Schröder das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Ort, an den man gerne geht“ ankündigt, entsteht der Eindruck, als gehe es nur noch „um die Kulisse eines Filmsets“.    

Die vier Herausgeber benennen auch das Gemisch der aktuellen Debatten, weil „mit der Frage der Präzedenzlosigkeit der Shoah und dem Verständnis von Kolonialismus zwei Themenkomplexe stets (implizit) mitverhandelt werden: zum einen die Frage des Verhältnisses zwischen Rassismus und Antisemitismus, zum anderen Positionierungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt.“ Das ist schwer auseinanderzuhalten, erst recht bei dem Versuch einer Antwort auf Parolen wie „Free Palestine from German Guilt“ oder „Nakba is a Part of Erinnerungskultur“, die auf der documenta 15 zu lesen waren und nach dem 7. Oktober vor allem von antikolonialistisch motivierten Linken verbreitet wurden, beispielsweise in einer Demonstration vor dem Auswärtigen Amt am Werderschen Markt.

Stephan Lehnstaedt bietet eine kurze Geschichte der Shoah. Er nennt Zahlen, handelnde Personen und Orte, zeigt auch, „wie sehr der Holocaust mit den anderen deutschen Verbrechen verbunden ist“, dem Mord an Sinti und Roma, der Aktion T4. Eine Schlüsselrolle hatte der Lubliner SS- und Polizeiführer Odilo Globcnik, dessen Wirken etwas ausführlicher dargestellt wird. Wer mehr über das handelnde Personal wissen will, lese Michael Wildts Habilitationsschrift „Generation des Unbedingten – Das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes“ (Hamburger Edition, 2002). Im Grunde wurde das Vernichtungssystem der Nazis ständig perfektioniert, es wurde mit Vernichtungsmethoden experimentiert, es gab ein „ständiges Improvisieren und ‚Verbessern‘“. Doch dies war nicht alles. Es ging um mehr: „Völlig klar wird dabei, dass es nicht nur um die Vernichtung der Jüdinnen und Juden ging, sondern auch um das Auslöschen sämtlicher Spuren ihrer Existenz – sie von der Erde zu tilgen, als ob sie niemals existiert hätten.“ Dazu gehörte auch „die gezielte Verschleierung des Genozids“.

Steven T. Katz beginnt seinen Beitrag mit einer Begriffsklärung. Entscheidend für die Einordnung eines Massenverbrechens wie der Shoah als Völkermord ist der „Vorsatz, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten“ (so die Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948). Der Antisemitismus war die Leitidee des Nationalsozialismus, von der sich alles andere ableitete. Katz bezeichnet den Antisemitismus, die „Judenfeindschaft“ als „den ersten und zwingenden Grundsatz des Nationalsozialismus“. In diesem Zusammenhang sei es – so Katz – „problematisch“, beispielsweise die Morde in Bosnien-Herzegowina als „Genozid“ zu bezeichnen. Es ließe sich hinzufügen, dass damit auch die nach dem 7. Oktober an Universitäten und von der internationalen Sektion von Fridays for Future verbreitete Parole, Israel betreibe einen „Völkermord“ an den Palästinensern, haltlos ist, jedoch die Vernichtungsfantasien der Hamas sich so charakterisieren ließen. Katz unterscheidet allerdings auch den Porajmos, den Mord der Sinti und Roma, von der Ermordung der Juden, da der Nationalsozialismuszwischen zwei verschiedenen Gruppen der Roma unterschieden hätte, einer Gruppe, die als „rassische Verbrecher“ zu vernichten wäre, eine andere, die als „Asoziale“ umerzogen werden könnte. Bei den Sinti und Roma wäre es um kulturelle Vernichtung gegangen, nicht immer zwingend um physische. Meines Erachtens übersieht Katz dabei allerdings, dass sich die Einstellung der Nazis gegenüber Sinti und Roma mit der Zeit radikalisierte und so ihrer Einstellung gegenüber den Juden zumindest annäherte. Thesen wie der von Donald Bloxham (The Final Solution – A Genocide, New York 2009), dass „Einzigartigkeit (…) eine religiöse oder metaphysische Kategorie“ sei: „Diese Behauptung ist jedoch falsch. ‚Einzigartigkeit‘ kann eine sinnvolle historische Kategorie sein, wenn die Bedingungen ihrer Anwendung angemessen definiert werden.“ Damit sind wir wieder bei der Kategorie „Vorsatz“, ergänzend bei der Absicht einer vollständigen Vernichtung aller Jüdinnen und Juden, nicht nur „kulturell“, sondern auch „physisch“.

Dies ist auch die Botschaft des Beitrags von Jeffrey Herf, der die Shoah von der Versklavung Schwarzer Menschen unterscheidet. „Das erklärte ideologische Ziel Hitlers und der radikalen Antisemiten des Naziregimes war es nicht, die europäischen Juden zu versklaven, sondern sie auszurotten. Das erklärte ideologische Ziel der weißen Plantagenbesitzer in Amerika war die Versklavung, nicht die Ausrottung der aus Afrika importierten Sklaven.“ Das entscheidende Dokument: „Die Protokolle der Weisen von Zion“ (auf die sich auch die nach wie vor gültige Charta der Hamas aus dem Jahr 1987 beruft). Eben aus dem Geist dieses Dokumentes leitete sich die Legitimation der Ermordung der europäischen Juden ab, aus „Paranoia und Projektion über eine angebliche jüdische Verschwörung zur Durchführung eines Vernichtungskrieges gegen die deutsche Bevölkerung.“ Juden und Jüdinnen wurden – dies ist ein wesentlicher Unterschied zu anderen von den Nazis verfolgten Gruppen – gleichzeitig als „minderwertig“ und als „überlegen“ markiert. So war die arische Rassenlehre nicht der Kern des nazistischen Antisemitismus, sondern lediglich ein Element, das die in der Bevölkerung erforderliche Zustimmung verstärken und sichern sollte. Weitere Unterscheidungen benennt Yehuda Bauer. Er benennt den Vernichtungswillen des Iran gegenüber den Juden. In anderen Regionen sind Entwicklungen denkbar, die zu einem Genozid führen können, beispielsweise das Vorgehen Chinas gegenüber den Uiguren und den Kasachen in Xinjiang oder das Vorgehen in Myanmar gegenüber den Rohingya.

Ein ideologisches Projekt

Jeffrey Herf konstatiert: „Wenn Hitler, Goebbels und andere öffentlich von der ‚Vernichtung‘ und ‚Ausrottung‘ der Juden sprachen, sagten sie Dinge, die für deutsche Ohren und Augen außergewöhnlich und neu waren. Selbst vor dem Hintergrund des deutschen Militarismus, Kolonialismus und Antisemitismus war die Sprache der Nazis außerordentlich brutal, unverblümt, schockierend und gewalttätig in Bezug auf die allgemeinen politischen Ziele des Regimes gegenüber den europäischen Juden.“ Bei einem großen Teil der Bevölkerung „die Studien von Ian Kershaw über die öffentliche Meinung legen nahe, dass es sich um etwa ein Drittel handelte – traf die antisemitische Botschaft einen Nerv.“ Yehuda Bauer begründet in seinem Beitrag die „Präzedenzlosigkeit des Holocausts“ als „ideologisches Projekt.“ „Die Existenz einer internationalen jüdischen Verschwörung war etwas Grundlegendes, an das die Nationalsozialisten mit großer Inbrunst glaubten.“

Doch wer wurde warum auch Täter:in? Rolf Pohl befasst sich mit den Phasen der Täterforschung, der Titel seines Beitrags erinnert an die Bücher von Goldhagen und Browning: „Ganz normale Massenmörder?“ Dieser Beitrag lässt sich als differenzierende Bestandsaufnahme der Täterforschung lesen. Das Fragezeichen ist von Bedeutung. Rolf Pohl relativiert den Begriff der „Normalität“, da dieser den darin enthaltenen „Sadismus“ nicht erfasse und die handelnden Personen nur als „Befehlsempfänger“ verstehe. Er zitiert eingangs Theodor W. Adorno mit dem Satz „Die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch.“ In der deutschen intellektuellen Öffentlichkeit (und mit der Zeit nicht nur in dieser) spielt die Rede Martin Walsers zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Herbst 1998 eine grundlegende Rolle: „Die fast überschwänglich positive Resonanz auf diese Rede erweckte den Eindruck, als habe ein Intellektueller mit Gewicht und Reputation endlich die erlösenden Worte zur Reinigung des peinigenden Gewissensdrucks der Deutschen ausgesprochen.“

Diese Stimmung hielt an. Man muss nur all die lobenden und ebenso in der Regel „überschwänglich“ gehaltenen Nachrufe nach Martin Walsers Tod am 26. Juli 2023 lesen. Der Kern – und damit sind wir auch wieder bei Abbas: „Einmal relativiert und als Thema der vergleichenden Genozid-forschung etabliert, lässt sich Auschwitz überall finden: in Vietnam, in Kambodscha, in Ruanda, im Kosovo usw.“ Tenor: die anderen waren auch nicht besser. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei auch die Herausnahme der unterstützenden Bevölkerung aus der Verantwortung. Die den Genozid unterstützenden beziehungsweise durchführenden Täter wären dann „‚disziplinierte Befehlsempfänger‘, keineswegs aber ein ‚rasender Mob‘“. Diese These ist jedoch nicht haltbar. Wer sich Straßenszenen von Deportationen ansieht, müsste dies eigentlich wissen. Insofern ist es Rolf Pohls Verdienst, „einer ungeprüften Verwendung des Normalitätsbegriffs“ entgegenzutreten. Er verweist beispielsweise auf Zygmunt Baumann oder auf Harald Welzer, die – durchaus in der Tradition der „Banalität des Bösen“ im Sinne von Hannah Arendt – die sadistischen Elemente der Persönlichkeitsstrukturen der Täter übersähen. Allerdings ist diese Sicht auch von einer „Pathologisierung“ abzugrenzen: „Eine psychologistische Überbetonung der Pathologie verschenkt das in einer differenzierteren Vermittlung von ‚pathologisch‘ und ‚normal‘ liegende Erklärungspotenzial ebenso wie das Festhalten an dem Mythos einer als ‚rein‘ vorgestellten Normalität.“ Andererseits: „Der Hass auf Fremde bei gleichzeitiger Selbstdefinition durch die Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse, Gruppe oder Nation trägt in seiner Primitivität wahnhafte Züge.“ Im Grunde verbleibt bei einer historischen Analyse die Einsicht, dass wir „die Beteiligung und die Mitwisserschaft an Massenverbrechen im Zeichen eines kollektiven Wahnsystems“ einordnen müssen, „Ohne dass die ‚Normalität‘ der Akteure im Sinne einer psychiatrisch unauffälligen ‚Durchschnittlichkeit‘ wesentliche Einbußen erfahren muss.“

Gibt es so etwas wie einen Ariadnefaden durch das Labyrinth der Kontexte? Ljiljana Radonić schreibt, „dass für die Frage nach dem kritischen Umgang mit der Vergangenheit auch entscheidend ist, wie liberal, demokratisch oder autoritär ein Staat ist.“ Anders gesagt: Es geht auch um die Frage, wie viel offiziell-offiziöse Geschichtspolitik sich in Erinnerungskultur versteckt, in Wirklichkeit aber ein illiberales und antidemokratisches Projekt verfolgt, das Erinnerungskultur in eine Kultur des Vergessens verwandelt. Wer versucht, die Erinnerung an die Kolonialverbrechen zu legitimieren, indem die Shoah als zu relativierende Bezugsgröße herangezogen wird, muss scheitern. Die Beiträge des Bandes „Erinnern als höchste Form des Vergessens?“ nennen die Kriterien für die „Singularität“ beziehungsweise „Präzedenzlosigkeit“ der Shoah. Der unbedingte und umfassende Wille zur Vernichtung aller Jüdinnen und Juden macht den Unterschied. Da spielt es keine Rolle, wie sich der Antisemitismus der Nazis begründete und in welchen Kontexten er sich erklären ließe. Es gab rassistische Elemente, es gab aus dem christlichen Antijudaismus übernommene Motive, es gab aber vor allem den Mythos der Überlegenheit der Juden, die vernichtet werden müssten, damit die sich als „Arier“ verstehenden Deutschen nicht mehr belästigt fühlten.

Meron Mendels Frage lässt sich einfach beantworten. Sie lautete: „Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Relativierung des industriellen Massenmords an den europäischen Juden für eine angemessene Anerkennung von Kolonialverbrechen erforderlich ist.“ Die Antwort ist: Nein. Wer dennoch eine solche Relativierung in Erwägung zieht, muss sich die Frage stellen lassen, warum. Die beiden hier vorgestellten Sammelbände bieten genügend Argumente, wie sich einer Kontextualisierung, die in Wirklichkeit eine Relativierung ist, begegnen lässt. Das wäre sicherlich ein erster Schritt zu einer anderen Geschichtskultur.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2023, Internetzugriffe zuletzt am 14. Dezember 2023. Titelbild: Arina Nâbereshneva.)