Literaturland DDR

Lesen, Schreiben und Bewahren in und nach der Diktatur

„Die DDR-Literatur benahm sich vierzig Jahre wie eine devote Betschwester. Ließ die tragische Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verhüllen, Millionen flüchteten. Hunderte wurden an der Grenze abgeschossen, die Gefängnisse waren voll mit politischen Häftlingen, für deren Abschiebung Kopfpreise verlangt wurden. Darüber in der realistischen DDR-Literatur kein Wort. Wer über diese tragischen Realien jener Zeit Näheres erfahren will, der schlage in den Stasiakten nach. Dort ruht die ungeschönte Wirklichkeit, deren Schilderer, die Denunzianten, für Honorar als Einzige schreiben durften, was Sache war.“ (Henryk Bereska, Kolberger Hefte, 23. Januar 1990, in: Die Verschwiegene Bibliothek, hg. von Ines Geipel und Joachim Walther, Frankfurt am Main / Wien / Zürich, Edition Büchergilde, 2007)  

Was lasen Menschen in der DDR, was war verfügbar? Wer durfte was lesen, was nicht? Als Geschenk wurde im SED-Staat das Eindeutige geschätzt: martialischer Titel, metaphorische Eindeutigkeit, Helden. So war es in dem Klassiker „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrovski (1904-1936), so war es im Buchenwald-Epos „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz (1900-1979). Die in diesen Büchern gezeigten Kommunisten waren Helden, Vorbilder. Andere Autor*innen hatten es da schwerer und dennoch war vieles verfügbar, von dem man es eigentlich nicht vermutet hätte. Andererseits umfasst das von Ines Geipel und Joachim Walther aufbaute „Archiv unterdrückter Literatur“ über 100 Autor*innen. Viele dieser Autor*innen konnten nicht veröffentlichen, kaum jemand las und liest ihre Texte. Welche Texte gelesen wurden, welche nur schwer verfügbar waren, welche auf keinen Fall gelesen werden sollten und welche Wege es gab, sie dennoch zu lesen, dokumentiert die Ausstellung Leseland DDR“ der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, die im Mittelpunkt dieses Essays vorgestellt werden soll.

Vorbilder und Mythen

Der Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrovski erschien in der Sowjetunion im Jahr 1932 und wurde im Jahr 1957 verfilmt. Er gehörte zum Inventar der staatlichen Literatur-Propaganda der Sowjetunion und schließlich auch der DDR. Dort wurde die deutsche Übersetzung gerne zu diversen Anlässen verschenkt, beispielsweise zu einer Jugendweihe. Der Film kam im September 1957 in die Kinos der DDR. Wer etwas über die frühen sowjetischen Revolutionsjahre hätte lesen wollen, hätte vielleicht auch zu den Erzählungen Isaac Babels (1894-1940) greifen können, die unter dem Titel „Die Reiterarmee“ gesammelt wurden. Diese erschienen erstmals in den 1920er Jahren und lösten eine heftige Kontroverse aus, die auch Kurt Tucholsky und Joseph Roth kommentierten. In beiden Romanen spielt die Erste Reiterarmee unter Führung von Semyon Budyënnyj eine tragende Rolle.

Markus Wolf, bis 1987 Chef der DDR-Auslandsspionage, signiert am 15. März 1989 in Leipzig sein Buch „Die Troika”, in dem er sich kritisch mit der Geschichte des Stalinismus auseinandersetzt
Pressefoto Ausstellung Leseland DDR: Bundesstiftung Aufarbeitung / Klaus Mehner

Aber war Budyënnyj wirklich der vorbildliche Soldat und Kommandant? Peter Urban hat in seinem Nachwort zur 1994 in der Friedenauer Presse Berlin erschienenen Ausgabe, die 2018 neu aufgelegt wurde, Kontroversen und Fakten zusammengestellt. Sein Nachwort bietet eine allerdings noch nicht abschließend aufgearbeitete Geschichte: „Die Editionsgeschichte der Reiterarmee ist noch nicht geschrieben. Würde sie es, sie wäre eine Chronik des fortgesetzten unverfrorenem Falsifikats, möglicherweise auch, zum Teil, der durch Erpressung, politischen Druck und Zensur erzwungenen Selbstverstümmelung eines großen Autors – im Einzelnen wird nicht mehr festzustellen sein, durch wen und auf wessen Veranlassung die ungezählten Eingriffe in den Text der Reiterarmee vorgenommen worden sind.“

„Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz erschien in der DDR im Jahr 1958. Es gibt drei Verfilmungen, eine aus dem Jahr 1960, eine weitere aus dem Jahr 1963 in der DDR sowie schließlich aus dem Jahr 2015 im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks MDR. Regisseur der zweiten Verfilmung war Frank Beyer, der zwei Jahre später beim sogenannten „Kahlschlagplenum“ erleben musste, dass sein Film „Spur der Steine“ mit Manfred Krug in der Hauptrolle aus dem Verkehr gezogen wurde und erst nach 1989 wieder gezeigt werden durfte. Der Roman hat eine durchaus wechselvolle Editionsgeschichte, die Susanne Hantke in ihrem Buch „Schreiben und Tilgen – Bruno Apitz und die Entstehung des Buchenwald-Romans Nackt unter Wölfen“ präsentiert (erschienen 2018 bei Wallstein in Göttingen, herausgegeben von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora).

Gegenstand des Romans ist ein von dem Internationalen Lagerkomitee, in dem Kommunisten – so der Mythos – die führende Rolle einnahmen, verstecktes dreijähriges Kind. Eines der Mitglieder des Internationalen Lagerkomitees war Walter Bartel, der als Büroleiter Wilhelm Piecks reüssierte und in der DDR maßgeblich das Bild der heldenhaften kommunistischen Häftlinge in Buchenwald prägte. Die Rettung von Kindern ist historisch, darunter waren Elie Wiesel, Imre Kertész und Israel Meier Lau sowie das Vorbild des Kindes im Roman, Stefan Jerzy Zweig. Ines Geipel hat mehrfach den in der DDR verbreiteten Mythos der heldenhaften kommunistischen Häftlinge in Buchenwald dekonstruiert, in „Umkämpfte Zone“ (Stuttgart, Klett-Cotta, 2019) sowie in ihrem Vorwort zu der von ihr gemeinsam mit Joachim Walther herausgegebenen Chronik der unterdrückten Literatur in der DDR mit dem Titel „Gesperrte Ablage“ (Düsseldorf, Lilienfeld Verlag, 2015, eine Neuauflage erschien im Spätherbst 2022). Sie schreibt in „Gesperrte Ablage“, dass der Roman „in einer Phase forcierter Gedächtnisbetonierung“ erschien. Hintergrund waren Vorwürfe an die kommunistischen Häftlinge, mit der SS kollaboriert zu haben. „Denn die einsickernde Milch der Geschichte musste um jeden Preis gestoppt werden, mit einem ehernen Gegengedächtnis in Schwarz-Weiß. Die inkriminierten Buchenwald-Kommunisten starteten gegen den Malus der Glaubwürdigkeit folglich eine umso offensivere Abwehrstrategie“

Bruno Apitz erfuhr zunächst Ablehnung. Als sein Roman im Jahr 1957 fertig war, hatte er bereits mehrere Phasen der Korrektur durchlebt. Kritisch gesehen wurde – so Ines Geipel – „der heikle Grat zwischen Zwangssituation und eigenen Verbrechen (…) Die Großbotschaft lautete: Das kommunistische Netzwerk versuchte, in einem Kosmos aus Terror und Gewalt zu überleben, und diese Not rechtfertigte alle Mittel.“ Mit dem veröffentlichten Roman entstand so etwas wie eine „Staatsbibel“ für eine „Opfergesellschaft“, die sich als „Sieger der Geschichte“ feiern durfte. Ines Geipel zitierte Walter Bartel: „Da unsere Genossen mehr wert waren als alle anderen, mussten wir als einen Schritt gemeinsam mit der SS gehen und zwar in der Vernichtung von aussichtslos kranken und kollabierenden Menschen… Dass ich die Liquidierung nicht alleine durchführen konnte, versteht sich von selbst. Dazu gehörte ein ganzer Apparat. Derselbe bestand fast nur aus Genossen, mit denen ich nur als Exekutive arbeitete.“ Als Vorbild einer solchen Einstellung mag in der Literatur vielleicht Bertolt Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ gelten, das im Jahr 1930 uraufgeführt wurde.

Die Literatur – ein Fenster zur Welt?

„Leseland DDR“ – dies ist der Titel einer Wanderausstellung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Auf 20 Tafeln beziehungsweise Plakaten werden unterschiedliche Aspekte der Literatur in der DDR vorgestellt, jeweils mit einem über einen QR-Code sowie auf dem youtube-Kanal der Stiftung zugänglichen Testimonial von Zeitzeug*innen, darunter auch einige, die ihre literarische Sozialisation weitgehend erst nach der Wende erlebten. Jede Tafel zeigt mehrere Bilder, auch Faksimiles, sowie eine Reihe von Büchern, die die Hauptpersonen der jeweiligen Tafel persönlich ausgesucht haben. Exemplarisch für die Ost-West-Begegnung der Literatur und der Autor*innen mag eine Tafel gelten, die einen Spaziergang von Heinrich Böll und Lew Kopelew zeigt, die sich fragten, warum sie aufeinander geschossen hätten. Stefan Wolle hat die Ausstellung und den Begleitband konzipiert, Ulrich Mählert die Ausstellung kuratiert. Die Ausstellung ist in deutscher und in englischer Sprache verfügbar. Es gibt didaktisches Begleitmaterial, das Helge Schröder gestaltete, sowie eine ergänzende Ausstellung mit Tafeln zur Science-Fiction in der DDR.

Bücherkiste der Peter-Sodann-Bibliothek. Bundesstiftung Aufarbeitung, Foto: Ulrich Mählert.

Zusätzlich zur Ausstellung kann eine Bücherkiste aus der Peter-Sodann-Bibliothek bestellt werden. Peter Sodann hatte bereits mit der Wende begonnen, Bücher zu sammeln. Es sollte nichts verschwinden, er wandte sich gegen den Satz „wir schmeißen die Russenschwarten weg“. Und in der Tat: wir sollten nicht nur lesen, was in der DDR nicht oder nur selten gelesen wurde, denn ein vollständiges Bild entsteht erst, wenn wir auch lesen, was gelesen werden sollte. Erst dann erfassen wir, das, was Ines Geipel die „Schweigeordnung einer Diktatur“ nannte: „Die Schweigeordnung einer Diktatur als ihr ungeschriebenes Gesetz, als ein Existenzial-Artefakt, mit tausenden ein- und Ausgängen, kolossal Widersprüchlichem, mit ihren Nicht-Orten, was auch heißt sprachlich Uneinholbarem, Unerzählbarem, eine Gedächtnisverwirrung, die umso kompakter und unauflösbarer wird, je länger eine Diktatur dauert. Der Terror der frühen DDR als ein kategorisches Verschlusssystem, ein Vergessensraum, der nicht nur den harschen Bruch vieler Schriftstellerkarrieren nach ersten Texten und großen Hoffnungen bedeutete, sondern auch einen ganzen Schreibraum bestimmte. Ein Terror, der sich in die Biografien und damit in das Schreiben der Verhafteten unhintergehbar einschrieb und eine Literatur aus der Gefangenschaft entstehen ließ, mit Stimmen aus den Zellen.“ (in „Gesperrte Ablage“)

Ein Bild der Ausstellung „Leseland DDR“ zeigt die Fassade des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes mit dem Sinnspruch: „Mit Hammer und Sichel. Mit Buch und Gewehr. Für den Aufbau des Sozialismus!“ Alles in Großbuchstaben. Die vierte Tafel der Ausstellung trägt den Titel „Der Schwur von Buchenwald“ und zeigt Bilder der Dreharbeiten zum DDR-Film von 1960, die Ankündigung einer Aufführung im Berliner Kino Colosseum, die „Häftlings-Personal-Karte“ von Stefan Jerzy Zweig. Anna Kaminsky kommentiert: „Bücher wie ‚Nackt unter Wölfen‘ sollten immer das Gefühl verstärken, dass man auf der richtigen Seite steht und nie wieder zulassen darf, dass so etwas noch einmal passiert.“ Auf einer anderen Tafel mit dem Titel „Von der Sowjetunion lernen“ ist zu sehen, wie eine Schülerin von einem als Weihnachtsmann verkleideten Menschen „Wie der Stahl gehärtet wurde“ als Geschenk erhält.

Anna Kaminsky und Christine Lieberknecht sprechen über Bücher, die einen Ausweg boten. Anna Kaminsky nennt das Tagebuch der Anne Frank, das sie im Alter der Autorin gelesen habe und das sie angeregt habe, selbst Tagebuch zu führen. Christine Lieberknecht nennt Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ als Identifikationsfolie einer Jugendkultur, die die Älteren als „vergammelt“ bezeichneten. Wie im Westen, so im Osten, nur unter anderen politischen Vorzeichen. Kleidung, Haare – all dies sei eine Art Gegenbild zur „sozialistischen Persönlichkeit“ gewesen: „wir wollten uns selbst ausprobieren“ und da kam Plenzdorf gerade recht, auch mit seiner Sprache, die sich deutlich von der offiziellen Sprache unterschied.

Die Ausstellung zeigt mehrere, zumindest auf den ersten Blick unideologisch erscheinende Sparten des Alltags, beispielsweise Kochbücher (präsentiert von Rainer Eppelmann), Science-Fiction-Literatur (Ralf Neukirchen), Kinderbücher (Meinhard Stark), Märchenbücher (Claudia Rusch), Kriminalromane (Hartmut Mechtel). Tafel 1 zitiert Thomas Mann: „Der Zauberberg der vergessenen Bücher“, Tafel 2 Reiner Kunze mit dem Titel „Wunderbare Jahre“. Hartmut Mechtel nennt eine heimliche Botschaft von Kriminalromanen, die „die Presse, die über bestimmte negative Literatur nicht berichten durfte, zu ersetzen“ vermochte. Diesen Gedanken bezieht Robert Grünbaum auf die gesamte Literatur: „In der DDR gab es keine Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit. Dort war die Literatur ein Ersatz für die fehlende Öffentlichkeit.“

Der sowjetische Pavillon gilt unter Besuchern der Leipziger Herbstmesse 1988 als Geheimtipp. Die Russen verteilen 150.000 Broschüren zur Politik von Glasnost und Perestroika, die reißenden Absatz finden.
Pressefoto Ausstellung Leseland DDR: Bundesstiftung Aufarbeitung / Klaus Mehner

Siegfried Lokatis spricht in seinem Testimonial zur Tafel „Fenster zur Welt“ über Desinformation und Zensur und stellt die Frage, ob es angemessen wäre, heutzutage russische Literatur zu ächten. Wichtig sei die Kompetenz, „zwischen den Zeilen“ zu lesen, daher auch die hohe Attraktivität von Belletristik in der DDR. Gemeinsam mit Ingrid Sonntag hat Siegfried Lokatis das Buch „Heimliche Leser in der DDR – Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur“ herausgegeben (Berlin, Ch. Links Verlag, 2009). Dieser Band dokumentiert eine Konferenz aus dem Jahr 2007. Die von Ines Geipel und Joachim Walter herausgegebene Reihe „Die Verschwiegene Bibliothek“ lag weitestgehend vor, „Gesperrte Ablage“ erschien erst im Jahr 2015, das Buch „Zensiert, verschwiegen, vergessen“ von Ines Geipel im Jahr 2009 (bei Artemis & Winkler).

Dennoch mag verwundern – bei allen Verdiensten des Buches –, dass von den zehn Autor*innen der „Verschwiegenen Bibliothek“ lediglich Gabriele Stötzer (zweimal) und Heidemarie Härtl (dreimal) erwähnt werden. Andererseits zeigt dies, wie notwendig es war und nach wie vor ist, dass Ines Geipel und Joachim Walther das von ihnen aufgebaute „Archiv unterdrückter Literatur der DDR“ der Öffentlichkeit zugänglich machten, zumindest so weit es ihnen möglich war. Ines Geipel gestaltete die fünfte Tafel der Ausstellung mit dem Titel „Giftschrankliteratur“. Giftschränke gab und gibt es auch im „Westen“, doch sollte man den Unterschied zwischen einer freiheitlichen Demokratie und Diktatur nicht vergessen Thomas Klein formuliert in seinem Beitrag für „Heimliche Leser“ diesen Unterschied am Beispiel des investigativen Journalismus im Westen: „Herbert Marcuse hat solche Untersuchungen bereits in den sechziger Jahren mit Hilfe seines Begriffs der ‚repressiven Toleranz‘ vorgenommen. / Der ‚Fall DDR‘ ist dagegen das Beispiel einer monopolbürokratischen Diktatur mit direkter politischer Kontrolle von Öffentlichkeiten.“ Man könnte beispielsweise an den Umgang mit der Spiegel-Affäre im Jahr 1962 denken, die Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag als einen „Abgrund von Landesverrat“ bezeichnete, der sich dann jedoch dank der Mittel eines Rechtsstaates in Luft auflöste. Ines Geipel fragt: „Was wäre aus dem DDR-System geworden, wenn bestimmte literarische Stimmen hätten wirken dürfen?“

Ein Ereignis, das in Ost und West unterschiedlich kommentiert und rezipiert wurde, war das Unglück im damals sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl im Jahr 1986. Robert Grünbaum spricht in seinem Testimonial über das 1987 erschienene Buch „Störfall“ von Christa Wolf, ein Buch, das gedruckt werden durfte, aber nie lieferbar war. Er habe in zahlreichen Buchläden in Potsdam nachgefragt, das Buch aber erst 1987 im Westen, in Gießen, auf einem Auslagetisch gefunden und es dort mit seinem ersten Westgeld erworben. Die Buchhändlerin Heidrun Klinkmann berichtet, dass es in den Buchhandlungen nicht möglich war, Werke von Heinrich Böll zu erwerben, es aber durchaus Wege gab, sie sich zu besorgen und als Bückware zu erhalten. Westbücher wurden während der Buchmesse vorzugsweise gestohlen. Zu den Dieben gehörten – so auf dem Faksimile eines Berichts der Volkspolizei zu lesen – auch sogenannte „Angehörige der Intelligenz“, „Studenten“ und „Schüler“. Die Tafel „Haben Sie was von Stefan Zweig?“ dokumentiert, dass 1983 nach einer Besucherbefragung im Volksbuchhandel nur noch jeder sechste Kunde vom DDR-Buchhandel das gewünschte Buch erhält, 1967 war es noch jeder zweite. Verknappung ist als Strategie in einer Diktatur durchaus wirksam.

Christoph Links, aus meiner Sicht der Verleger mit dem umfassendsten Angebot von Literatur – Sachbüchern wie Belletristik – zur Geschichte und zur inneren Verfasstheit der DDR, beschreibt Öffnungen in den 1970er Jahren. Wir sehen Erich Honecker im Gespräch mit Wolf Biermann, eine Geste, die den Generalsekretär nicht hinderte, seinen Gesprächspartner 1976 auszubürgern. Der Verlag „Volk und Welt“ sorgte für eine Öffnung zur Literatur anderer Länder, zunächst für Länder, die die DDR-Führung als „befreundet“ bezeichnete, und über deren Befreiungskämpfe Literatur zu erhalten war. Petra Köpping spricht über die „Lesestadt Leipzig“, die „ein bisschen für die DDR das Tor zur Welt“ war, Andrej Hermlin über die Ausbürgerung von Wolf Biermann, die dieses Tor schließen sollte und es – völlig kontraproduktiv – angesichts der Prominenz des Ausgebürgerten weit öffnete.

Ambivalenzen

Christa Wolf wird mehrfach zitiert, so auch von Paula Fürstenberg, eine der erst in den späten 1980er Jahren geborenen Zeitzeug*innen, in ihrem Testimonial als Zeitzeugin benannt: „Was bleibt“. Dieses Buch wurde in der Diktatur-Zeit geschrieben, konnte jedoch erst 1990 erscheinen. Für Paula Fürstenberg stellte sich die Frage, wie sie sich „ohne eigene Erinnerung (…) die DDR erschließen“ könne. Es gehe um die „widersprüchliche, ambivalente Erinnerung“. Sie bezieht sich auf Martin Sabrows Typologie der drei Gedächtnisformen und sieht im „Arrangementgedächtnis“ einen dritten Weg zwischen „Diktaturgedächtnis“ und „Fortschrittsgedächtnis“ (Martin Sabrow, Erinnerungsorte der DDR, München, C.H. Beck, 2009). Diese Typologie sei mit allen in ihr erfassbaren Widersprüchen im offiziellen Rahmen, beispielsweise in der Schule, ebenso wie in privaten Verhältnissen, in der Familie, im Freundeskreis relevant. Linda Teuteberg, die 1981 geboren wurde, präsentiert Günter de Bruyn, „Vierzig Jahre – Ein Lebensbericht“, erschienen im Jahr 1996. Sie hebt hervor, wie mit der staatlich verordneten Parteilichkeit, beispielsweise über den sogenannten „Bitterfelder Weg“ die Qualität der Texte gesunken sei und benennt somit das – so möchte ich es nennen – Agit-Prop-Dilemma, das affirmative Literatur regelmäßig trifft.

Sommer 1963. Irgendwo an der Ostsee. Eine Frau liest die 1962 in der DDR veröffentlichte Übersetzung des sowjetischen Romans „Schlacht unterwegs” von Galina Nikolajewa.
Pressefoto Ausstellung Leseland DDR: Kurt Schwarz

Ambivalenz ist Thema von Corinne Orlowski, die erst nach der Wende geboren wurde und sich als eines der „Nachwendekinder“ versteht. Sie bezieht sich auf das Metamorphosen Magazin für Literatur und Kultur, das im Berliner Verbrecher Verlag erscheint. Sie spricht über die Ambivalenz der Erfahrung der Diktatur auf der einen Seite und der Erinnerung an den ein oder anderen „schönen Sommer“ auf der anderen. Nur am Rande: vielleicht hätte Gerhard Gundermanns Song „Das war mein zweitschönster Sommer“ gepasst, gerade im Hinblick auf dessen ambivalenten Lebensweg. Aufschlussreich ist beispielsweise Band 28 des Magazins (herausgegeben von Michael Watzka und Moritz Müller-Schwefe). Corinne Orlowski schreibt im Vorwort: „Ich bin ebenfalls ein ‚Nachwendekind‘, 1990 in Brandenburg an der Havel geboren, und beobachte wie andere in meinem Alter auch, wie seltsam verbunden wir uns der DDR fühlen. Wir haben keinen DDR-Kindergarten und auch keine Polytechnische Oberschule besucht und trotzdem teilweise auf den Bänken des Typenschulbaus gesessen, in dem unsere Eltern schon lesen gelernt haben. Als Kinder haben wir nicht darüber nachgedacht, ob die Deutsche Einheit etwas mit uns zu tun hat oder was es für unsere Eltern bedeutet, in einem Staat geboren zu sein, der nicht mehr existiert. Wir haben alle Game Boy gespielt, Bibi-Blocksberg-Kassetten oder Bravo Hits gehört und uns Center Shocks gekauft. Was wir aber mittlerweile begreifen: Wir haben die DDR zwar nicht miterlebt, sind aber kulturell mit ihr aufgewachsen. Der Osten ist nicht einfach mit dem Mauerfall verschwunden.“

So weit die eine Seite. Die andere? Corinne Orlowski fährt fort: „Jetzt wollen wir nach Ursachen suchen, um die Wut, den Frust und Extremismus, den rechten Terror im Osten der Nachwendezeit bis heute zu erklären – #baseballschlägerjahre. Wir wollen nachvollziehen, wie unsere Eltern und Großeltern in der DDR gelebt haben und was der Umbruch mit ihnen gemacht hat, auch um uns selbst besser zu verstehen. Wir wollen begreifen, warum wir noch immer laufend mit negativen Klischees konfrontiert werden, mit Bildern vom Osten, die uns zwar geläufig sind, die wir aber nie auf unser eigenes Leben beziehen würden.“

Ambivalenzen gab es auch in der herrschenden Partei. Ingrid Sonntag hat in „Heimliche Leser“ ein Interview mit Erich Loest veröffentlicht, der von 1957 bis 1964 siebeneinhalb Jahre ohne Zugang zu Papier und Stiften inhaftiert war. Allerdings konnte die SED-Führung nicht verhindern, dass er nach der Haft seine Kriminalromane unter dem Pseudonym Hans Walldorf verkaufte: „Das missfiel der Macht, dass dieser Loest wieder so schnell hochkam. Ich hab ja gutes Geld verdient durch die Walldorf-Krimis in zwei Verlagen. Die Stasi hat durchgerechnet: Ich hatte in einem Jahr gut 200.000 Mark verdient. Da waren die sauer.“ Es gab eben eine Reihe von „Grauzonen“ – so Hedwig Richter in ihrem Beitrag zu „Heimliche Leser“ über „Kirchlichen Literaturtransfer in die DDR“.

Von der Staatssicherheit beschlagnahmte Druckschriften aus der Bundesrepublik, die sich mit den Menschenrechtsverletzungen in der kommunistischen Diktatur auseinandersetzen (1974).
Pressefoto Ausstellung Leseland DDR: BArch, MfS, BV Potsdam, AKG 2641, S. 3

Eine Grauzone waren auch private Lesekreise, so in den Jahren 1977 und 1978 der „Adorno-Kreis“ in Berlin-Pankow, aus dessen Leseliste Hans-J. Misselwitz in „Heimliche Leser“ zitiert: „Markus Meckel, damals Student der Theologie, referierte über Friedrich Nietzsche, und im Kursbuch, das man aus der Staatsbibliothek ausleihen konnte, fand sich das Material für einen Abend über ‚Kommunismus, eine reale Utopie‘. Ich erinnere mich an die gemeinsame Lektüre von Hans Henny Jahnns Neuer Lübecker Totentanz. Meine eigenen Beiträge warennach meiner Erinnerung das Thema ‚Grenzen des Wachstums‘, nach der berühmten Studie des Club of Rome von 1973 – damals diskutiert im Hinblick auf die Konsequenzen für den herrschenden westlichen wie auch marxistischen Fortschrittsbegriff, des Weiteren die Studie Entschulung der Gesellschaft des Soziologen Ivan Illich, ein der Befreiungstheologie nahestehender katholischer Priester, in der gezeigt wird, wie das Bildungssystem in der Dritten Welt als eine Säule der Unterdrückung funktioniert. Schließlich erinnere ich mich an meinen Versuch, über die grundlegende Analyse von Jürgen Habermas zum Strukturwandel der Öffentlichkeit das Thema ‚Öffentlichkeit‘ auch für uns zu erschließen. Ein letztes Beispiel für die Rezeption neuerer philosophisch-politischer Schriften war Louis Althussers Ideologie und ideologische Staatsapparate, vorgetragen von Freya Klier, die damals ihr Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst ‚Ernst Busch‘ in Berlin absolvierte.“

Einen alternativen Blick auf die Welt der DDR eröffnete in den Anfangszeiten der DDR noch die von Melvin Lasky herausgegebene Zeitschrift „Der Monat“, dessen Hefte antiquarisch verfügbar sind. Harald Hurwitz verfasste zu dem Band „Heimliche Leser“ einen Beitrag mit dem Titel „Der heimliche Leser – Die Zeitschrift Der Monat und ihre Verbreitung in der DDR 1949 bis 1951“. „Am allermeisten haben heimliche Leser des Monat Orwells 1984 gepriesen. (…) Schließlich erwarb ein Verlag das Recht für eine deutsche Ausgabe, die in West-Berlin zum Sonderpreis zu haben war; aber für Ostleser machten 3,50 DM bei einem Kurs von sechs zu eins einen ansehnlichen Teil des Wochenlohns aus. Dennoch gehörten Orwells Wortschöpfungen in der DDR nicht nur für Andersdenkende bald zum Sprachgebrauch: ‚Unperson‘, ‚Doublethink‘, ‚Gedankenpolizei‘ und ‚Big Brother is Watching You!‘“

Vielleicht ist die DDR auch ein Beispiel, dass kein Land, vielleicht gerade noch Nordkorea, in der Lage ist, seine Bevölkerung komplett vor jedem fremden Einfluss abzuschotten. Auch das mag in manchen Diktaturen hoffen lassen, nicht zuletzt in Zeiten des Internets. Wir sollten auch nicht vergessen, dass ein Messenger-Dienst wie Telegram nicht nur unappetitliche Äußerungen vernetzt, sondern auch als Medium der Opposition in Diktaturen wie Russland oder Belarus verwendet wird.

Ein, zwei, drei deutsche Literaturen – oder gibt es noch mehr davon?

Günter Grass prägte die Ansicht, die DDR sei so etwas wie eine „kommode Diktatur“ gewesen. Dem hat Anna Kaminsky im Gespräch mit mir entschieden widersprochen: „Kommode Diktaturen gibt es nicht“. Ines Geipel und Joachim Walther sorgten dafür, dass die Literatur, die in der DDR nicht veröffentlicht werden konnte, aufgearbeitet werden kann. Die Werke dieser über 100 Autor*innen überlebten in der Gesperrten Ablage der Stasi oder in ihren eigenen Gedächtnissen beziehungsweise denen ihrer Mithäftlinge. Ihre Texte konnten erst nach Jahrzehnten in den 1990er und 2000er Jahren veröffentlicht werden, viele warten noch auf Entdecker*innen, auf Verleger*innen, auf Wissenschaftler*innen, die sie auswerten, die Studierenden die Möglichkeit geben, diese Literatur in Master- oder Doktorarbeiten zum Leben zu erwecken. Ines Geipel sagt in ihrem Testimonial zur Ausstellung „Leseland DDR“, es sei „keine reine glückliche Geschichte, und trotzdem streckt in jedem Schreiben immer ein Werden, immer ein Hoffen“. Es gehe darum, die Texte zu bewahren, die Stimmen zu kennen, die man nicht kennen durfte: „wir haben den Auftrag hinzuschaun“.

Siegfried Lokatis schreibt in „Heimliche Leser“: „Tätsächlich war das heimliche Lesen nur die eine Seite der Medaille, deren andere die Zensur war.“ Er fordert eine „Zensurwirkungsforschung“: „Ohne die Analyse klandestiner Lektüre-Strukturen lässt sich die reale Wirkung von Zensurmaßnahmen schlechterdings nicht einschätzen.“ Es geht um „Literaturkontrolle“, „Mauerlöcher“ und „Giftschränke“; letztlich die „Geheimgeschichte des Leselandes“, das sich aus meiner Sicht auch als „Literaturland“ bezeichnen ließe, wenn man neben dem Gelesenen das Geschriebene und das Nicht-Schreibbare einbezieht. Mehrere Beiträge zu „Heimliche Leser“ dokumentieren die Verbreitung der Texte von Autor*innen, die die Parteiführung verfemte, über Samisdat-Literatur oder über Umwege, beispielsweise über Polen oder über die oft verspätete Rezeption einschlägiger sowjetischer Literatur. Einen dieser Beiträge schrieb Klaus Michael, der allerdings auch kritisiert, dass eine Erforschung dieser Literatur weitgehend „nur unter politologischen, soziologischen und zeithistorischen Prämissen“ erfolge, die ihrer Bedeutung nicht gerecht werde. „Ohne eine breitgefächerte Samisdat-Literatur wären das Entstehen von eigenständigen politischen Oppositionsbewegungen und der Fall des Eisernen Vorhangs ebenso wenig denkbar wie die Entwicklung moderner Literaturen in der Sowjetunion, Polen oder in Tschechien.“ Andererseits: nach der Wende ereilte manche dieser oppositionellen Zeitschriften wie „radix-blätter“, „Mikado“, „Ostkreuz“ oder „Kontext“ das Schicksal der Nicht-Beachtung. „Kontext ist nach 1989 nicht die Hauszeitschrift von ‚Bündnis 90‘ geworden, obwohl das Periodikum personell wie intellektuell dazu berufen schien. Anfang 1991 teilte Kontext das Schicksal aller ostdeutschen Neugründungen. Die Zeitschrift stellt ihr Erscheinen ein.“ Auch das gehört zum Schicksal des Leselandes DDR.

Gab es überhaupt so etwas wie eine DDR-Literatur? In der allgemeinen Literaturwissenschaft scheint nur ein ausgewählter Teil der in der DDR geschriebenen Literatur eine Rolle zu spielen. Die Autor*innen des „Archivs unterdrückter Literatur“ scheinen keine Rolle zu spielen. Geschrieben wird durchaus über Produktionsbedingungen, aber welchen Einfluss haben Produktionsbedingungen auf die Ästhetik eines Textes, wie schreibt und liest man „zwischen den Zeilen“, welche Themen, welche Motive, welche Metaphern? Auf einer Tafel mit dem Titel „Giftschrankliteratur“ sehen wir Schüler*innen der 18. Grundschule in Berlin-Pankow im blauen FDJ-Hemd, die am 1. Juni 1955 am Abend des Internationalen Kindertages sogenannte Schmutz- und Schundliteratur aus dem Westen ins Feuer werfen.

Markus Meckel versucht in seinem Beitrag zum „Leseland DDR“ die verschiedenen deutschen Literaturen – in West und Ost sowie nach einem Diktum von Fritz J. Raddatz in der unveröffentlichten Literatur der DDR, die eine dritte deutsche Literatur wäre“ – zusammenzudenken. Markus Meckel nennt drei Fragen, nach denen ein Buch gelesen werden könnte, was ist passiert, was habe ich getan, warum tat ich dies, welche Ziele verfolgte ich, wie sieht die Gegenwart des Schreibens aus, wie das Urteil aus der Distanz? Er stellt fest, dass diese Aspekte oft nicht unterschieden würden. Er präsentiert ein Buch, das mehrere Funktionen erfüllte, durchaus ein „Fenster zur Welt“, zwar nur im Westen erschienen, aber – wie auch immer – in der DDR erworben und gelesen: Zdenĕk Mlynář, „Nachtfrost – Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen Sozialismus“ (Köln / Frankfurt am Main, Europäische Verlagsanstalt, 1978). Das Buch ist nach wie vor antiquarisch erhältlich. Es enthält im Anhang die von Zdenĕk Mlynář verfassten Teile des Aktionsprogramms der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei vom 5. April 1968, das sogenannte Moskauer Protokoll, das das Ende des sogenannten „Prager Frühlings“ manifestierte, sowie den Beitrag Zdenĕk Mlynářs auf der Tagung des Zentralkomitees der KPČ vom November 1968, auf der er seine Parteifunktionen niederlegte. Das Buch enthält ferner Biogramme der Akteur*innen des „Prager Frühlings“. Markus Meckel empfiehlt die Lektüre des Buches als ein Dokument, das zeige, wie Entscheidungsprozesse in kommunistischen Staaten abliefen, es habe ihm beim Verfassen seiner eigenen Memoiren („Zu wandeln die Zeiten – Erinnerungen“, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020) geholfen.

Nach der Ausbürgerung aus der Sowjetunion findet der Schriftsteller Alexander Solschenizyn im Februar 1974 eine erste Zuflucht bei seinem Freund Heinrich Böll in Langenbroich in der Eifel.
Pressefoto Ausstellung Leseland DDR: Bundesstiftung Aufarbeitung / Harald Schmitt, Sv136

Tafel 18 der Ausstellung stellt explizit die Frage, ob es zwei deutsche Literaturen gegeben habe. Präsentiert werden die Titelseiten von Alice Schwarzer, „Der ‚kleine Unterschied‘ und seine großen Folgen“, sowie Maxie Wander, „Guten Morgen, du Schöne“, die Verleihung des Bayerischen Filmpreises durch Franz Josef Strauß an Thomas Brasch im Jahr 1981. Geradezu ikonographisch für eine Versöhnung zwischen Ost und West auf dem Wege Literatur, jenseits der offiziellen „Entspannungspolitik“, ist das in der Ausstellung gezeigte Bild eines Spaziergangs von Heinrich Böll und Lew Kopelew. Es gibt eben viele deutsche Literaturen oder – wer so möchte – viele Varianten deutschsprachiger Literatur. Damit meine ich nicht österreichische oder deutsch-schweizerische Literatur, sondern all die literarischen Arbeiten aus und in Ländern des sowjetischen Machbereichs, die in deutscher Sprache geschrieben wurden. Was ist beispielsweise mit der deutschsprachigen Literatur aus Rumänien, mit den Romanen, Essays und Gedichten von Herta Müller und Oskar Pastior? Vielleicht ließe sich die Ausstellung „Leseland DDR“ noch um diesen Aspekt ergänzen, mit einem Blick in die Lesewirklichkeit der sogenannten „sozialistischen Brudervölker“?

Eine eindimensionale Sicht der Geschichte

Es lohnt sich, die Ausstellung im Zusammenhang mit Essays und Rezensionen von Zeitzeug*innen zu sehen und zu lesen. Zeitzeug*innen sind  beispielsweise die Literaturwissenschaftler*innen Leonore Krenzlin (*1934) und Dieter Schiller (*1933). Beide haben in der DDR beim Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet. Dieter Schiller hatte von 1976 bis 1980 und von 1986 bis 1990 die Funktion eines stellvertretenden Direktors, Leonore Krenzlin seit 1972 die einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Das Institut wurde 1991 aufgelöst und nach einer Übergangszeit von etwa fünf Jahren in das Zentrum für Literaturforschung (ZfL) überführt, das 2019 zum Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung wurde. Nach der Auflösung des Zentralinstituts beteiligten sie sich an diversen Kongressen, veröffentlichten diverse Texte. Es ist das Verdienst des Berliner Schwarzdruck-Verlages (Edition Schwarzdruck), nach 1990 entstandene Texte der beiden Wissenschaftler*innen sowie auch einige Rezensionen aus den 1970er und 1980er Jahren in dem Band „Rückblick auf ein verlorenes Land – Studien und Skizzen zur Literatur der DDR“ der interessierten Öffentlichkeit zugänglich(er) gemacht zu haben. Der Band erschien im Jahr 2019. Er enthält Texte zum Formalismus-Plenum, zum Bitterfelder Weg, zu verschiedenen folgenden literarischen Kontroversen, auch im Zusammenhang mit dem sogenannten „Kahlschlag-Plenum“, dem 11. Plenum, jeweils im Rückblick geschrieben.

Stefan Heym am Rednerpult auf der Großdemonstration am Alexanderplatz am 4. November 1989.
Pressefoto Ausstellung Leseland DDR: BArch, MfS, HA XX, Fo 1425, Bild 11

In einer Studie aus dem Jahr 2003 und einem älteren Konferenzbeitrag aus dem Jahr 1990 referiert Dieter Schiller die Auseinandersetzung um Stefan Heyms Versuch, die Ereignisse um den 17. Juni 1953 literarisch zu verarbeiten, zunächst in „Der Tag X“, der nicht erscheinen durfte, dann nach zahlreichen Wendungen und Wirrungen in „Fünf Tage im Juni“. Auch ein im Grunde loyaler Autor wie Stefan Heym musste Umwege suchen. „Denn Heyms Aufsatz Die Langeweile von Minsk, Ende August in der CSSR veröffentlicht, in Frankreich nachgedruckt und schließlich Ende Oktober auch in Die Zeit erschienen, sorgte für neue Aufregung an der ideologischen Front.“ Dies wurde 2003 geschrieben, der Text von 1990 nennt den Sprengstoff, den schon alleine die Absicht enthielt, einen solchen Roman zu schreiben: „Nicht ohne Ironie konterte der Autor den Vorwurf (Erich Honeckers auf dem 11. Plenum, NR), seinen Roman Der Tag X in Westdeutschland propagiert zu haben, mit der Bemerkung, wenn ein weltbekannter sozialistischer Schriftsteller einen Roman über ein weltbekanntes Ereignis scheibe und der Roman in einem sozialistischen Land nicht zugelassen werde, brauche der Schriftsteller sein Buch nicht mehr zu propagieren: es werde automatisch zum Gegenstand des Weltinteresses.“ Anders gesagt: die SED-Organe konnten tun was sie wollten, es konnte ihnen nicht gelingen, vor die Lage zu kommen. Der 17. Juni 1953 fand sein ebenso aufregendes Gegenstück in der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Und diese war vielleicht der Anfang vom Ende der DDR.

Ein aufschlussreiches Zeitdokument ist der von Dieter Schiller im Sommer 1990 geschriebene und 1995 ergänzte Text „Antwort auf Fragen eines Bundesdeutschen zur DDR-Literatur“, der den Sammelband mit der Überschrift „Statt eines Nachworts“ abschließt und – so ließe sich sagen – in Form eines Rückblicks zusammenfasst. Der Essay befasst sich mit der Frage, ob „es eine relativ eigenständige Entfaltung der Literatur in der DDR gegeben hat und in Resten wohl auch noch gibt“. Dieter Schiller ist „davon überzeugt“, ebenso davon, dass „die wichtigsten Leistungen dieser Literatur in ihrem künstlerischem Niveau und – wenn auch in begrenztem Grade – ihren innovatorischen Elementen innerhalb der europäischen Kultur einen eigenständigen Platz haben und behalten werden.“

Wie mächtig war der Staat, wie mächtig war Literatur? Dieter Schiller beschreibt, dass der Staat bei seinen Vorgaben, wie zu schreiben wäre, im Kontext des sogenannten „sozialistischen Realismus“ oder der künstlerischen Wertschöpfung aus dem engen Kontakt zur Arbeitswelt im Bitterfelder Weg, „eine maßlose Überschätzung der Wirkungsmöglichkeit von Kunst (…), eine – oft naive – Kurzschlüssigkeit in der offiziösen Bestimmung der Produktions-, Rezeptions- und Wirkungsbedingungen“ an den Tag legte. Das Diktat des Bitterfelder Wegs war – so Leonore Krenzlin in einem Aufsatz aus dem Jahr 1998 – auch in den Betrieben nicht unbedingt willkommen: „In Hoyerswerda war man allerdings über die einsetzende Intellektuellen-Invasion so wenig erfreut wie in anderen Betrieben (…).“ Vielleicht wurde Frank Beyers Film „Die Spur der Steine“ im 11. Plenum auch gerade deshalb so scharf kritisiert, weil er den Bitterfelder Weg karikierte. Auf der anderen Seite verkannte der SED-Staat die Absichten der in seinen Augen sich – im doppelten Sinne des Wortes – kritisch verhaltenden Künstler*innen. Dieter Schiller: „Denn ein Großteil auch der kritischen Intelligenz und Künstlerschaft sah sich ja keineswegs als Gegner des Sozialismus, sondern wollte mit seinem Schaffen zu einer Demokratisierung und Humanisierung der realsozialistischen Verhältnisse beitragen. Das galt auch für solche, die sich dem offiziösen Kunstdogmatismus und den kulturpolitischen Repressionen widersetzten.“

Dies lässt sich beispielsweise an Christa Wolfs 1976 erschienenem Roman „Kindheitsmuster“ belegen, der gerade auch die „individuellen Konflikte in der realsozialistisch werdenden Gesellschaft“ thematisierte. Dies „wurde von vielen Lesern mit großem emotionalem Engagement aufgegriffen. Doch statt die Frage nach der psychischen Prägung durch autoritäre Strukturen ernstlich und öffentlich zu erörtern, wurde diese Seite des Buches stark tabuisiert (…) und die künstlerische Entwicklung einer ganzen Autorengeneration zeitweilig blockiert (…).“ Ähnliche Entwicklungen sieht Dieter Schiller bereits bei Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“, die 1963 erschien.

Geschichte wurde rein teleologisch betrachtet, immer in Bezug auf „die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei“. Diese einseitige Sicht der Geschichte durchzog die offiziell-offiziöse Literaturkritik der Partei schon seit dem Formalismus-Plenum von 1951, über das Leonore Krenzlin in einer 1989 entstandenen und 2019 überarbeiteten Studie schreibt: „Seine theoretischen und kunstpolitischen Implikationen und Aporien bestehen – kurz zusammengefasst – darin, dass vom Künstler eine unverzerrte Darstellung der Wirklichkeit zwar verbal gefordert wird, tatsächlich jedoch eine starke Idealisierung des Dargestellte erwartet wurde – besonders sollte das in der Realität angetroffene Konfliktpotential gemildert werden.“

Treue Schüler des deutschen Idealismus

Henryk Bereska  resümiert die Folgen eindimensionalen Denkens am 12. März 1967 in seinen Kolberger Heften: „Das Geschichtsdenken mancher Leute kommt mir übrigens reichlich unsinnig vor. Statt Ursachen zu untersuchen, begnügt man sich mit pauschalen Erklärungen. Während die vergangenen idealistischen Methodiker der Idee in der Geschichte eine Allbedeutung gaben, machen sich unsere Materialisten die Sache leicht, indem sie die Triebkraft der Geschichte allein im Ökonomische suchen. So wird das Ganze in eine Schablone gepresst, bei der alles, was nicht hineinpasst, als bedeutungslos abgetan wird.“ Vielleicht sind aber auch die marxistisch-leninistischen Theoretiker in all ihrem historischen und dialektischen Materialismus treue Schüler*innen des deutschen Idealismus.

Der Hegel’sche Weltgeist hat nur Namen und Adresse gewechselt, aber das gesamte System steht immer noch oder wieder auf dem Kopf. Und nach 1989 braute sich schließlich etwas zusammen, das schon lange vorbereitet war. Wer die differenzierten Gedanken kritischer Künstler*innen missachtet und unterdrückt, provozierte geradezu eine Gegenbewegung, die den Faschismus, die Schrecken der Vergangenheit ignorierte und als das eigentliche Gegenbild aufbaute. Michael „Salli“ Salzmann hat dies in „Badetag“ (2009 erschienen in „Die Verschwiegene Bibliothek“, die Texte stammen den 1970er und 1980er Jahren) beschrieben, beispielsweise in der Erzählung „Judenarsch“: „‚Die verbiedn uns de Jeans und de langen Haare, mir könn‘ unsere Musik nur von driem, von de Westsender hörn, dos is doch nich‘ in Ordnung! Und was die erzähl von Hitler unn von früher unn so, worum solln mier denn dos gloobn?‘ / Die Clique johlt. Wir sind dagegen, uns so behandeln zu lassen von den Lehrern. Wir kämpfen. Wenn es sein muss auch mit Hitlergruß, so dass es keiner sehen kann, in der Toilette des Imbiss-Standes an der Bushaltestelle. In der Schule. Alles ist gut, wenn’s gegen die da geht, in der Schule, im Rathaus, die Bonzen, die Kommunisten. Und wer früher mal gegen die gewesen ist wie der Hitler, ist der für uns automatisch auch gut?“ Immerhin ein Fragezeichen, aber es ist das Fragezeichen Salli Salzmanns, nicht das Fragezeichen seiner Klassenkameraden. Die haben eine andere Einstellung und mit dem 9. November 1989 wurde auch etwas ganz anderes befreit, das wir heute – im Herbst 2022 und schon seit längerer Zeit –zur Kenntnis nehmen müssen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 8. Oktober 2022. Bei den Bildern handelt es sich um Pressebilder zur Ausstellung, die auf der Seite der Bundesstiftung Aufarbeitung verfügbar sind. Diese Pressefotos dürfen ausschließlich im Zusammenhang mit der Berichterstattung zur Ausstellung Leseland DDR und nur mit dem jeweils angegebenen Bildnachweis kostenfrei verwendet werden. Die Buchauswahl des Titelbildes nahm Christine Lieberknecht vor. Belegexemplare bitte an die Bundesstiftung Aufarbeitung, zu Händen Clara Marz, Kronenstraße 5, 10117 Berlin)