Liebe Freund:innen des Demokratischen Salons,

in unserer Ausgabe vom August 2023 finden Sie sieben neue Texte:

  • Der CDU-Bundestagsabgeordnete Sepp Müller beschreibt sein Erfolgsrezept im Wahlkreis Dessau-Wittenberg: ständige Präsenz vor Ort und die Organisation von Gesprächen zwischen Menschen, die sonst nicht miteinander reden würden.
  • Die innenpolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, Julia Höller, spricht über die Rolle der Polizei im Rechtsstaat und die Bedeutung der Bürgerrechte.
  • Jürgen Repschläger beschreibt Genese und Pläne des Bonner Forums für Exilkultur, das dank der Bilder und Bücher des Sammlers Thomas B. Schumann möglich wird. Zu sehen sind mehrere einzigartige Bilder der Sammlung.
  • Klaus Schäfer, Staatssekretär a.D., resümiert 75 Jahre Kinder- und Jugendhilfe, den Wandel von einem Fürsorgeansatz zu einem Erziehungskonzept, die Debatten um die Heimerziehung sowie die Einmischung der Kinder- und Jugendhilfe in gesellschaftliche Entwicklungen, nicht zuletzt den Bildungsbereich.
  • Sylvia Löhrmann und Andrei Kovacs ziehen eine Bilanz des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ und diskutieren über dessen Weiterentwicklung, auch auf europäischer Ebene.
  • Im Essay „Polen 2023“ stellt Norbert Reichel neue Veröffentlichungen aus dem Deutschen Polen-Institut vor, die helfen, sich ein Bild der Lage vor den am 15. Oktober 2023 anstehenden polnischen Wahlen zu machen.
  • Die Frames der Debatten um den Islam sind Thema des Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit vom Juni 2023 und eines Essays von Ozan Zakariya Keskinkılıç, die hier vorgestellt werden.

Das Editorial befasst sich mit den im Bundeshaushaltsplan unter anderem vorgesehenen Kürzungen für Programme der politischen Bildung und der Demokratieförderung.

Wie üblich finden Sie unsere Vorschläge für den Besuch von Ausstellungen und Veranstaltungen sowie unsere Empfehlungen für Lektüren, Podcasts oder Filme. Das virtuelle Fachgespräch „Den unsichtbaren Armutsrucksack leichter machen“ vom 2. Juni 2023 ist jetzt in voller Länge online.

Die diesen Newsletter begleitenden Fotografien gestaltete die in Koblenz lebende Künstlerin Firouzeh Görgen-Ossouli.

Das Editorial:

Im vergangenen Monat gab es drei Ereignisse, die immer dringlicher eine Antwort auf die Frage verlangen, wie wir die Zukunft des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats sichern wollen. Eine halbwegs positive Nachricht: die rechtsextremistische Vox-Partei verlor in Spanien deutlich und wird – zumindest vorerst – nicht Koalitionspartnerin des Partido Popular. Verwirrend war die Debatte um Äußerungen von Friedrich Merz zur Zusammenarbeit der CDU mit der AfD in den Kommunen. Befürwortet er sie, toleriert er sie oder lehnt er sie ab? Das bleibt ungewiss. Christian Bangel, der den Begriff der #Baseballschlägerjahre erfand, wies am 24. Juli 2023 in ZEIT Online darauf hin, dass die Proteste gegen die Äußerungen des CDU-Vorsitzenden zunächst hauptsächlich von West-Politiker*innen kamen. Aber wir wollen nicht spekulieren. CSU-Chef Markus Söder kopierte die Parole einer Bewegung, die er unter anderen Umständen wahrscheinlich nicht in den Mund genommen hätte: „Nein heißt Nein.“

Das dritte Ereignis betraf zwei Lehrkräfte aus einer Schule in Burg (Brandenburg), Max Teske und Laura Nickel, die rechtsextreme Umtriebe, An- und Übergriffe in ihrer Schule öffentlich anprangerten, aber wegen der fehlenden Unterstützung von Kollegium und Schulleitung die Schule verlassen mussten. Der Bundespräsident und der Ministerpräsident Brandenburgs solidarisierten sich mit ihnen, aber dabei blieb es dann auch. Eine sehr eindrucksvolle Solidaritätserklärung formulierte Lea Feynberg (Pseudonym) unter dem Titel „Einsamer Kampf“ in der Jüdischen Allgemeinen vom 20. Juli 2023. Die Autorin fragt mit Recht: „Wir sind dazu angehalten, unsere Schüler zu mündigen Bürgern zu erziehen. Doch sind wir alle, die die Schule mitgestalten, selbst mündig? Sind wir imstande und willens, unsere wertvolle und hart erkämpfte Demokratie zu verteidigen, auch wenn sich das Erreichen des Ziels steinig gestaltet?“ Ihr Fazit: „Nicht der Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus werden bekämpft, sondern die Menschen, die auf die Ausgrenzung anderer aufmerksam machen.“

Die Jüdische Allgemeine veröffentlichte in der Ausgabe vom 20. Juli 2023 auf der ersten Seite einen Artikel von Igor Matviyets, SPD-Politiker aus Halle, mit dem denkwürdigen Titel: „Die Koffer packen und gehen?“ Er zitiert den Publizisten Michel Friedman und den Chef des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan Kramer, die gesagt hatten, bei einer Regierungsbeteiligung der AfD würden sie Deutschland verlassen. Keine neue Debatte: Michael Szentei-Heise hatte dies schon am 9. Januar 2020 in der Jüdischen Allgemeinen in einem Streitgespräch mit Nora Goldenbogen formuliert. Seine Positionierung war auch Anlass eines Interviews, das im Mai 2020 unter dem Titel „Nächstes Jahr in Jerusalem?“ im Demokratischen Salon veröffentlicht wurde. Marina Weisband berichtete (ebenfalls im Demokratischen Salon), dass sie immer einen gepackten Rucksack habe.

Igor Matviyets sagt, was zu tun wäre: „Unterdessen müssen wir Angekommene in Ostdeutschland wehrhafter werden. Im demokratischen Sinne müssen wir für Mehrheiten gegen die AfD kämpfen. Es braucht einen Konsens darüber, dass natürlich Parteien im Wettbewerb um die besten Konzepte für die Zukunft stehen, aber es keinen Überbietungswettkampf an rechtsextremen Ideen geben darf.“ Sehr deutlich wurde angesichts der Wirren um die Äußerungen von Friedrich Merz auch Gideon Botsch im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Er befürchtet eine „Selbstzerstörung der CDU“. Seine Diagnose: „Wir erleben seit Langem eine tiefgreifende, weltumspannende Krise der repräsentativen Demokratie, des demokratischen Verfassungsstaats, der zivilgesellschaftlichen Partizipation. Eingeleitet wurde dieser Prozess, davon bin ich überzeugt, mit der Zerstörung der Sozialen Demokratie vor ungefähr zwanzig bis dreißig Jahren.“ Bei den demokratischen Parteien fehle eine den Entwicklungen angemessene Analyse der Gefahr und jede Strategie.

Was das entschiedene Södersche „Nein“ tatsächlich bedeutet, lässt sich nicht allein an Kooperationen demokratischer Parteien mit AfD-Politiker*innen ablesen, sondern eher an der Übernahme von bestimmten Sprachmustern, insbesondere im Hinblick auf migrantisch gelesene Menschen. Gilda Sahebi hat am 24. Juli 2023 in der taz einige Beispiele genannt. Im Übrigen ist das nicht nur ein CDU-Problem. Die dänische Sozialdemokratie gilt mit ihrem extrem harten Kurs gegenüber Migrant*innen manchen deutschen Sozialdemokrat*innen durchaus als Vorbild.

All dies wäre eigentlich Anlass für Bundesregierung und Landesregierungen, Demokratiefördermittel, Mittel für Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung zu erhöhen, möglichst viele und attraktive Räume einzurichten, in denen darüber debattiert werden kann, wie wir unsere Demokratie erhalten und stärken könnten. Doch weit gefehlt. Das Demokratiefördergesetz, das der Deutsche Bundestag am 16. März 2023 in erster Lesung beraten hat, verdient seinen Namen nicht. Es enthält keine einzige verbindliche Aussage zum Haushalt. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht eine Kürzung der Mittel des Kinder- und Jugendplans um 44,6 Millionen EUR (das sind 18,6 Prozent) sowie der Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung für die Träger politischer Bildung um 4,2 Millionen EUR (das sind rund 24 Prozent) vor. Weitere erhebliche Kürzungen betreffen Projekte wie HateAID (aus dem Haushalt des Justizministeriums), die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland. Darauf verwies Benny Fischer, Programmdirektor der Alfred-Landecker Foudation am 27. Juli 2023 in der Jüdischen Allgemeinen. Weitere die Demokratie untergrabende Kürzungen gibt es im Haushalt des Sozialministeriums für Programme der Wohlfahrtsverbände zur sprachlichen, beruflichen und sozialen Integration von Zugewanderten. Der Haushaltsentwurf sieht eine Reduzierung der Mittel um 24 Mio EUR, von 81,5 auf 57,5 Mio EUR vor, eine Kürzung um rund 30 Prozent. Die Mittel für Freiwilligendienste werden um 24 Prozent gekürzt, ein Digitalisierungsprojekt der Wohlfahrtspflege für soziale Angebote für benachteiligte Menschen wurde vollständig gestrichen. Günter Jek, Leiter des Berliner Büros der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden sprach am 10. August 2023 in der Jüdischen Allgemeinen von einem „Kahlschlag“ mit „Kettensäge“.

Eigentlich müsste die AfD anmerken, dass das Vorgehen der Bundesregierung aus ihrer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung wäre. Wird sie vielleicht auch und zusätzliche Streichungsvorschläge ergänzen, wie sie das schon in manchen Landtagen getan hat und in ihren Wahlprogrammen fordert. Ich muss nicht darauf hinweisen, was eine AfD-Beteiligung an einer Regierung für Demokratieprojekte bedeuten würde, für Projekte der Erinnerungskultur, für den Geschichtsunterricht, für die historisch-politische Bildung, für Kunst und Kultur, für den Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, für die Integration von Zugewanderten. Das hat Maria Fiedler am 6. August 2023 im Tagesspiegel getan.

Das Kabinett beschloss den Haushaltsentwurf für das Jahr 2024 am 5. Juli 2023. Ob in den Haushaltsberatungen etwas geändert werden kann, werden wir sehen, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Das Innenministerium und das Sozialministerium werden von der SPD geführt, das Familienministerium von den Grünen, die FDP dürfte sich an den Kürzungen nicht stören, so ließen sich die Einlassungen von Linda Teuteberg vom 20. Februar 2023 in einem Streitgespräch mit Gerhart R. Baum in der ZEIT interpretieren. Ein „sogenanntes Demokratiefördergesetz“ gehöre nicht zu den „Kernaufgaben“.

Der Bundesausschuss politische Bildung (bap) reagierte noch am Tag des Kabinettbeschlusses. Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) veröffentlichte einen Tag später einen eigenen Aufruf. Er bemühte im ersten Satz die berüchtigte Floskel, die vor etwa drei Jahren für all die Berufsgruppen verwendet wurde, die man nicht einfach nach Hause schicken konnte: „Außerschulische politische Bildungsarbeit ist systemrelevant!“ Mit Ausrufezeichen. Er verwies auf den 16. Kinder- und Jugendbericht, der Vorschläge zur Stärkung der politischen Kinder- und Jugendbildung formulierte. (In den aktuellen Bildungsbericht von Bund und KMK hat es die politische Bildung leider nicht geschafft.)

Was im brandenburgischen Burg geschah, ist Alltag an vielen Orten, nicht nur in Ostdeutschland. Wer aufmerksam liest, wird immer wieder fündig. Wozu mangelnde Präsenz demokratischer Parteien führen kann, dokumentierte Josef Wirnshofer in der Süddeutschen Zeitung in einem sehr einfühlsamen Portrait der 37jährigen Julia Wortmann, die in einer alten Zechensiedlung in Essen-Karnap lebt. Sie war bis 2016 Mitglied der SPD, engagierte sich ehrenamtlich im Stadtteil, fand aber jetzt – wie sie sagt – ihr „neues Zuhause“ in der AfD. Über deren Ziele, deren rechtsextremistische Umtriebe weiß sie kaum etwas, darüber will sie auch nicht sprechen, aber sie weiß, wer in den letzten Jahren sich nicht um die Verhältnisse in Essen-Karnap gekümmert hat. Sie weiß auch nicht, dass die AfD in ihrem Programm – entgegen aller sozialpolitischen Rhetorik – wie die meisten rechtspopulistischen Parteien in Europa für ein neoliberales Gesellschaftsmodell steht. Gareth Joswig resümierte am 22. Juli 2023 in der taz: „Die AfD setzt auf Sozialneid, spielt dabei die verschiedenen Gruppen kleiner Leute‘ gegeneinander aus. Die programmatischen Forderungen der AfD bedeuten letztlich Umverteilung von unten nach oben.“

Was fehlt Menschen wie Julia Wortmann? Eine Art „Sicherheitsgefühl“, das ihren Stadtteil zur „Heimat“ machte? Es gibt durchaus Politiker:innen, die wissen, was Menschen brauchen. Einer davon ist ein junger Abgeordneter der CDU Sachsen-Anhalt im Deutschen Bundestag, Sepp Müller, der in dieser Ausgabe des Demokratischen Salons zeigt, wie es ihm in seinem Wahlkreis gelungen ist, die AfD zu besiegen. Eine ähnliche Analyse formulierte die sächsische Justiz- und Demokratieministerin Katja Meier (Bündnis 90 / Die Grünen) am 11. August 2023 im Gespräch mit Ferdinand Otto für ZEIT-Online: „Hier in Ostdeutschland sind ganz viele Begegnungsmöglichkeiten einfach weggefallen, gerade auf dem Land. Viele Menschen sind nach der Wende weggezogen. Viele Einrichtungen haben einfach zugemacht. Es gibt häufig keine physischen Orte mehr, wo Leute zusammenkommen können, um gemeinsam für ihre Gemeinde, für ihre Stadt, für ihren Landkreis Ideen zu entwickeln. Oder nur in Kontakt mit anderen zu kommen. Ich habe letzte Woche in Dresden ein Projekt besucht, das zeigt, dass es anders geht: Jugendliche mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen haben gemeinsam demokratische Regeln ausprobiert. Sie wurden gebeten, zu jeweils provokanten Fotos Stellung zu nehmen. Alle waren gezwungen, sich erst mal gegenseitig zuzuhören, andere Meinungen auszuhalten, aber dann auch Stellung dazu zu nehmen. Das macht im Kern politische Bildung für mich aus. Wir bringen Leute zusammen, die vielleicht sonst nichts mehr miteinander zu tun haben. Dafür braucht es mehr Geld, nicht weniger.“ NR

Die neuen Texte im Demokratischen Salon:

  • Rubrik Liberale Demokratie: Der junge Abgeordnete Sepp Müller, der seinen Vornamen der Bewunderung seines Großvaters für den Nationaltorhüter Sepp Maier verdankt, hat in seinem Wahlkreis Dessau-Wittenberg die AfD auf Platz 3 verwiesen. In unseren Gesprächen beschreibt er seinen Politikansatz: Präsenz, Präsenz, Präsenz. Seine Erfahrungen dokumentiert der Beitrag „Der Osten lebt – wie lebt der Osten?“. Er ist in seinem Wahlkreis immer wieder vor Ort, spricht mit den Bürgerinnen und Bürgern, bringt unterschiedlich denkende Menschen zusammen, die in diesen Treffen merken, dass die anderen gar nicht so schlimm sind wie sie vorher gedacht haben. Politik als Mediation: dazu gehört beispielsweise eine gemeinsame Aktion von Förstern und Fridays for Future. Inzwischen wurden gemeinsam 70.000 Bäume gepflanzt. Den Menschen vor Ort ist es letztlich egal, wer dafür sorgt, dass das Feuerwehrhaus renoviert wird, ein KiTa-Platz oder ein Pflegeplatz für die Großmutter bereitstehen. Aber eben das ist Aufgabe demokratischer Politik. Nimmt sie diese nicht wahr, kommen andere, die die Probleme auch nicht lösen, aber mit ihrer Fundamentalkritik den Unmut wohlfeil abschöpfen. Gefährlich ist auch das Fehlen politischen Personals. In Raguhn-Jeßnitz war nur die CDU in der Lage, einen eigenen Kandidaten für die Wahl zum Bürgermeisteramt aufzustellen. Entscheidend ist die kommunale Ebene. Dort müssen die demokratischen Parteien aktiver werden, viel aktiver. Die vollständige Dokumentation unserer Gespräche lesen Sie hier.
  • Rubriken Treibhäuser und Liberale Demokratie: Die innenpolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, Julia Höller, beschreibt in dem unter dem Titel „Die Bürgerrechte und die Polizei“ dokumentierten Gespräch, dass es in einer schwarz-grünen Koalition viel Diskussionsbedarf gibt, aber auch den gemeinsamen Willen, eine Lösung zu finden. Genau dies ist der Kern einer liberalen Demokratie, sodass die Koalition einer linksliberalen und einer konservativen Partei vielleicht sogar mehr gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden könnte als jede andere Koalition. Julia Höller benennt die Erfordernisse für Aus- und Fortbildung, Supervision und Begleitung von Polizist:innen in ihrem schwierigen Beruf, in dem sie oft genug in einer Sandwichposition handeln müssen, einerseits die individuellen Bürgerrechte, andererseits die Notwendigkeit eines entschiedenen Eingreifens berücksichtigend. Fehler müssen benannt und reflektiert werden. Dies gilt für polizeiliche Übergriffe ebenso wie für anti-demokratische Äußerungen von Polizist:innen in den sozialen Medien. Ein kritischer Punkt sind Forschungsergebnisse, die belegen, dass sich die Einstellungen von Polizist:innen von denen der Gesamtgesellschaft in zwei Punkten unterscheiden: sie haben mehr Vorbehalte gegen als Muslim:innen gelesene Menschen und gegen Obdachlose. Julia Höller schildert ihren Einsatz als parlamentarische Beobachterin in Lützerath, wo sie zahlreiche Beispiele gelingender De-Eskalation von beiden Seiten erlebte. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
  • Rubriken Kultur und Migration: Nur wenige Menschen, die ihr Heimatland verlassen, tun dies freiwillig. Sie gehen ins Exil. Der Sammler und Verleger Thomas B. Schumann verfügt über eine Vielzahl von Bildern und Büchern von Künstler:innen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 Deutschland verlassen mussten. Nicht alle überlebten den Terror, manche verloren im Exil jeden Halt, manche konnten ihr Werk fortführen, manche kehrten nach 1945 zurück. Die Sammlung Thomas B. Schumann soll demnächst im „Forum Exilkultur in Bonn“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das Konzept des Forums und die Entstehung der Sammlung beschreibt der Bonner Antiquar und kulturpolitische Sprecher der Linken im Rat der Stadt Bonn, Jürgen Repschläger, der nach seiner ersten Begegnung mit Thomas B. Schumann den Aufbau des Forums initiiert hat. Inzwischen liegt ein Ratsbeschluss vor. Das Forum soll ein Ort der Begegnung mit Kunst und Kultur in der Geschichte werden, so beispielsweise durch die Aufnahme weiterer Sammlungen, so beispielsweise von Milein Cosman, oder auch über temporäre Ausstellungen, beispielweise der von Evelin Förster gesammelten Notenblätter aus Kaiserzeit und Weimarer Zeit. Das Konzept beschränkt sich nicht auf die NS-Zeit: „Ich sage ganz pathetisch: selbst wenn die Menschen bei ihrer Flucht durch die Wüste oder über das Meer nur das nackte Leben mitbringen, so haben sie doch ihre Literatur, ihre Melodien im Kopf abgespeichert. Wir wollen eine Plattform schaffen, diese Kunst der neuen Exilant:innen zu zeigen.“ Den vollständigen Text lesen Sie hier.
  • Rubriken Kinderrechte und Liberale Demokratie: In der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten mehr Menschen als in der Autoindustrie. Klaus Schäfer, Staatssekretär a.D. und Professor an der Universität Bielefeld, hat den Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich verfolgt und mitgestaltet. In unserem Gespräch resümiert er „75 Jahre Kinder- und Jugendhilfe“. Charakteristisch ist das Wechselspiel zwischen Bundes- und Ländergesetzen, zwischen kommunaler Zuständigkeit und dem Engagement freier Träger. Der Streit um dieses Gesetz spiegelte zentrale gesellschaftliche Kontroversen, nicht zuletzt um die Frage, wie ein ursprünglich der Fürsorge verpflichtetes System den bereits im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 enthaltenen Erziehungsgedanken umsetzt. In den 1970er, 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich – auch dank des großen Engagements der Zivilgesellschaft, nicht zuletzt der Träger der freien Jugendhilfe – der Gedanke der „Einmischung“ der Kinder- und Jugendhilfe, letztlich ein Konzept der Kinder- und Jugendhilfe als Querschnittsaufgabe in Politik und Gesellschaft. Ein kritisches und noch lange nicht abschließend aufgearbeitetes Thema ist die Heimerziehung, die zwar schon in den 1960er Jahren skandalisiert wurde, jedoch erst in den vergangenen 20 Jahren Thema wurde. Der Beitrag enthält auch einige Tipps zur weiteren Lektüre. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
  • Rubriken Osteuropa und Europa: Wo liegt Polen? Wo liegt die Ukraine? Ost und West sind nicht nur eine Himmelsrichtung. Norbert Reichel stellt in seinem Essay „Polen 2023“ neue Publikationen des Deutschen Polen-Instituts vor, darunter das Jahrbuch 2023, das aktuelle deutsch-polnische Barometer, eine Darstellung des Bildes der deutsch-polnischen Entwicklungen in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts anhand einer Analyse der deutschen und polnischen Presse, eine Analyse von Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew zum Gedenken an den 1. September 1939 sowie ein Sammelband zum Gedenken an den ehemaligen polnischen Außenminister und Europaabgeordneten Bronisław Geremek. All diese Veröffentlichungen werden im Kontext weiterer Analysen diskutiert, beispielsweise von Ivan Krastev und Stephen Holmes oder Timothy Snyder. Eine wesentliche Veränderung vollzog sich mit dem russischen Überfall der Ukraine am 24. Februar 2022. Polen ist ein europäisches Land, jedoch werden anti-europäische und anti-deutsche Ressentiments im innenpolitischen Streit immer wieder reaktiviert. Von der deutschen Seite wird die Bedeutung Polens jedoch viel zu oft ignoriert. Ein besseres Verständnis wäre für die europäische Sache dringend erforderlich, vielleicht durch eine Wiederbelebung des von Bronisław Geremek maßgeblich mitgestaltetem „Weimarer Dreieck“, das der ehemalige polnische Ministerpräsident Jerzy Buzek die „Wirbelsäule Europas“ Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
  • Rubriken Jüdischsein und Antisemitismus: Es wäre sicherlich besser, wir könnten eine Bilanz des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ ohne Verweis auf die Rubrik „Antisemitismus“ ankündigen. Sylvia Löhrmann, Generalsekretärin, und Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Festjahres, ziehen eine positive Bilanz mit dem unvermeidbaren Fragezeichen: „Auf dem Weg zur Normalität?“. Das Jahr war ein Jahr der Begegnung, ein Jahr der Entdeckung für Juden und Jüdinnen und für alle Menschen, die keine Jüdinnen oder Juden sind. Es war Teil einer Emanzipationsgeschichte. Zahlreiche Projekte, von denen wir nur einige präsentieren können, sind nach wie vor verfügbar, sei es als Publikation, sei es mit Hintergrundberichten, die anregen, Künstler:innen zu engagieren, oder mit inspirierenden Projektberichten wie beispielsweise zur Aktion „Sukka XXL“. Bei allen Debatten von Bedeutung: das heutige deutsche Judentum ist weitgehend migrantisch. Viele Menschen in den jüdischen Gemeinden kommen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder sind Kinder der in den 1990er Jahren zugewanderten Jüdinnen und Juden. Ein Erfolg des Jahres ist schließlich die Einrichtung einer ständigen gemeinsamen Arbeitsgruppe der Kultusministerkonferenz und des Zentralrats der Juden in Deutschland. Auch auf europäischer Ebene gibt es eine Fortsetzung. Den vollständigen Beitrag lesen Sie hier.
  • Rubriken Islam und Migration: Der Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit, noch unter dem damaligen Innenminister Horst Seehofer eingerichtet, hat seinen Bericht vorgelegt. Dieser Bericht lässt sich durchaus im Licht der Analyse eines Autors bewerten, der als Essayist die „Lage“ zu analysieren versteht, aber auch als Betroffener weiß, was das Framing des Islam in Öffentlichkeit, Medien und Politik anrichtet. Dies tut Ozan Zakariya Keskincılıç in seinem Buch „Muslimaniac“. Über den Islam, über Muslim:innen wird in der Regel immer nur unter dem Gesichtspunkt der Islamismus- und Gewaltprävention diskutiert, die poetischen, künstlerischen und auch aus heutiger Sicht liberal zu wertenden Traditionen, die „Kultur der Ambiguität“ im Sinne von Thomas Bauer, werden ignoriert, in der deutschen Version der Erzählungen von „1001 Nacht“ kommt die intellektuelle Scheherazade nicht vor. Oft werden Menschen mit dem in Medien- und Polizeiberichten erwähnten „südländischem Aussehen“ als Muslim:innen gelesen, obwohl sie es nicht sind, Frauen wird per se Unselbstständigkeit zugeschrieben, sie sind die Unterdrückten, während Männer pauschal als gewalttätig und Unterdrücker gebrandmarkt werden. Der Expertenkreis beschreibt diese Kontexte anhand einer detaillierten Analyse mehrerer gesellschaftlichen Bereichen, darunter Kultur, Medien, Bildung und Religion. Sein etwa 400 Seiten umfassender Bericht enthält Empfehlungen, mit denen sich jetzt Bundestag und Landtage auseinandersetzen sollten. Viele erinnern an die Empfehlungen zum Antisemitismus und zum Antiziganismus. Den Essay rahmen zahlreiche Empfehlungen zum Weiterlesen. Den vollständigen Essay mit dem Titel „Die Frames der Muslimfeindlichkeit“ von Norbert Reichel lesen Sie hier.

Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:

  • In Memoriam Karlrobert Kreiten (1916-1943): Die Veranstaltung wurde gemeinsam von Theatergemeinde Bonn und Demokratischem Salon Anlass ist das Gedenken an den 80. Jahrestag der Hinrichtung des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten durch die Nazis am 7. September 1943 in Plötzensee. Zu seinem Gedenken spielt Knut Hanßen Ludwig van Beethovens Appassionata sowie Revolutions- und Oktavenetüde von Frédéric Chopin, Stücke aus Kreitens letztem wegen seiner Verhaftung nicht mehr gespielten Konzert. Susanne Kessel wird zwei eigens zu diesem Anlass komponierte Klavierstücke von Ursel Quint und David Graham uraufführen. Dazu gibt es Diskussionen mit den Künstler*innen und mit Expert:innen der historisch-politischen Bildung. Die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner wird eröffnen. Oliver Hilmes stellt sein 2023 erschienenes Buch „Schattenzeit“ vor, in dem er die Geschichte Karlrobert Kreitens ausführlich beschreibt. Die Bonner Schauspielerin Ursula Grossenbacher wird aus dem Buch vorlesen. Die Veranstaltung wird von der Landeszentrale für politische Bildung NRW gefördert, die von Carmen Teixeira vertreten wird. Karten zum Preis von 15 EUR (8 EUR für Studierende, Schüler:innen und Inhaber:innen des Bonn-Ausweises) können bei der Theatergemeinde vorbestellt werden: info@tg-bonn.de, Tel. 0228-915030. Nach der Veranstaltung besteht die Möglichkeit zu einem Abendessen mit einem (vegetarischen) Konzertteller zum Preis von 17,50 EUR zuzüglich Getränke. Hierfür ist eine Vorbestellung bis zum 21. August 2023 erforderlich, per Mail an info@leoninum-bonn.de oder telefonisch 0228.6298-0. Am Stand der Buchhandlung Bücher Bartz aus Bonn-Beuel können Bücher von Oliver Hilmes und CD’s von Susanne Kessel erworben werden. Weitere Informationen hier auf der Seite der Theatergemeinde Bonn.
  • Polen 2023, save the Date: Gemeinsam mit dem Universitätsclub Bonn lädt der Demokratische Salon zu einer Veranstaltung ein, die an den oben genannten Essay „Polen 2023“ anschließt. Gegenstand ist die Frage, welche Rolle Polen nach den Wahlen des Oktober 2023 in Europa spielen wird. Die Veranstaltung findet am November 2023, 19 Uhr, in den Räumen des Universitätsclubs statt. Zugesagt hat bereits Markus Meckel, Außenminister und MdB a.D. Angefragt wurde das Deutsche Polen-Institut. Weitere Informationen demnächst hier.

Weitere Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:

  • Hitler-Stalin-Pakt: Am 23. August 1939 unterzeichneten die Sowjetunion und das Deutsche Reich den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt. Die Vereinbarung ebnete den Weg für den deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939. Am 17. September besetzte die Sowjetunion Ostpolen. Zuvor hatten die Vertragspartner in einem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung der Länder Ost- und Ostmitteleuropas in jeweilige Einflusssphären vereinbart. Darüber diskutieren am 21. August 2023, 18 Uhr im Museum Berlin-Karlshorst nach der Begrüßung durch Anna Kaminsky Irina Scherbakowa, Memorial International, Mykola Borovyk, Stiftung Sächsische Gedenkstätten und Claudia Weber, Professorin für Geschichte an der Europa Universität Viadrina. Das Podium wird moderiert von Jörg Morré, Direktor des Museums Berlin-Karlshorst. Was bedeutete dieser Pakt für die Nachbarländer der beiden Diktaturen? Welche Folgen hatte er? Wie wird heute an den Pakt und seine Folgen erinnert und was bedeutet dies für eine europäische Erinnerungskultur? Weitere Informationen finden Sie im Veranstaltungsflyer. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich, der Eintritt ist frei. Die Veranstaltung wird zusätzlich im YouTube-Livestream übertragen.
  • Bonner Altstadtlesereise: Noch bis zum 10. September 2023 findet in Bonn die 17. Bonner Altstadtlesereise mit 30 Veranstaltungen statt. Nur einige Namen der Autor*innen, die vorgestellt und über deren Wirken selbstverständlich diskutiert werden kann: Esther Bejarano, Gregor Berghorn, Herbert Franke (den sein Sohn Thomas Franke vorstellt) Irmgard Keun (die in der Bonner Altstadt lebte), Egon Erwin Kisch, Kurt Schwitters. Es stellen sich auch Verlage vor wie beispielsweise in mehreren Veranstaltungen das Bonner Verlags-Comptoir. Vorgestellt werden Bücher für alle Altersgruppen und Vorlieben, für Kinder, für Menschen, die gerne reisen, für Menschen, die sich für Geschichte und Politik interessieren. Die Veranstaltungen werden von Bonner Schauspieler:innen, Verleger:innen, Wissenschaftler:innen und Buchhändler:innen moderiert, oft auch musikalisch begleitet, so beispielsweise von Joram Bejarano. Die Termine und weitere Informationen finden Sie hier.
  • Die DDR in der Erinnerungskultur: Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eröffnet am 24. August 2023, 17.30 Uhr in der Volkshochschule Weimar ihre Ausstellung „Aufarbeitung – Die DDR in der Erinnerungskultur“. Die Schau wurde um vier Tafeln zur Lokalgeschichte erweitert. Sie ist anschließend bundesweit sowie international als Poster-Set und in weiteren Formaten und Sprachfassungen in über 500 Städten und Gemeinden zu sehen. Alle Tafeln einschließlich der Zusatztafeln werden am 3. Oktober 2024 in Schwerin gezeigt.
  • 1. September 1939: Der 1. September ist in jedem Jahr der Tag, an dem wir des deutschen Überfalls auf Polen 1939 gedenken und an die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen erinnern. Das Deutsche Poleninstitut lädt gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas am Freitag, 1. September 2023, ab 17 Uhr zu einer öffentlichen Gedenkversammlung unter freiem Himmel in der Nähe der ehemaligen Krolloper in Berlin (im Tiergarten an der Großen Querallee) ein. Die offizielle Einladung mit Programm finden Sie auf der Website des DPI. Wer weitere Informationen zum Gedenken an den 1. September 1939 in Polen, in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1989 sucht, lese das Buch „Nie wieder Krieg!“ von Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew, erschienen 2022 in Wiesbaden im Harassowitz Verlag.
  • Im Romanischen Salon: Am 7. September 2023, 18.30 Uhr, beginnt in der Düsseldorfer Zentralbibliothek am KAP 1 eine Lesungsreihe mit jungen jüdischen Autor:innen. Den Anfang macht Marina Frenk mit ihrem Roman „ewig her und gar nicht wahr“. Am 13. September 2023, 19.30 Uhr folgt in Dortmund im Literaturhaus Dmitrij Kapitelman mit „Eine Formalie in Kiew, am 18. September 2023, 18.30 Uhr, in der KoFabrik Bochum Dana von Suffrin mit „Otto“ und am 17. Oktober 2023, 17.30 Uhr, im Rathaus Mülheim an der Ruhr Bella Liebermann mit „Das Kupfermeer“. Alle Veranstaltungen werden von Luisa Banki moderiert. Veranstalter sind SABRA, ADIRA, ZIVA, die Synagogengemeinde Köln und der Kompetenzverbund Antisemitismus. Die Veranstaltungen werden unter anderem vom nordrhein-westfälischen Integrationsministerium und vom Verlag Klaus Wagenbach gefördert. Anmeldung ist nicht erforderlich.
  • Information vs. Desinformation: Das Bonn Institut lädt ein zum b°future Festival für Journalismus und konstruktiven Dialog. Es findet am 15.  und 16. September 2023 in Bonn statt. Thema ist ein zukunftsorientierter Journalismus. Es beteiligt sich auch der CORRECTIV.Faktencheck, der am Samstagnachmittag einen kostenfreien Workshop anbietet, um mehr über Desinformation zum Klimawandel zu erfahren und Tipps zu erfahren, wie Falschbehauptungen entlarvt werden können. Mehr Infos zum Festival und einen detaillierten Zeitplan finden Sie hier. Am Tag zuvor findet eine Fachtagung für Menschen statt, die sich beruflich mit Fact-Checking, Desinformation, KI oder Medienkompetenz beschäftigen. Details zur Anmeldung finden Sie auf der Webseite des German-Austrian Digital Media Observatory (Gadmo), auf der Sie sich auch über Entwicklungen und Veranstaltungen informieren können.
  • Protest und Aufstand: Am 6. Juni 2023 startete die sechsteilige Vortrags- und DiskussionsreiheMut/Wut! Protest, Aufstand und politischer Aktivismus in Diktatur und Demokratie. Sie ist ein gemeinsames Projekt der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Bundesstiftung Aufarbeitung. Anlass ist der 70. Jahrestag des Volksaufstands vom 17. Juni 1953. Einbezogen werden jedoch auch Aufstände und Protestformen in anderen Ländern, beispielsweise im Iran. In der ersten Veranstaltung ging es um Symbole des Protestes (beispielsweise Kerzen, Regenschirme, abgeschnittene Haare). Die weiteren Termine: Juli 2023 („Stadt, Land, Netz“), 5. September 2023 (Zwischen Recht und Repression“), 10. Oktober 2023 (Demokratischer (Un-)Wille? Der Umgang mit antidemokratischem Protest“, 7. November 2023 („Vergessene Aufstände und marginalisierter Protest“ und 5. Dezember 2023 („Protest und Emotion“). Alle Veranstaltungen finden in den Räumen der Bundesstiftung oder – am 7. November 2023 – in der Berliner Landeszentrale statt. Alle sind auf dem Youtube-Kanal der Stiftung verfügbar.
  • Tarbut – Jüdische Kultur: Die Jüdische Gemeinde Wiesbaden eröffnet am 6. September 2023, 19 Uhr, im Wiesbadener Rathaus gemeinsam mit dem Kulturamt der Stadt die Ausstellung „Jekkes in Israel“. Die Ausstellung ist der Auftakt der Veranstaltungsreihe „Tarbut – Zeit für jüdische Kultur“. Zweiundzwanzig Portraits von deutschen Einwanderern in Israel werden von Moshe Beker und Oranit Zimra vorgestellt. Sie alle waren Kinder und Jugendliche, als sie gezwungen waren, Deutschland angesichts des nationalsozialistischen Terrors zu verlassen. Der 75. Jahrestag des Staates Israel ist der Anlass, sich mit den Leistungen der „Jekkes“ und diesem Teil der Geschichte zu befassen, die Deutschland und Israel verbindet. Die Eröffnung wird musikalisch von Anne-Sophie Bertrand (Harfe) und Marat Dickermann (Violine“) gerahmt. Weitere Informationen zur Veranstaltungsreihe finden Sie hier.
  • Charlotte Salomon: Das Münchner Lenbachhaus zeigt bis zum 10. September 2023 das Lebenswerk der 1942 in Auschwitz im Alter von 26 Jahren ermordeten Künstlerin. Die 769 Blätter, die sie zu dem „Singespiel“ „Leben? oder Theater?“ in drei Akten zusammenfasste, entstanden nach ihrer Flucht aus Berlin in Südfrankreich. Die Ankündigung des Lenbachhauses beschreibt Struktur, Inhalt und Bedeutung ihres Werks: „Die Illustrationen und Texte fügen sich wie Szenenbilder einer Theaterinszenierung oder eines Drehbuchs zusammen und nehmen gleichzeitig den hybriden Charakter aus Text- und Bildebene von Graphic Novels vorweg. Die Figuren des Werks beruhen auf Salomons persönlichem Umfeld, sind von ihr jedoch subjektiv herausgearbeitet und somit zu fiktiven Charakteren abstrahiert.“ Der von Judith Belafonte und Evelyn Benesch gestaltete Katalog „Charlotte Salomon? Leben? Oder Theater?“ ist im Kölner Taschen-Verlag erschienen.
  • BNE-Festival 2023: Das diesjährige Festival findet unter dem Motto „Lernen – Handeln – Wandeln“ am 14.  und 15. September 2023 in der Volkshochschule Essen statt. Veranstalter sind das nordrhein-westfälische Umweltministerium und die Stiftung Umwelt und Entwicklung (SUE) in Bonn. Angeboten werden Informationen, Workshops, Materialien und vieles mehr aus der „BNE-Familie“ in NRW, die sich auch über weitere Mitglieder freut. Weitere Informationen finden Sie hier.
  • Einwanderung in Deutschland: In der Bonner Bundeskunsthalle ist bis zum 8. Oktober 2023 die Ausstellung „Wer wir sind – Fragen an ein Einwanderungsland“ zu sehen. In der Ankündigung werden die Ziele der Veranstaltung beschrieben: „Migration ist kein Sonderfall – sie ist der Normalzustand, zu jeder Zeit und überall auf der Welt. Die Menschen, die nach Deutschland kamen, kämpften seit jeher darum, Teil der Gesellschaft und ihrer Geschichte zu sein. Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung sind bis heute Alltag für Menschen, denen die Zugehörigkeit zum ‚Wir‘ abgesprochen wird, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte. Ihre Wege sind gekennzeichnet von Widerständen, aber auch von Erfolgen.“ Die Ausstellung zeigt Werke von 50 Künstler:innen. Kurator:innen sind Johanna Adam, Lynhan Balatbat-Helbock und Dan Thy Nguyen. Beteiligt haben sich unter anderen das Team von DOMiD und Manuel Gogos.
  • Ringelblum-Archiv: Im NS-Dokumentationszentrum München wurde am 28. Juni 2023 die Ausstellung „Wichtiger als unser Leben“ eröffnet, in der bis 7. Januar 2024 das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, das nach dem Dokumentar benannte „Ringelblum-Archiv“ zu sehen sein wird. Emanuel Ringelblum war einer der etwa 60 jüdischen Akademiker:innen, Schriftsteller*innen und Aktivist*innen, die unter dem Namen Oneg Shabbat dafür sorgen wollten, dass ihr Leben und Sterben im Warschauer Ghetto der Nachwelt überliefert wurde. Das Archiv ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und wird im Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau aufbewahrt. Fotos, Schriftstücke geben Zeugnis vom polnischen Judentum sowie von anderen Gruppen, die wie Sinti:zze und Rom:nja von den Nazis im Warschauer Ghetto eingepfercht wurden. Begleitend bietet das NS-Dokumentationszentrum eine Vielzahl von Veranstaltungen.
  • Displaced Persons: Das Münchner Stadtmuseum bietet bis zum 7. Januar 2024 die Ausstellung „München Displaced – Heimatlos nach 1945“. Es geht um das vergessene Schicksal und die Erzählungen von etwa 100.000 Displaced Persons (DPs) in der Nachkriegszeit in München. Das Jüdische Museum München bietet bis zum 17. März 2024 die parallele Ausstellung „München Displaced – Der Rest der Geretteten“.

Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:

  • Ausgabe Karuna Kompass: In der Berliner U-Bahn treffen Sie gelegentlich Verkäufer:innen der Zeitschrift Karuna Kompass, eine Zeitschrift „aus der solidarischen Zukunft“. Sie können eine Ausgabe zum Preis von 2 EUR erwerben. Das Geld geht zu 100 Prozent an die Verkäufer:innen. Jetzt ist die 50. Ausgabe dieser 2019 als Nachfolge des „Straßenfegers“ gegründeten anspruchsvollen Kulturzeitschrift erschienen, die sich nicht scheut, politisch heikle Themen differenziert anzusprechen. Die 50. Ausgabe der Zeitschrift widmet sich dem Thema Solidarität, es geht um die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält. Die Zeitschrift enthält Essays und Interviews, Forschungsberichte und Portraits von Projekten. Der Demokratische Salon gratuliert zur 50. Ausgabe und empfiehlt allen seinen Leser:innen, die Zeitschrift zu kaufen und zu lesen. Auch Abonnements und Spenden sind möglich.
  • Politische Gefangene in Russland: Unter dem Titel „Russlands letzte Helden“ veröffentlichte die ZEIT am 27. Juli 2023 in ihrem Dossier die „Letzten Worte“ von 14 Angeklagten. Autor:innen sind Alice Bota, Caterina Lobenstein und Michael Thumann. Grundlage waren Mitschnitte der Reden und unabhängige russischsprachige Exilmedien sowie Dokumentationen von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten. Zwei Bücher werden in diesem Zusammenhang ebenfalls als Quelle empfohlen: Yury Borovskih, Vorsitzender hinter Gitter e.V. (das Buch erscheint demnächst auf Russisch), und Sergej Bondarenko und Giulia De Florio, „Proteggi le mie parole“ (bisher nur in italienischer Sprache verfügbar). Die 14 Angeklagten, die zum Teil schon zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden beziehungsweise auf ihr Urteil warten, sind: Alexej Gorinow, Alla Gutnikowa, Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Mursa, Michail Kriger, Alexej Nawalny, Andrej Piowowarow, Maria Ponomarenko, Michail Simonow, Iwan Safronow, Sarifa Sautijewa, Alexandra Skotschilenko, Lilya Tschanyschewa, Nikita Uwarow. Alla Gutnikowa gelang die Flucht, sie lebt jetzt in Berlin. Bei einigen Prozessen war die ZEIT im Gerichtssaal.
  • Klimageschichte: In einem Gespräch mit Jörg Häntzschel spricht der Historiker Peter Frankopan von der Universität Oxford über die Frage, warum Menschen denken, dass sie mit den natürlichen Ressourcen tun könnten, was sie wollen. Titel des Gesprächs: „Wir sind die Architekten unseres eigenen Unglücks“. Peter Frankopan nennt die Bezüge zwischen der Entwicklung des Klimas, auch in vergangenen Zeiten, und politischen Entwicklungen. Es ließe sich beispielsweise aus der Abholzung der Wälder für die Beheizung der römischen Thermen lernen. Klimageschichte ist jedoch keine neue Disziplin der Geschichtswissenschaften. Sie lässt sich bis in die griechische Antike oder bis ins Mittelalter oder die Frühgeschichte der USA verfolgen. Immer wieder gab es auch warnende Stimmen aus der Politik. Der Mensch war für viele Naturkatastrophen verantwortlich. Peter Frankopan sieht eine wesentliche Verantwortung in den verschiedenen Imperien der Vergangenheit und Gegenwart, die immer dazu neigten, ihre Ressourcenbedürfnisse in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen. Wer mehr lesen möchte, kann dies tun: Peter Frankopan, Zwischen Himmel und Erde – Eine Menschheitsgeschichte, Berlin, Rowohlt, 2023.
  • Wie liberal ist die EU? Es ist nicht ausgemacht, dass die Europäische Union liberal bleibt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Rechten im 2024 neu zu wählenden Europäischen Parlament an Stärke gewinnen. Über Gründe und Perspektiven schrieb Mark Schieritz am 20. Juli 2023 in ZEIT Online: „Europa wird mit anderen Worten nicht länger kosmopolitisch, sondern nationalistisch gedacht.“ Ein zweiter Brexit ist unwahrscheinlich, wohl aber eine Veränderung der Grundlagen in der EU. Wer sagt, dass die Kommission in Zukunft noch Sanktionen gegenüber Staaten beschließen kann, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen? Es ist schon jetzt schwierig, sie durchzusetzen. Ein Kernpunkt ist – so Mark Schieritz – die europäische Migrationspolitik.
  • Brandmauern in Münster: Ein in den sozialen Medien ausgesprochen aktiver Politiker ist auch in seinem Ruhestand der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz. Holger Gertz hat am 28. Juli 2023 sein Engagement in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Passt bloß auf“ gewürdigt. Münster ist die Stadt mit dem schlechtesten AfD-Ergebnis auf Bundesebene (2,3 Prozent). Ruprecht Polenz „folgt einem selbstformulierten Auftrag: ‚Jeden Tag öffentlich machen, was in den Aussagen der AfD an Menschenverachtung zum Ausdruck kommt.‘“ Widerspruch bleibt nicht aus, nicht zuletzt von Menschen, die ihm den Tod in Auschwitz wünschen. Ein CDU-Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt meinte darauf hinweisen zu müssen, dass in Münster 32,5 Prozent die „linksgrünenÖkofaschisten‘“ gewählt hätten. Er korrigierte sich zwar in „Ökofetischisten“, aber diese Wortwahl belegt nach wie vor, dass es in der CDU noch einiges zu klären gibt, wie konkurrierende demokratische Parteien zu bewerten sind und wer welche (anti-)demokratische Position vertritt. Als großes Problem sehen Polenz und Gertz auch die Entpolitisierung historischer Sendungen und die Verlagerung politischer Debatten in Talkshows.
  • Antisemitische Morde- unaufgeklärt: Am 19. Dezember 1980 ermordete ein Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann in ihrem Erlanger Eigenheim Rabbiner Shlomo Lewin und seine Partnerin Frida Poeschke. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Kürzlich ist ein Dokument aufgetaucht, das Hinweise enthält, dass ein V-Mann des Verfassungsschutzes vor der Tat Bescheid wusste. Sie wurde wohl systematisch geplant und vorbereitet, von einem Einzeltäter kann nicht mehr die Rede sein. Die Details ihrer umfangreichen Recherche haben die Bundestagsabgeordnete der Linken Martina Renner und Sebastian Wehrhahn am 3. August 2023 in der ZEIT veröffentlicht, Titel: „Mit Blindheit geschlagen“.
  • Geschichte der Verbote: Warum haben Verbote ein so schlechtes Image und warum gibt es immer wieder Streit? Andreas Öhler hat für Christ & Welt, übernommen in ZEIT Online, Philipp Lepenies, Professor mit den Spezialgebieten Verbote und Verzicht interviewt, Titel: „Wie Verbieten ein Tabu wurde“. Die Tabuisierung begann – so Philipp Lepenies – im Jahr 2011 mit dem Bericht des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltfragen (WBGU) „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation“. Die Kritik an diesem Bericht führt Philipp Lepenies auf das Mantra des Neoliberalismus zurück, in dem das hemmungslose Konsumieren der stärkste Ausdruck individueller Freiheit ist und systemstabilisierend wirkt.“ Inzwischen diagnostiziert er „Staatsphobie“, die durch die Corona-Pandemie und das sogenannte Heizungsgesetz auf die Spitze getrieben wurde. In Ostdeutschland spielen Diktatur- und Transformationserfahrung sicherlich eine Rolle. Letztlich geht es jedoch um „Verhaltensregulierung“, Probleme ließen sich nicht erst lösen, wenn sie aufträten, dann sei es oft zu spät. Sein Plädoyer: „Verbote sind, nüchtern betrachtet, ein politisches Instrument, um in einer Gesellschaft Sicherheit, Gesundheit und Krisenfestigkeit zu gewährleisten. Ob sie durchsetzbar sind, hängt in Demokratien von gesellschaftlichen Mehrheiten ab. Dass die sich dahin gehend verändern können, Verbote weniger zu dämonisieren: Das ist möglich und weder infantil noch illiberal.“
  • Umweltbewusstsein: In Umfragen zur Demokratie zeigt sich immer wieder, dass eine große Mehrheit sich für die Demokratie ausspricht. Der Haken daran: nicht alle verstehen das Gleiche unter „Demokratie“. Ähnlich ist es mit dem Umweltbewusstsein. Eine Umfrage des Umweltbundesamtes ergab, dass sich 90 Prozent der Befragten ein „nachhaltiges Wirtschaften“ wünschen. Gleichzeitig jedoch gibt es die bekannte „Angst vor gesellschaftlichen Verwerfungen und sozialem Abstieg“. Nicolas Richter hat Details der Umfrage in der Süddeutschen Zeitung beschrieben. Als größtes Problem sehen die Befragten den Plastikmüll in den Meeren. 85 Prozent nehmen Veränderungen durch den Klimawandel wahr. Die Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Handeln ist jedoch – wie auch vorangegangene Ergebnisse umweltpsychologischer und -soziologischer Forschung zeigen – nach wie vor groß. Weitere Informationen zur Studie sowie zu Vorläuferstudien finden Sie auf der Seite des Umweltbundesamtes.
  • Armut: Sie ist Gegenstand verschiedener an unterschiedlicher Stelle veröffentlichter Texte, beispielsweise in der ZEIT von Jutta Allmendinger, die eine „Kinder-, Familien- und Elternpolitik aus einem Guss“ „Sie sollte fünf Leitgedanken folgen, die ersten drei davon sind sogar grundgesetzlich geboten: (1) dem besonderen Schutz von Ehe und Familie, (2) dem Recht auf Teilhabe, (3) der Gleichstellung von Mann und Frau, (4) der Vermeidung sozialer Ungleichheit, (5) der Förderung von Sorgearbeit, mit finanziell abgesicherter Bereitstellung von Zeit für die Erziehung von Kindern, die Pflege von Älteren und das Ehrenamt.“ Dazu gehört auch, dass wir uns von dem Dogma verabschieden müssen, nur „Vollzeitarbeit“ wäre als vollwertig anzusehen. Es muss auch andere Wege geben, die natürlich dafür sorgen müssen, dass Teilzeitarbeit nicht zu Altersarmut führt. Vier-Tage-Wochen bei vollem Lohnausgleich könnten Arbeitsplätze jedoch auch attraktiver machen. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge benennt in einem Interview mit Jan-Henrik Hnida auf der Plattform web.de die aktuellen Planungen zur Kindergrundsicherung als reine Verwaltungsreform, die das Problem nicht löse. Er verweist auf das Buch „Kinder der Ungleichheit“, das er und Carolin Butterwegge 2021 im Campus-Verlag veröffentlicht hatten. Er verweist auf den Niedriglohnsektor sowie auf Bedarfe, die von den Hilfsleistungen nicht abgedeckt werden. „Armut ist aber mehr, als wenig Geld zu haben. Für sehr problematisch halte ich den Umgang mit Armut. Sie wird oft als selbstverschuldet dargestellt. Wer sich nicht anstrengt, der wird eben mit Armut bestraft, heißt es. In unserer vom Neoliberalismus geprägten Leistungsgesellschaft nimmt man einfach hin, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Wer sich anstrengt, wird mit Wohlstand belohnt – wer faul ist, mit Armut bestraft. Das ist ein Ammenmärchen.“ Er ist davon überzeugt, dass eine bessere Sozialpolitik den Höhenflug der AfD in Umfragen und Wahlen beende. Für die Kindergrundsicherung wären nach seinen Berechnungen etwa 20 Mrd. EUR erforderlich. Eine eindrucksvolle Reportage, was Armut für die betroffenen Menschen bedeutet, veröffentlichte Anna Mayr am 10. August 2023 in der ZEIT unter dem Titel „Kein Geld, keine Kraft“.
  • Zu viel schlechte Laune? Die neue More-in-Common-Studie kommt zum Ergebnis, dass vor allem der große und wachsende Unterschied zwischen Arm und Reich die Mehrheit der Befragten belastet und ihnen nahelegt, die Demokratie schlecht(er) zu bewerten. Sie sehen Spaltungen in der Gesellschaft, die durch die Inflation vergrößert werden. Joshua Sans hat am 6. August im Tagesspiegel die Ergebnisse zusammengefasst und dabei auch einen eklatanten Widerspruch festgestellt: „Ein möglicher Grund für die wahrgenommene Spaltung liegt darin, wie die Befragten über sich selbst und andere in der Gesellschaft nachdenken. 62 Prozent geben an, sich regelmäßig Gedanken über den Zusammenhalt im Land zu machen. Allerdings stimmen auch 70 Prozent der Aussage zu, dass sich die meisten Menschen in Deutschland keine Gedanken über den gesellschaftlichen Zusammenhalt machen würden.“ Die AfD schöpft „aus negativen gesellschaftlichen Energien“. Die Politik betont das Trennende, nicht das Verbindende, es fehlt eine Initiative, gemeinsam anzupacken. Fazit der Studie: „Exzessives politisches Taktieren habe merklich das Ansehen von Politik beschädigt. Auch fehle es, so die Forschenden, an einem Angebot von Zukunftsbildern. Nur vier Prozent der Befragten geben an, zu glauben, dass sich die gesellschaftliche Lage in Deutschland in den nächsten vier Jahren verbessern wird.“
  • Degrowth-Bewegung: Der japanische Philosoph Kohei Saito plädiert für einen Degrowth-Kommunismus, im Grunde jedoch eine marxistisch ergänzte Version der Thesen des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“. In Japan ist sein Buch „Systemsturz“ ausgesprochen populär (eine deutsche Ausgabe erschien bei dtv). Peter Neumann hat für die ZEIT mit ihm gesprochen. Der Philosoph grenzt sich von totalitären Kommunismen ab, ihm geht es um die Verteilung der „Commons“, dessen, was zum Nutzen aller gegeben sein müsste, aber aufgrund der kapitalistischen Lebensweise nur denen zugutekommt, die sie sich leisten können. „Wir können das Pariser Klimaabkommen nicht einhalten, wenn wir weiterhin versuchen, das BIP jährlich um drei Prozent zu steigern. Denn der Hunger nach Ressourcen wie Lithium, Kobalt und Kupfer und anderen seltenen Metallen aus Lateinamerika oder aus Afrika, die wir für die Entwicklung der Solarenergie brauchen, wird dadurch ja nur noch größer. Wenn wir also eine demokratischere, gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft wollen, müssen wir die Idee, dass Wachstum die Grundlage des Fortschritts und Übergangs zu einer nachhaltigeren Wirtschaft ist, grundsätzlich infrage stellen. Das ist es, was uns Marxismus und Degrowth gemeinsam lehren können.“
  • Polarisierung: Eine von der Stiftung Mercator initiierte und finanzierte Studie befasst sich mit der Polarisierung und Spaltungstendenzen in zehn europäischen Ländern. Die Studie verfassten Maik Herold, Janine Joachim, Cyrill Otteni und Hans Vorländer. Thema waren affektive Polarisierungseffekte. Die Themen Migration und Klima polarisieren am meisten, in Deutschland kommt die COVID-19-Pandemie hinzu. Die stärkste Polarisierung ist in Italien und in Griechenland festzustellen, die niedrigste in den Niederlanden und in Tschechien, am stärksten – und dies mag manche überraschen – in Großstädten, bei Personen mit höherem Bildungsniveau und bei älteren Menschen. Sie steigt, je weiter rechts sich die jeweiligen Menschen im politischen Spektrum verorten. Beim Krieg um die Ukraine sind die beiden Lager etwa gleich groß. In Deutschland sind die Wählerschaften von Grünen und AfD am stärksten polarisiert, auch im Hinblick auf die Toleranz abweichender Positionen. In Deutschland plädiert die Mehrheit der Befragten für eine restriktivere Migrationspolitik, verstärkte Maßnahmen zum Klimaschutz, geringere Steuern, das Meinungsbild zur Ukraine ist gespalten.
  • Kontraproduktive Nazifizierung: Mehrere Zeitungen berichteten am 27. Juli 2023, dass Karin Prien, CDU, eine Aussage von Jan Böhmermann kritisiert habe. Sie hatte getweetet: „Keine Sorge, die Nazis mit Substanz arbeiten nach aktuellem Stand nur auf kommunaler Ebene mit Nazis zusammen.“ Karin Prien wandte sich gegen die „schleichende ‚Nazifizierung‘ von allem, was politisch nicht passt.“ Natürlich bekam sie auch Beifall von der falschen Seite. Das ist wohl leider nicht vermeidbar. Wer jedoch agiert wie Jan Böhmermann oder auch wie diejenigen, die Boris Palmer kürzlich anlässlich seiner durchaus unangemessenen Entgleisungen mit Nazis-raus-Rufen bedachten, sorgt möglicherweise dafür, dass wir die echten Nazis, Rechtsextremisten oder wie auch immer sie sich nennen lassen könnten, gar nicht mehr erkennen. Anders gesagt: Faschist:innen bekämpft man nicht, in dem man sie und auch noch alle anderen, die eine andere Meinung vertreten als man selbst, als Faschisten beschimpft. Man muss sie inhaltlich stellen! Denn inhaltlich haben sie nichts zu bieten außer dumpfem Gebrummel. Und Karin Prien und Boris Palmer sind hier Bündnispartner:innen aller Antifaschist:innen auch wenn es einige noch nicht gemerkt haben.
  • Diverse Polizei in Berlin: Eine bürgernahe Polizei repräsentiert möglichst die Gesamtbevölkerung. Insofern scheint die Berliner Behörde auf gutem Weg: Rund ein Drittel des in den vergangenen Jahren zu Ausbildung oder Studium aufgenommenen Nachwuchses hat (nach eigener, freiwilliger Angabe) einen Migrationshintergrund, Tendenz leicht steigend. Beim Mittleren Dienst liegt der Anteil etwas darüber, beim Gehobenen leicht darunter. Weniger repräsentativ sieht’s trotz deutlicher Verbesserungen beim Anteil der Frauen aus, wie die Senatsantwort auf eine Anfrage von Gollaleh Ahmadi (Grüne) erweist: Beim Mittleren Dienst der Schutzpolizei lag er zuletzt unter 30 Prozent, beim Gehobenen bei 38 Prozent, beim Höheren schwankt die Zahl von Jahr zu Jahr stark. Bei der Kripo sind die Verhältnisse ausgeglichener, das heißt. dort klären Frauen gleichberechtigt auf, was in 74 Prozent der Fälle Männer angerichtet haben. (Quelle: Tagesspiegel Checkpoint vom 27. Juli 2023)
  • Kulturpolitik: In seinem 32. Wochenreport vom 11. August 2023 hat der Deutsche Kulturrat zehn noch nicht eingelöste kulturpolitische Vorhaben der Bundesregierung benannt. Dazu gehören unter anderem die Verankerung der Kultur als Staatsziel im Grundgesetz, eine bessere Honorierung und Absicherung freischaffender Kulturschafffender, die Stärkung von Bibliotheken, die Aktualisierung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die Verbesserung der Provenienzforschung und der Restitution von NS-Raubkunst, die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte sowie die Weiterentwicklung der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Campus für Demokratie zu unterstützen. Zum letztgenannten Ziel darf ich auf die vom Demokratischen Salon unterstützte Initiative von Markus Meckel und Peter Steinbach verweisen, die eine Unterschriftenliste initiiert haben, die unter anderem danach fragt, ob die Stasi-Zentrale der richtige Ort für das geplante Forum Opposition und Widerstand in SBZ und DDR 1945 – 1989 ist, das offenbar mit dem „Campus für Demokratie“ verknüpft werden soll.

Ich schließe mit einem ganz besonderen Dank: ein Jahr lang hat Beate Blatz den Demokratischen Salon begleitet und mitgestaltet. Ich danke ihr für die vielen Anregungen und spannenden Texte, zum Brexit, beim Aufbau der Rubrik „Afrikanische Welten“ und ihre Beiträge zur vor einem Monat neu eingerichteten Rubrik „Gender“. Ich freue mich, dass sie mich auch weiterhin beraten wird und wünsche ihr für ihre zukünftigen Unternehmungen alles Gute. Wir bleiben in Kontakt.

Den nächsten Newsletter des Demokratischen Salons erhalten sie – urlaubsbedingt etwas später als gewohnt – in etwa sechs Wochen, gegen Ende September 2023. Mit den besten Grüßen verbleibe ich

Ihr Norbert Reichel

(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 3. und 13. August 2023.)

P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitten wir um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.