Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,
in unserer Ausgabe vom Juli 2023 finden Sie neun neue Texte:
- ein Manifest von Markus Meckel und Peter Steinbach für ein Forum Opposition und Widerstand in SBZ und DDR,
- die dritte Folge des Tagebuchs von Mariupol von Nataliia Sysova,
- eine von mena-watch übernommene Analyse des Wahlergebnisses in der Türkei von Murat Yörük,
- den von Sandra del Pilar ins Deutsche übersetzten Codex Malintzin, dessen Hintergründe wir in der Juni-Ausgabe ausführlich vorgestellt haben,
- ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Friederike Lorenz-Sinai über ihre Forschungen zur Gewalt in Jugendwohngruppen und zum Antisemitismus,
- ein Gespräch mit Anastassia Pletoukhina, der Vorsitzenden des Trägervereins des Ernst Ludwig Ehrlich Studieninstituts, u.a. über ihr Buch „Doing Judaism“,
- ein Gespräch mit Thomas von der Osten über die Zusammenhänge von Klimaschutz und Migration sowie die Möglichkeiten der EU, demokratische Entwicklungen im Irak und in benachbarten Staaten zu befördern,
- eine von Natalie Deissler-Hesse verfasste Zusammenfassung unserer digitalen Veranstaltung „Den unsichtbaren Armutsrucksack leichter machen“,
- einen Essay von Norbert Reichel über Kipppunkte (Tipping Points) in der Politik.
Das Editorial befasst sich mit der Frage, worum es bei den aktuellen Umfrageergebnissen der AfD wirklich geht. Die Entscheidung für eine anti-demokratische Partei ist keine Metapher für Protest.
Wie üblich finden Sie unsere Vorschläge für den Besuch von Ausstellungen und Veranstaltungen sowie unsere Empfehlungen für Lektüren, Podcasts oder Filme.
Es gibt vier neue Rubriken: „Jüdischsein“, „Gender“, „Europa“ und „Science Fiction“. Schauen Sie hinein, Sie werden manches Bekannte und manches Neue finden. Die Rubrik „Pandemie“ wurde aufgelöst, die Texte sind selbstverständlich noch unter dem Tag „Pandemie“ erreichbar.
Die diesen Newsletter begleitenden Fotografien gestaltete Hans Peter Schaefer. Sie gehören zu seiner Serie „Komorebi – das Licht, das durch die Bäume fällt“, zu sehen in einer Ausstellung, die am 3. Juli 2023 in Tann (Rhön) eröffnet wurde und noch bis zum 3. September zu sehen ist.
Das Editorial:
Zurzeit diskutieren wir über verschiedene Gesetzentwürfe, die sich konkret auf das Leben jedes einzelnen Menschen auswirken, kurzfristig, indem sie manche mit zusätzlichen Kosten belasten oder Bewegungsspielräume einengen, langfristig, indem sie – je nach Intensität ihrer Umsetzung – die Klimakrise und damit auch die damit zusammenhängende Migrationskrise weiter ent- oder verschärfen. Thomas von der Osten-Sacken hat den Zusammenhang zwischen Klima- und Migrationskrise in dem in dieser Ausgabe des Demokratischen Salons dokumentierten Gespräch u.a. am Beispiel des Iraks drastisch beschrieben. Solch global orientierte Debatten finden wir im politischen deutschen Alltag leider nur selten, sie werden geradezu entkontextualisiert. Es wird teuer – so tönt es allerorten – und eine Partei profitiert in den Umfragen, nicht weil sie die Probleme benennt, sondern weil sie es schafft, alle gerade akuten Probleme zu instrumentalisieren, um sich als „Alternative“ zu profilieren. Die demokratischen Parteien der Regierung und der Opposition machen ihr es dabei aber auch viel zu leicht und so erscheint manchen diese Partei auch noch als die einzige „Alternative“.
Die Debatten um einen wirksamen Klimaschutz sind zu Kulturkämpfen mutiert. Das gilt für das Gebäudeenergiegesetz (GEG), vulgo Heizungsgesetz, das gilt für die Verkehrswende, das gilt für weniger Fleisch in der Ernährung und anderes mehr. All diese Debatten unterscheiden sich im Grunde nicht von früheren Debatten. Erinnert sich noch jemand an die Einführung von Tempo 50 in geschlossenen Ortschaften in den 1950er Jahren, die Einführung von Fußgängerzonen und Busspuren in den 1980er Jahren, an das Verbot von Glühbirnen vor etwa 10 Jahren und den Streit um Rauchverbote in Kneipen und Restaurants? Mahnend wird immer wieder der Vorschlag zur freiwilligen Einführung eines Veggie-Days in Kantinen zitiert, der die damaligen Wahlaussichten der Grünen beeinträchtigte und zu absurden Gegenvorschlägen führte wie zu einer Schweinefleischpflicht in Kantinen. Heute noch genießen sich als „Konservative“ verstehende Politiker (immer Männer!), dass sie sich bei einem Volksfest mit Bratwurst am Grill präsentieren können.
Ein Politikbereich, der neben dem – das muss man leider sagen – schlecht vorbereiteten GEG zu einer Art Religionskrieg ausgewachsen ist, ist der Verkehrssektor. Die Bundesregierung hat beschlossen, dass der Verkehrssektor seine Klimaziele nicht erreichen muss, wenn andere Sektoren dies für ihn übernehmen. Das ist die eine Seite, die andere Seite sind verkorkste kommunale Projekte. Wie eine solche verkorkste Verkehrswende ausschauen kann, lässt sich in Berlin besichtigen. Mal wurde die Friedrichstraße für Autos gesperrt, mal geöffnet, wieder gesperrt, jetzt wieder geöffnet. Es geht um etwa 600 bis 700 Meter, die die ehemalige grüne Verkehrssenatorin zu einer italienischen Piazza umgestalten wollte. Sie scheiterte. Auf der Straße flanierte kaum jemand, zu schnell waren die Fahrräder, zu wenig verlockend das Ambiente. Ohnehin war die Friedrichstraße nie eine Straße, in der Berliner*innen flanierten, dort halten sich vorwiegend Tourist*innen auf, die bei Lafayette einen Hauch Paris oder am Checkpoint Charlie den Grusel des 13. August 1961 erleben wollen. Das war auch schon vor 100 Jahren so. Da gab es zwar kein Lafayette und keinen Checkpoint Charlie, aber Tingeltangel und Kabarett, eine bunte Vielfalt von Einkehrmöglichkeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit, während wir heute nur noch normierte Kaffeehausketten vorfinden, die sich kaum voneinander unterscheiden. Unterhalten muss man sich dort heute schon selbst, während man vor 100 Jahren bestens unterhalten wurde. Vielleicht haben die Verfechter*innen der autofreien Friedrichstraße von den ach so Goldenen 1920er Jahren geträumt?
Eher wohl von ihrem Bild italienischer Plätze, auf denen sie in ihrem Toskana-Urlaub Rotwein tranken? In der Süddeutschen Zeitung schrieb Peter Richter treffend: „Eine Straße ist kein Platz“. Das gilt gerade für Plätze, an denen sich mehrere Straßen treffen, die vielleicht besser als Straßenzusammenstöße bezeichnet werden sollten (ich wohne an einem solchen). Die Berliner Friedrichstraße war zwar kein Straßenzusammenstoß, aber so etwas wie eine Nord-Süd-Verkehrsachse für Durchgangsverkehr. Und wer diesen Durchgang blockiert, lernt: Autos finden ihren Weg. Als die Friedrichstraße für Autos gesperrt war, sorgten sie zum Leid der Geschäftsinhaber*innen der Parallelstraßen dort für schlechte Luft und Staus.
Während der rot-grün-rote Senat versuchte, mehr Sicherheit für Fahrräder zu schaffen, hat der schwarz-rote Senat erst einmal alle Fahrradweg-Projekte gestoppt, Autospuren oder Parkplätze dürften nicht gefährdet werden. Entweder Fahrräder oder Autos, es kann nur eines geben. Wer zu Fuß geht, ist ohnehin außen vor. Der Tagesspiegel sprach in der ihm eigenen Ironie von „Straßenkampf“. Wie man es in den Wald hineinruft so schallt es heraus: die aktuelle Verkehrspolitik des schwarz-roten Senats ist nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegelbild der gescheiterten Verkehrswende des rot-grün-roten Vorgängers. Eine Reportage von Claudia Seyring gibt ein eindrucksvolles Stimmungsbild.
Aber geht es wirklich um den Verkehr, die Heizung, oder ging es damals wirklich um Glühbirnen, Rauchverbote und Busspuren? Wer dies glaubt, geht der Argumentation der Fundamentalopposition, die sich „Alternative“ nennt, auf den Leim. Der angebliche Kampf gegen Heizungsgesetz und Verkehrswende oder für die Bratwurst – all dies ist lediglich Metapher. Aber die Zeiten haben sich verändert: als Glühbirnen und das Rauchen in Gastronomiebetrieben verboten wurden, gab es noch keine AfD.
Der AfD geht es um einen fundamentalen Systemwechsel. Wer dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden der AfD in Thüringen zuhört, erfährt, dass man „Volksteile verlieren“ werde, die die irgendwann einmal Regierungslinie werdende Parteilinie nicht teilen, und dass es bei der geforderten „Remigration“ „unschöne Szenen“ geben werde. Deutlicher kann man Deportationen, die Verhaftung von Oppositionellen, möglicherweise sogar Mord nicht ankündigen. Weitere Zitate dieser Art finden sich in einer Zusammenstellung im „Volksverpetzer“. Wilhelm Heitmeyer spricht von „autoritärem Nationalradikalismus“, Ruth Ben-Ghiat spricht es deutlich aus, sie schreibt in ihrer Begriffsdefinition des „Faschismus“ in David Ranans Sammelband „Sprachgewalt“ (Bonn, Dietz Verlag, 2022): „Je mehr der Autoritarismus in allen möglichen Ländern Fuß fasst und viele sich fragen, ob der Faschismus in anderer Form zurückkehrt, sollte man sich daran erinnern, was Faschismus bedeutet: Massenmord.“
Opferdiskurse eignen sich bestens zur Tarnung einer extremistischen Agenda. Das war in den Anfangszeiten der AfD die Figur der „besorgten Bürger“, deren „Sorgen“ man ernst nehmen müsse. Heute lesen wir – beispielsweise bei Dirk Oschmann, den Cornelius Pollmann für die Süddeutsche Zeitung interviewte: „Es ist ja wohl nicht anzunehmen, dass alle, die AfD wählen, stramm rechts sind und auch NPD wählen würden. Da gibt es Anteile von Frustration und Protest, und da wäre es Aufgabe der politischen Arbeit, die zurückzuholen.“ Das klingt recht sozialpädagogisch. Wer aber eine solche Wahlentscheidung nicht ernst nimmt und selbst über 20- bis 30-Prozentergebnisse in den Umfragen ausschließlich damit zu kontern versucht, dass man „Frustration und Protest“ sehe, nimmt letztlich die Bürger*innen, die sich für die AfD entscheiden, nicht ernst. Ist die eine Frustursache beseitigt, entsteht mit Sicherheit die nächste. Wilhelm Heitmeyer warnt – u.a. am 9. Juli 2023 in der Süddeutschen Zeitung – vor einer Verharmlosung dieser Wahlentscheidungen als „Protestwahl“: Es helfe auch nicht, AfD-Politiker*innen oder ihre Wähler*innen als „rechtsextrem“ zu bezeichnen, weil dies den Rechtsextremismus geradezu normalisiere. Na und? So lautet dann die Antwort. Es geht – so Wilhelm Heitmeyer – letztlich um eine scharfe „Abgrenzungs- und Ausgrenzungspolitik. Mit der aggressiven Behauptung einer Gruppenidentität werden Gruppengrenzen verhärtet.“
Es ist im Grunde dasselbe Phänomen, das Susan Sontag angesichts von Krankheiten beschrieb. Eine Krankheit ist keine Metapher für irgendetwas, sie ist eine Krankheit. Die Entscheidung für eine rechtsextremistische Partei ist keine Metapher für irgendeine noch so berechtigt erscheinende Unzufriedenheit, sie ist eine Entscheidung gegen die Demokratie und eine Entscheidung für Diskriminierung, Vertreibung, Deportationen und Mord. Da können noch so viele beteuern, sie hielten die Demokratie für eine gute Sache. Wer Anti-Demokrat*innen zu Mehrheiten und in Ämter verhilft, spielt mit dem Feuer, in dem sich der Teufel bekanntlich recht wohl fühlt (man verzeihe mir diese Metapher).
Hilft eine inhaltliche Debatte? Vielleicht hätte es geholfen, wenn die Parteien, die aufriefen, die AfD-Kandidaten in Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz nicht zu wählen, gesagt hätten, was sie inhaltlich wollen. Dazu hätte man beide Kandidaten befragen können. Malte Lehming hat schon recht, wenn er im Tagesspiegel fordert, eine „inhaltliche Debatte“ zu führen. Die AfD ist keine Friedenspartei, weder im Hinblick auf den von Russland angezettelten Krieg um die Ukraine noch im Hinblick auf den inneren und sozialen Frieden, aber dass sie sich als eine solche inszenieren kann und viele das auch noch glauben, ist letztlich Politikversagen der demokratischen Parteien. Die bisherigen Versuche, durch einen Verweis auf vorgebliche wie auf reale „Sorgen“ der Bürger*innen Vorbehalte abzumoderieren, sind gescheitert. Zu einer inhaltlichen Debatte gehören eben auch die mittel- und langfristigen Zusammenhänge, eben auch der Zusammenhang zwischen Migrations- und Klimakrise und die offene Debatte darüber, dass Demokratie ein mühsames Geschäft ist und Politiker*innen keine Schamanen sind, die mit einem Wort die Welt retten. Es gibt keine Patentlösungen, aber war da nicht einmal der Wunsch, „Fluchtursachen“ zu bekämpfen? Die Fluchtursache Klimakrise ist keine Metapher. NR
Die neuen Texte im Demokratischen Salon:
- Rubrik DDR: Eines der zentralen Daten des Widerstands gegen die kommunistische SED-Diktatur war der 17. Juni 1953, dessen in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung als „Tag der Deutschen Einheit“ gedacht wurde. Widerstand und Opposition in der DDR lassen sich nicht jedoch nicht auf ein einziges Datum beschränken. Es gab sie vor der Staatsgründung am 7. Oktober 1949 in der vormaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), es gab sie bis zum Niedergang der SED, der sich am 9. November 1989 in der Öffnung der Grenzen und in der einzigen demokratischen Wahl der DDR am 18. März 1990 vollzog. Der Deutsche Bundestag beschloss zum Gedenken die Ausgestaltung eines „Forums Opposition und Widerstand in SBZ und DDR 1945 – 1989“. Die Robert-Havemann-Gesellschaft erhielt den Auftrag zu einer Machbarkeitsstudie. Markus Meckel und Peter Steinbach formulierten eine grundlegende Kritik. Sie wehren sich gegen den vorgesehenen Ort, das ehemalige StaSi-Gelände, sie fordern einen Gesamtblick auf die Zeit von 1945 bis 1989, sie haben eine ausführliche Liste der wesentlichen Inhalte des Kampfes für eine freiheitliche Demokratie in der DDR vorgelegt. Zahlreiche Personen aus Politik, Wissenschaft und Kultur haben den Aufruf unterzeichnet. Den vollständigen Text lesen Sie hier.
- Rubrik Osteuropa: Im Jüdischen Echo Westfalen-Lippe (J.E.W.) erscheint seit April 2023 regelmäßig das Tagebuch von Nataliia Sysova, das sie in Mariupol vom 24. Februar 2022 bis zu ihrer Flucht im Juli 2022 nach Deutschland niederschrieb. Die J.E.W.-Redaktion stellt die Texte dem Demokratischen Salon zur Zweit-Veröffentlichung zur Verfügung. Der dritte Teil dokumentiert die Zeit vom 17. bis zum 21. März 2022, Fotografien zeigen die Zerstörung durch die russischen Angriffe und das prekäre (Über-)Leben der Menschen in der zerstörten Stadt. Die Tagebucheinträge des dritten Teils lesen Sie hier. Der zweite Teil wurde in der Juni-Ausgabe, der erste Teil in der April-Ausgabe veröffentlicht. Fortsetzung folgt.
- Rubrik Levantinische Aussichten: Die österreichische Plattform mena-watch erlaubte dem Demokratischen Salon die Veröffentlichung der dort in zwei Teilen erschienenen Analyse von Murat Yörük „Wie Erdoğan die Wahl gewonnen hat – Und warum die Opposition scheitern musste“. Der Autor befasst sich in zwölf Thesen mit dem Ergebnis der Wahlen vom 28. April 2023, die Erdoğan gegen die Einschätzung manch internationaler Beobachter*innen gewann, mit knappem Vorsprung, aber immerhin so deutlich, dass es so kaum Anfechtungen gibt. Die Opposition machte einen geeinten Eindruck, doch reichte dies nicht aus, um die Wahl zu gewinnen. Die kurdische HDP wurde nicht zur Königsmacherin, enttäuschte AKP-Wähler*innen wechselten zu kleinen Parteien. Die ökonomische Krise spielte bei der Wahl keine Rolle, ebenso das Fehlen jeglicher Vision der AKP, wie sich die Türkei weiterentwickeln könnte. Die Opposition dominierte in den Großstädten, die die Wahl jedoch nicht entschieden. Allerdings bleibt abzuwarten, wie die anstehenden Kommunalwahlen ausgehen, nicht zuletzt in İstanbul, das die AKP zurückerobern möchte. Murat Yörük vertritt die These, dass sich sowohl die AKP als auch die Opposition neu orientieren müssen. Die vollständige Analyse lesen Sie hier.
- Rubriken Gender, Kultur und Opfer und Täter*innen: Im Juni veröffentlichten wir ein Gespräch mit Sandra del Pilar über ihre Arbeiten zur Geschichte von Malintzin, die lange Zeit als die Verräterin galt, die Cortès die Eroberung Mexikos ermöglicht hätte, doch nach einer detaillierten Analyse der Ungereimtheiten in offiziellen Quellen und offiziöser Geschichtsschreibung als treibende Kraft sowie als geschickte Politikerin und Kriegerin bei der Eroberung Tenōchtitlans gesehen werden kann. Müssen die mexikanische Geschichte und möglicherweise auch die Geschichte anderer Kolonialisierungen neu geschrieben werden? Sandra del Pilar hat den von ihr verfassten fiktiven Bericht Malintizins aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt und dem Demokratischen Salon zur Verfügung gestellt. Wir veröffentlichen ihn mit ihren dazu entstandenen Zeichnungen unter dem Titel „Der Codex Malintzin – Die andere, vielleicht die wahre Geschichte Mexikos“. Bericht und Bilder finden Sie hier.
- Rubriken Opfer und Täter*innen, Antisemitismus und Kinderrechte: Warum schweigen Opfer von Gewalt, warum schweigen Täter*innen? Wann sprechen sie, was offenbaren sie, was gestehen sie ein? Ihre Forschungsergebnisse zu diesen Fragen stellt die Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin Friederike Lorenz-Sinai in dem Gespräch unter dem Titel „Über das Schweigen“ Grundlagen ihrer Analyse sind ihre Dissertation „Der Vollzug des Schweigens“ über die Aufarbeitung von Gewalt gegenüber behinderten Jugendlichen in zwei Jugendwohngruppen sowie ihre gemeinsam mit Marina Chernivsky veröffentlichten Analysen zum Antisemitismus in Schulen verschiedener Bundesländer. Sie geht von einem prozessualen Gewaltverständnis aus und unterscheidet mit Hannah Arendt zwischen Macht und Gewalt. Gewalt ist immer Missbrauch von Macht, das Schweigen der Opfer oft Folge realer wie imaginierter Macht, ein Zeichen von Ohnmacht. Das Schweigen der Täter*innen spiegelt das Gefühl, Gewalt mit einem vorgeblich guten erzieherischen oder politischen Zweck zu verbinden. Eine zentrale Rolle spielt der institutionelle Rahmen, auch bei antisemitischen Vorfällen in Schulen, die von Lehrer*innen oft relativiert und verharmlost werden. Jüdische Betroffene leiden darunter, dass ihre Erlebnisse antisemitischer Übergriffe nicht ernstgenommen werden und dass sie in Begegnungsprojekten zum Anschauungsobjekt pädagogischer Prozesse gemacht werden. Der institutionelle Kontext und das gegenseitige Einverständnis von Lehrer*innen untereinander erschwert unabhängig von persönlichen Einstellungen Prävention und Intervention. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
- Rubriken Jüdischsein und Antisemitismus: Jüdisches Leben, Jüdischsein wird oft auf Antisemitismus reduziert. Ungeachtet der Bedrohungen von Jüdinnen*Juden durch antisemitische An- und Übergriffe wehren sich junge Jüdinnen*Juden gegen pauschalisierende Zuschreibungen. Anastassia Pletoukhina, u.a. Vorsitzende des Trägervereins des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks, bietet in ihrem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Buch „Doing Judaism“ ein höchst differenziertes Bild. Sie selbst ist als Zwölfjährige aus Moskau nach Lübeck gekommen und begann zu verstehen, welche jüdischen Rituale sie bereits in Moskau erlebte. In Lübeck erfuhr sie von ihrem prekären Status als Vaterjüdin, den sie mit vielen anderen jungen Jüdinnen*Juden teilt. Sie vollzog den orthodoxen Giur und engagiert sich in der Jewish Agency for Israel, dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk sowie in Nevatim. Ihr geht es nicht um ein liberales Judentum, sie fasst ihre Vision modernen Judentums in Deutschland unter drei Begriffe: „Inklusiv, pluralistisch, demokratisch“. Deutsches Judentum ist heute migrantisch, etwa 90 Prozent der Jüdinnen*Juden in Deutschland haben eine migrantische, in der Regel ehemals sowjetische Familiengeschichte. Ansätze zu Veränderungen in den Gemeinden sieht Anastassia Pletoukhina über das vom Zentralrat der Juden eingeführte Gemeindecoaching, das für mehr Vielfalt sorgen soll. Als Überlebende des Mordanschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle hat sie gemeinsam mit Rebecca Blady das Festival of Resilience eingerichtet. Beachtenswert ist ihr Schlusswort als Nebenklägerin im Prozess gegen den Attentäter von Halle. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
- Rubriken Levantinische Aussichten, Migration und Europa: In den europäischen Debatten über die Zukunft des Nahen und Mittleren Osten spielt der Irak nur noch eine Nebenrolle. Dies ist jedoch in keiner Weise gerechtfertigt. Thomas von der Osten, Geschäftsführer der Hilfsorganisation WADI in der autonomen Region Kurdistan, benennt in dem unter dem Titel „Irakischer Alltag und Europa“ dokumentierten Gespräch Entwicklungen, die wir in Europa, in Deutschland unterstützen sollten. Der Irak ist eines der am härtesten vom Klimawandel betroffenen Länder, viele Regionen werden unbewohnbar, die großen Flüsse Euphrat und Tigris trocknen aus. Junge Menschen haben im gesamten arabischen Raum nur wenige Zukunftsperspektiven, sodass für viele nichts anderes bleibt, als die gefährliche Reise nach Europa zu versuchen. Die EU ist mit ihrer Migrationspolitik in Afrika gescheitert, verhandelt jedoch weiterhin mit Diktaturen und Milizen in Nordafrika und im Nahen Osten und ignoriert die für Europa durchaus gegebenen Chancen einer geregelten Zuwanderung. Der Irak hat – so Thomas von der Osten – von allen Staaten der Region noch die besten Aussichten, sich zu einer Demokratie zu entwickeln, vor allem weil der Irak – im Unterschied zu anderen Staaten der Region – sich nicht für ein Präsidialsystem, sondern für ein parlamentarisches System entschieden hat. Zur Unterstützung brauchen die Menschen im Irak die Anerkennung des Erreichten, Bildung sowie Stärkung von Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit. Die Gesprächsdokumentation begleiten Bilder, die beispielhafte Inhalte und Erfolge der Arbeit von WADI dokumentieren, zum Umweltschutz, gegen häusliche Gewalt, gegen Genitalverstümmelung bei Mädchen. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
- Rubrik Kinderrechte: Am 2. Juni 2023 gestalteten Landschaftsverband Rheinland und Demokratischer Salon das digitale sozialpolitische Fachgespräch „Den unsichtbaren Armutsrucksack leichter machen – Welches Leben wollen wir für Kinder und Jugendliche?“ Es ging nicht um die Frage der zurzeit umstrittenen Ausgestaltung der Kindergrundsicherung, sondern um die Linderung der Folgen von Armut für Kinder und Jugendliche unter gegebenen Bedingungen. Alexander Mavroudis hatte dies schon in dem hier dokumentierten Gespräch über „Kommunale Gestaltungsvisionen“ Natalie Deissler-Hesse hat die Impulse der Veranstaltung zusammengefasst, Titel: „Wer glaubt an dich?“ Die Gesprächspartner*innen plädierten für mehr Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an der Ausgestaltung kommunaler Unterstützungsleistungen. Für das Personal der Kommunen und der Träger der freien Jugendhilfe ist Armutssensibilität ein leitendes Prinzip. Anstelle der üblichen Gießkannenförderung wäre eine bedarfsgerechte Förderung anzustreben, zu der auch ein gut abgestimmtes Vorgehen der verschiedenen kommunalen Ämter gehört. Es könnte auch darüber nachgedacht werden, ob hohe und höchste Einkommensgruppen überhaupt Kindergeld und vergleichbare Leistungen brauchen. Die gesamte Veranstaltung wird Mitte August auf der Internetseite des Programms „kinderstark“ eingestellt, die auch viele vertiefende weitere Informationen bietet. Den Text von Natalie Deissler-Hesse finden Sie hier.
- Rubrik Treibhäuser: In mehreren Essays hat Norbert Reichel sich mit der Frage des Aufschwungs rechter und rechtsextremistischer Parteien befasst, denen es zunehmend zu gelingen scheint, sich als die wahren Konservativen zu inszenieren. Zu diesen Essays gehören u.a. „Mainstreamkompatibel“, „Faschismus“ und „Rechtsgedreht“. In seinem Essay „Tipping Points“ formuliert er ein „Plädoyer für mehr Bereitschaft zu komplexem Denken“. Die Analyse folgt dem Gedanken von Judith Schalansky in „Schwankende Kanarien“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2023). In den früheren britischen Kohlebergwerken signalisierten Kanarienvögel, wann es Zeit wäre, die Mine zu verlassen. Sie fielen von der Stange. Der globale Kipppunkt ist in der Klimakrise schon schwerer zu bestimmen, obwohl es genügend wissenschaftlich belegte Anzeichen gibt, in gesellschaftlichen Entwicklungen wird es erst noch schwieriger. Dabei werden die Zusammenhänge zwischen Klima- und Migrationskrise sowie wirtschaftlicher Entwicklung in der Regel bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht, sodass es für fundamentalistische Parteien einfach wird, ihre Anti-Haltung zur einzig wahren Lösung zu verklären. Die demokratischen Parteien haben bisher kein Rezept gefunden, dieser Anti-Haltung eine zukunftsweisende Erzählung entgegenzusetzen. Viel wird davon abhängen, wie sich vor allem CDU und Grüne entwickeln und zueinander verhalten, viel auch davon, ob es den drei Parteien der „Ampel“ gelingt, ihren jeweiligen Beitrag komplementär zu definieren. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
Veranstaltung mit Beteiligung des Demokratischen Salons:
- Karlrobert Kreiten: Am 27. August 2023, 18 – 20 Uhr, gibt es im Bonner Leoninum eine von der Theatergemeinde Bonn und dem Demokratischen Salon gemeinsam vorbereitete Veranstaltung zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Hinrichtung des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten durch die Nazis in Plötzensee. Zu seinem Gedenken spielt Knut Hanßen Stücke seines letzten wegen seiner Verhaftung nicht mehr gespielten Konzerts. Susanne Kessel wird zwei eigens zu diesem Anlass komponierte Klavierstücke von Ursel Quint und David Graham uraufführen. Dazu gibt es Diskussionen mit den Künstler*innen und mit Expert*innen der historisch-politischen Bildung. Die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner wird eröffnen. Oliver Hilmes stellt sein 2023 erschienenes Buch „Schattenzeit“ vor, in dem er die Geschichte Karlrobert Kreitens ausführlich beschreibt. Die Veranstaltung wird von der Landeszentrale für politische Bildung NRW gefördert. Karten zum Preis von 15 EUR (8 EUR für Studierende, Schüler*innen und Inhaber*innen des Bonn-Ausweises) können bei der Theatergemeinde vorbestellt werden: info@tg-bonn.de, Tel. 0228-915030. Alle weiteren Informationen finden Sie hier.
Weitere Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:
- Erinnerung an Fereydoun Farrokhzad: Die Gruppe @frauenlebenfreiheit_bonn organisiert, unterstützt durch @frauenlebenfreiheit_koeln, am 5. August 2023, 14 Uhr, anlässlich des Todestages von Ferydoun Farrokhzad (07.10.1938–06.08.1992) auf dem Bonner Markt vor dem Alten Rathaus, eine Kundgebung und ein Solidaritätskonzert. Er war ein angesehener Politikwissenschaftler, Talkshowhost, Dichter, Sänger, Schauspieler und eine wichtige politische Figur der Opposition im Iran. Er hatte Politikwissenschaften an der LMU München studiert, kehrte anschließend wieder in den Iran zurück und wurde dort zu einem der berühmtesten Sänger und Entertainer der modernen iranischen Musikgeschichte. Als kritischer Künstler musste er – wie viele andere auch – seine Heimat verlassen, als die Islamisten die Iranische Revolution in 1979 kaperten und die „Islamische Republik“ ausriefen. Im Bonner Exil setzte er seine Arbeit fort. Aber am 6. August 1992 wurde er in seinem Haus in Bonn brutal ermordet. Das war kein Einzelfall, das Regime operierte mit seinem Geheimdienst systematisch von seinen Botschaften aus, es verfolgte und ermordete Oppositionelle und Exiliraner*innen, so auch in Bonn. In seinem Lied „Sharghie Ghamgin“ singt Farrokhzad: „Nazar khamooshie joon begire“ = „Lass die Dunkelheit/Stille nicht an Kraft gewinnen“. Seine Lieder, Gedichte und Worte wirken bis heute und machen Mut. Wir dürfen nicht nachlassen, wir müssen die Verbrechen des islamistischen Regimes im Iran laut benennen, wir dürfen nicht vergessen. Denn wenn wir schweigen, setzt das islamistische Regime Verfolgung, Folter, Morde und Hinrichtungen fort.
- Bonner Altstadtlesereise: Vom 11. August bis zum 10. September 2023 findet in Bonn die 17. Bonner Altstadtlesereise mit 30 Veranstaltungen statt. Nur einige Namen der Autor*innen, die vorgestellt und über deren Wirken selbstverständlich diskutiert werden kann: Esther Bejarano, Gregor Berghorn, Herbert Franke (den sein Sohn Thomas Franke vorstellt) Irmgard Keun (die in der Bonner Altstadt lebte), Egon Erwin Kisch, Kurt Schwitters. Es gibt Bücher für alle Altersgruppen und Vorlieben, auch für Kinder, für Menschen, die gerne reisen, für Menschen, die sich für Geschichte und Politik interessieren. Die Veranstaltungen werden von Bonner Schauspieler*innen, Verleger*innen, Wissenschaftler*innen und Buchhändler*innen moderiert, oft auch musikalisch begleitet, so beispielsweise von Joram Bejarano. Die konkreten Termine und weitere Informationen finden Sie hier.
- Migrationsmuseum DOMiD: Vor einiger Zeit wurde im Demokratischen Salon das Kölner Migrationsmuseum DOMiD vorgestellt. Es war bereits Thema eines Essays, eines Gesprächs mit dem Leiter Robert Fuchs sowie eines weiteren Gesprächs mit Manuel Gogos, der im transcript-Verlag auch ein Buch zu den Anfängen und zum Konzept veröffentlicht hat. Das Museum ist auch Thema eines Radiofeatures im Bayerischen Rundfunk, das in der Süddeutschen Zeitung angekündigt wurde und nach wie vor in der Mediathek vorrätig bleibt.
- Rechte Gewalt: Bis zum 13. August 2023 ist im ELDE-Haus in Köln eine gemeinsame Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums und der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen; Titel „Un-Sichtbarer Terror – Orte rechter Gewalt in Deutschland“. Der Fotograf Mark Mühlhaus hat mehr als 30 Orte in ganz Deutschland aufgesucht, an denen Rechtsterroristen, Neonazis, Skinheads und andere gewaltbereite rechte Jugendliche rassistische oder antisemitische Taten verübten. Ein eigener Ausstellungsbereich, der von Schüler*innen und Studierenden gestaltet wurde, dokumentiert in Köln verübte Gewalttaten. Weitere Informationen finden Sie hier.
- September 1939: Der 1. September ist in jedem Jahr der Tag, an dem wir des deutschen Überfalls auf Polen 1939 gedenken, an den Beginn des Zweiten Weltkriegs und an die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen erinnernDas Deutsche Poleninstitut lädt gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas am Freitag, 1. September 2023, ab 17 Uhr zu einer öffentlichen Gedenkversammlung unter freiem Himmel in der Nähe der ehemaligen Krolloper in Berlin (im Tiergarten an der Großen Querallee) ein. Die offizielle Einladung mit Programm wird demnächst auf der Website des DPI veröffentlicht. Wer weitere Informationen zum Gedenken an den 1. September 1939 in Polen, in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1989 erfahren möchte, lese das Buch „Nie wieder Krieg!“ von Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew, erschienen 2022 in Wiesbaden im Harassowitz Verlag.
- Protest und Aufstand: Am 6. Juni 2023 startete die sechsteilige Vortrags- und Diskussionsreihe „Mut/Wut! Protest, Aufstand und politischer Aktivismus in Diktatur und Demokratie“. Sie ist ein gemeinsames Projekt der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Bundesstiftung Aufarbeitung. Anlass ist der 70. Jahrestag des Volksaufstands vom 17. Juni 1953. Einbezogen werden jedoch auch Aufstände und Protestformen in anderen Ländern, beispielsweise im Iran. In der ersten Veranstaltung ging es um Symbole des Protestes (beispielsweise Kerzen, Regenschirme, abgeschnittene Haare). Die weiteren Termine: Juli 2023 („Stadt, Land, Netz“), 5. September 2023 (Zwischen Recht und Repression“), 10. Oktober 2023 (Demokratischer (Un-)Wille? Der Umgang mit antidemokratischem Protest“, 7. November 2023 („Vergessene Aufstände und marginalisierter Protest“ und 5. Dezember 2023 („Protest und Emotion“). Alle Veranstaltungen finden in den Räumen der Bundesstiftung oder – am 7. November 2023 – in der Berliner Landeszentrale statt. Alle sind auf dem Youtube-Kanal der Stiftung verfügbar.
- „Flashes of Memory“: Diese Ausstellung zur Fotografie im Holocaust ist bis zum 20. August 2023 im Museum für Fotografie, Jebensstr. 2, 10623 Berlin zu sehen. Weitere Informationen, auch zum Begleitprogramm, finden Sie hier.
- Tarbut – Jüdische Kultur: Die Jüdische Gemeinde Wiesbaden eröffnet am 6. September 2023, 19 Uhr, im Wiesbadener Rathaus gemeinsam mit der Kulturamt der Stadt die Ausstellung „Jekkes in Israel“. Die Ausstellung ist der Auftakt der Veranstaltungsreihe „Tarbut – Zeit für jüdische Kultur“. Zweiundzwanzig Portraits von deutschen Einwanderern in Israel werden von Moshe Beker und Oranit Zimra vorgestellt. Sie alle waren Kinder und Jugendliche, als sie gezwungen waren, Deutschland angesichts des nationalsozialistischen Terrors zu verlassen. Der 75. Jahrestag des Staates Israel ist der Anlass, sich mit den Leistungen der „Jekkes“ und diesem Teil der Geschichte zu befassen, die Deutschland und Israel verbindet. Die Eröffnung wird musikalisch von Anne-Sophie Bertrand (Harfe) und Marat Dickermann (Violine“) gerahmt. Weitere Informationen zur Veranstaltungsreihe finden Sie hier.
- Charlotte Salomon: Das Münchner Lenbachhaus zeigt bis zum 10. September 2023 das Lebenswerk der 1942 in Auschwitz im Alter von 26 Jahren ermordeten Künstlerin. Die 769 Blätter, die sie zu dem „Singespiel“ „Leben? oder Theater?“ in drei Akten zusammenfasste, entstanden nach ihrer Flucht aus Berlin in Südfrankreich. Die Ankündigung des Lenbachhauses beschreibt Struktur, Inhalt und Bedeutung ihres Werks: „Die Illustrationen und Texte fügen sich wie Szenenbilder einer Theaterinszenierung oder eines Drehbuchs zusammen und nehmen gleichzeitig den hybriden Charakter aus Text- und Bildebene von Graphic Novels vorweg. Die Figuren des Werks beruhen auf Salomons persönlichem Umfeld, sind von ihr jedoch subjektiv herausgearbeitet und somit zu fiktiven Charakteren abstrahiert.“
- BNE-Festival 2023: Das diesjährige Festival findet unter dem Motto „Lernen – Handeln – Wandeln“ am 14. und 15. September 2023 in der Volkshochschule Essen statt. Veranstalter sind das nordrhein-westfälische Umweltministerium und die Stiftung Umwelt und Entwicklung (SUE) in Bonn. Angeboten werden Informationen, Workshops, Materialien und vieles mehr aus der „BNE-Familie“ in NRW, die sich auch über weitere Mitglieder freut. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Einwanderung in Deutschland: In der Bonner Bundeskunsthalle ist bis zum 8. Oktober 2023 die Ausstellung „Wer wir sind – Fragen an ein Einwanderungsland“ zu sehen. In der Ankündigung werden die Ziele der Veranstaltung beschrieben: „Migration ist kein Sonderfall – sie ist der Normalzustand, zu jeder Zeit und überall auf der Welt. Die Menschen, die nach Deutschland kamen, kämpften seit jeher darum, Teil der Gesellschaft und ihrer Geschichte zu sein. Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung sind bis heute Alltag für Menschen, denen die Zugehörigkeit zum ‚Wir‘ abgesprochen wird, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte. Ihre Wege sind gekennzeichnet von Widerständen, aber auch von Erfolgen.“ Die Ausstellung zeigt Werke von 50 Künstler*innen. Kurator*innen sind Johanna Adam, Lynhan Balatbat-Helbock und Dan Thy Nguyen. Beteiligt haben sich unter anderen das Team von DOMiD und Manuel Gogos.
- Ringelblum-Archiv: Im NS-Dokumentationszentrum München wurde am 28. Juni 2023 die Ausstellung „Wichtiger als unser Leben“ eröffnet, in der bis 7. Januar 2024 das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, das nach dem Dokumentar benannte „Ringelblum-Archiv“ zu sehen sein wird. Emanuel Ringelblum war einer der etwa 60 jüdischen Akademiker*innen, Schriftsteller*innen und Aktivist*innen, die unter dem Namen Oneg Shabbat dafür sorgen wollten, dass ihr Leben und Sterben im Warschauer Ghetto der Nachwelt überliefert wurde. Das Archiv ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und wird im Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau aufbewahrt. Fotos, Schriftstücke geben Zeugnis vom polnischen Judentum sowie von anderen Gruppen, die wie Sinti*zze und Rom*nja von den Nazis im Warschauer Ghetto eingepfercht wurden. Begleitend bietet das NS-Dokumentationszentrum eine Vielzahl von Veranstaltungen.
Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:
- Faktenchecks: Es ist nicht so einfach, einen Überblick über die Informations- und Desinformationspolitik großer Plattformen zu erhalten. Das Recherchenetzwerk Correctiv versucht Orientierung zu schaffen. Das Netzwerk arbeitet mit dem Facebook-Concern Meta zusammen, „weil er sich selbst nur als Anbieter der Plattform betrachtet und keine Inhalte produzieren will.“ Natürlich gibt es auch hier Grenzen. Twitter arbeitet grundsätzlich nicht mit Faktencheck-Redaktionen zusammen, die Bereitschaft von TikTok, google und youtube ist – vorsichtig gesprochen – ausbaufähig. Correctiv bietet eine Analyse der aktuellen Situation, auch unter Würdigung des Digital Service Act der EU, der nicht nur „eine Risikobewertung zum Umgang mit illegalen Inhalten“, sondern auch Strafen vorsieht. Die Kernfrage lautet, ob und wie der Digital Service Act durchgesetzt werden kann, nicht zuletzt in Bezug auf die Reichweite europäischer Gerichtsbarkeit.
- Selbstwirksamkeit statt toxische Krisennarrative: Am 5. Juni 2023 hielt Jürgen Wiebicke in Essen den einführenden Vortrag zur Konferenz „Mission possible – Neue Wege politischer Erwachsenenbildung“. Die Gefahr bestehe darin, dass „Krisennarrative“ die gesellschaftlichen Debatten beherrschen. Politische Bildung müsse „Orientierungswissen“ anbieten, das „Selbstwirksamkeit“ und eine „Balance zwischen Utopie und Apokalyptik“ ermögliche. Weitere Informationen und eine kurze Zusammenfassung der Rede und der Konferenz bietet die Transferstelle für politische Bildung in Essen auf ihrer Internetseite. Der Vortrag wird zum Teil auch in Jürgen Wiebickes neuem Buch „Emotionale Gleichgewichtsstörung“ veröffentlicht, das im Herbst 2023 in Köln bei Kiepenheuer & Witsch erscheint.
- Kulturelle Aneignung oder Kultureller Austausch? Ist kulturelle Aneignung ein Übergriff, der einer Enteignung gleichkommt, oder ein normaler Vorgang, denn nachgeahmt und kopiert wurde doch schon immer? Im Kulturpolitischen Salon des Deutschen Kulturrates, des Deutschen Bühnenvereins und des Deutschlandfunk Kultur wurde diese Debatte am 14.06.2023 im Deutschen Theater Berlin in die Frage überführt: Was ist Aneignung, was ist Austausch? Es diskutierten Mercy Orcas Otieno, Schauspielerin am Deutschen Theater, Patricia Rahemipour, Direktorin des Instituts für Museumsforschung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, Jens Balzer, Kulturjournalist und Autor, und Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Die Moderation übernahm Hans Dieter Heimendahl, Deutschlandfunk Kultur. Die Sendung ist in der Mediathek von Deutschlandradio Kultur verfügbar.
- Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat es nicht leicht. Die einen halten ihn für zu staatsnah, die anderen für zu seicht, um seinen Bildungsauftrag zu erfüllen. Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ bietet in ihrer Ausgabe vom 19. Juni 2023 acht Analysen, auch im internationalen Vergleich. Beachtenswert ist der Beitrag von Annette Dittert über die Art und Weise, wie die britische Regierung den BBC versucht, auf ihre Linie zu verpflichten. Dies geschieht nicht zuletzt über Mittelkürzungen und den Austausch von Personal. Der Deutsche Kulturrat hat sich ebenfalls zu diesem Thema geäußert. Am 24. Juni 2023 verbreitete er eine Erklärung vom 6. Juni 2023 „Wider die Berlusconisierung der deutschen Medien“. Die Erklärung entstand aus einer Gruppe, die sich auf Einladung von Christian Höppner, Präsident des Deutschen Kulturrates und Rundfunkratsmitglied der Deutschen Welle, und von Gerhart R. Baum, Vorsitzender des Kulturrat NRW und Rundfunkratsmitglied im WDR, h seit zwei Jahren regelmäßig traf. Beteiligt waren Expert*innen aus der Kulturbereich der ARD-Anstalten, des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle. Die Erklärung enthält u.a. ein Plädoyer für die Beibehaltung der Kernaufträge sowie einen festen Anteil der Kultur in den Programmen. Sie erteilt Scheinlösungen eine Absage, wie dem Ansinnen, die Rundfunkorchester zu einem Orchester zusammenzulegen.
- Ehehindernisse (nicht nur) für Iranerinnen: Einige deutsche Standesämter verlangen von Iranerinnen, die in Deutschland heiraten wollen, eine Einverständniserklärung ihrer Väter, weil das im Iran so Gesetzeslage sei. Grundlage ist 1309 BGB. Der ausländische Ehepartner benötigt ein Ehefähigkeitszeugnis, das von den zuständigen Behörden seines Heimatlandes ausgestellt werden muss. Es gibt eine Ausnahmemöglichkeit nach § 1309 Abs. 2 BGB. Dazu ist ein Antrag an den Präsidenten des Oberlandesgerichts erforderlich. Das könnte greifen, wenn der Staat solche Ehefähigkeitszeugnisse nicht ausstellt. Auch das funktioniert nicht immer. Mitunter müssen binationale Ehen in Dänemark geschlossen werden, weil – beispielsweise aus afrikanischen Ländern – eine Bescheinigung, dass keine weitere Ehe existiere, nicht erhältlich ist. In manchen Fällen wird persönliche Vorsprache gefordert, die jedoch für die*den Reisende*n oft Lebensgefahr bedeutet. Grundlage der Praxis deutscher Standesämter ist ein 1929 geschlossenes Niederlassungsabkommen zwischen dem Iran und dem damaligen Deutschen Reich, das heute noch gilt. Initiativen gegenüber Abgeordneten, dies zu ändern, blieben bisher ohne Antwort.
- Wolodymyr Selenskyj: Wie wurde er der, der er ist? Eine ausführliche und sehr lesenswerte Antwort gibt Ariane Chemin, Journalistin bei Le Monde, bereits im Februar 2023. In der Sommerausgabe von Lettre International zu lesen ist die deutsche Übersetzung von Ulrich Kunzmann, Titel: „Die fünf Leben des Wolodymyr Selenskyj“. Allein dieser Text lohnt den Erwerb dieser Ausgabe von Lettre International. Ariane Chemin beschreibt die ersten Schritte in Krywyj Rih, einer Stahlstadt mit 600.000 Einwohner*innen an einem Nebenfluss des Dnjepr, die berufliche Entwicklung, die Familie, der Freundes- und Bekanntenkreis, die Verbindung satirischen Talents mit großer Ernsthaftigkeit. Nach seiner Wahl empfahl er, die Beamt*innen möchten nicht sein Portrait in ihre Büros hängen, sondern die Bilder ihrer Kinder. Vielleicht bietet Dmitri Bykow eine Formel, das Phänomen Selenskyj zu erklären: „Eine Nation hat auf einen Schauspieler gesetzt, der Schauspieler hat den Helden gespielt, und er ist dieser Held geworden.“
- Black Studies: Wer über Vielfalt beziehungsweise die Verhinderung von Vielfalt in Lehrplänen von Schulen und Hochschulen nachdenken möchte, sollte sich sehr genau anschauen, was in Florida geschieht. Robin D. G. Kelley, Geschichtsprofessor an der UCLA verfolgte das Schicksal eines Curriculumentwurfs und des politischen Drucks, der dazu führte, dass der Text den Vorgaben des Stop W.O.K.E. Act („Stop Wrongs To Our Kids and Employees Act“) der von Ron DeSantis geführten Regierung Floridas angepasst wurde. Er erinnert auch an vergangen geglaubte Praxis der Verherrlichung des Ku-Klux-Clans und anderer offen rassistischer Organisationen im Kultur-, Wissenschafts- und Bildungsbetrieb. Robin D. G. Kelley schreibt: „Who’s afraid of Black Studies? White supremacists, fascists, the ruling class, and even some liberals. As well they should be. Not everything done in the name of Black Studies challenges the social order. Like any field, it has its own sharp divisions and disagreements. But unlike mainstream academic disciplines, Black Studies was born out of a struggle for freedom and a genuine quest to understand the world in order to change it, presenting political and moral philosophy with their most fundamental challenge.” Der programmatische Titel des Essays: „The Long War on Black Studies“.
- 17. Juni 1953: In der taz zu lesen war ein Interview von Simone Schmollack mit Stefan Wolle zum 70. Jahrestag des 17. Juni 1953. Stefan Wolle bietet ein differenziertes Bild des Tages wie der Rezeption in Ost und West. Zurzeit werden DDR und Wiedervereinigung in einem unguten Kontext debattiert. Stefan Wolle kritisiert die aktuellen Bücher von Dirk Oschmann, Katja Hoyer und Anne Rabe, die eine Mischung von Verklärung der DDR und überzogener Kritik der Folgen der Wiedervereinigung propagierten, die der AfD in die Hände spiele. Oschmanns eigene Karriere widerlege mit seinem Aufstieg vom Arbeiterkind zum Literaturprofessor seine eigenen Thesen. „Es wird gerade vieles schlechtgemacht, was erreicht worden ist seit der Wende, dabei aber vergessen, dass die ostdeutsche Mehrheit 1989 eine schnelle Wiedervereinigung wollte. Auch wenn manche anders argumentieren: Nahezu allen Ostdeutschen geht es heute besser als in der DDR. Selbst ein Hartz-IV-Empfänger hat heute mehr Komfort als in seiner maroden DDR-Wohnung mit Außenklo.“
- Take back control? Die neue Studie von Oliver Decker und Kolleg*innen bestätigt einen Trend, der sich bereits in den vorangegangenen Leipziger Autoritarismus-Studien abzeichnete. Die Studie dokumentiert die Ergebnisse einer Umfrage unter etwa 3.500 Ostdeutschen. Die Zustimmung zu autoritären Einstellungen steigt. Auch wenn nur wenige ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild äußern, finden verschiedene Elemente rechtsextremen Denkens zunehmend Akzeptanz, insbesondere die Ablehnung von Menschen, die als „Fremde“ gelesen werden. Etwa die Hälfte der Befragten stimmte der Aussage zu, „Deutschland braucht eine starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“ Übersichten zur Studie bieten Jona Spreter in ZEIT Online, Lea Schulze im Tagesspiegel, Doreen Reinhard sprach mit Oliver Decker: „Wir haben bewusst Begriffe gewählt, die sowohl auf eine diktatorische Regierungsform hinweisen als auch auf die Fiktion eines homogenen Volkes, das von einer Partei vertreten wird. Es gibt eine Sehnsucht nach Einheitlichkeit und Abgrenzung, die hier zum Ausdruck kommt. Es soll keine Differenzen geben, sondern nur die eigenen Positionen. Vor diesem Hintergrund werden auch Ergebnisse wie gerade bei der Landratswahl in Sonneberg plausibel.“ Auch so eine Wumms-Sehnsucht? Dass jemand den gefühlten gordischen Knoten durchschlage? Oliver Decker: „Autoritäre Einstellungen drücken auch aus, dass man Kontrolle bekommen will.“
- Rechte in Österreich: Die Wiener Linguistin Ruth Wodak, die mit ihren Forschungsteams lesenswerte Analysen diverser antisemitischer Affären in Österreich (Waldheim-Affäre, Peter-Wiesenthal-Kreisky-Affäre) vorgelegt hatte, sprach am 29. Juni 2023 mit Cathrin Kahlweit (Süddeutsche Zeitung) über ihre Ausgrenzung als Jüdin, den Aufstieg des Rechtspopulismus in Österreich und der AfD. Mit Jörg Haider habe es angefangen, der Tipping Point sei das Jahr 1989 gewesen, die FPÖ-Vorsitzenden hätten es immer verstanden, die Möglichkeiten der modernen Medien zu nutzen und sich zu inszenieren. Herbert Kickl profitiere von Koalitionen, in denen sich „Querdenker, Rassisten, Unzufriedene, Esoteriker und Neonazis“ Das Universalrezept von FPÖ, AfD, Rassemblement National, FIDESZ, PiS und anderen sei eine „Festung Europa“. Zu konstatieren sei jedoch auch das Versagen der Konservativen, die die Thesen der Rechten „salonfähig“ machten. Ruth Wodaks Fazit: „In unserer privilegierten Generation gab es nie so viel Angst wie jetzt. Es ist schwer, mit Unsicherheit zu leben, zumal wenn dann eine Politik kommt, die eine einfache Rettung verspricht. ‚Wenn ich Kanzler werde‘, sagt Kickl, dann steht die Festung Österreich, die AfD sagt: Dann steht die Festung Deutschland. Ich mag Vergleiche mit den Dreißigerjahren nicht. Aber wenn einer Arbeit und Essen verspricht und zusagt, dass jene, die anscheinend an Missständen schuld seien, quasi verschwinden – dann ist das bekanntlich nicht neu.“
- Rechte Trittbrettfahrer: Im Deutschen Bundestag versuchte die AfD die Unruhen in Frankreich zu nutzen, um jede Zuwanderung zu kriminalisieren, sprach aber in ihren Beiträgen, wie Armin Laschet in seiner Rede feststellte, kein einziges Mal über Frankreich. Auch diverse Bilder in den Sozialen Netzwerken haben mit Frankreich nichts zu tun. Correctiv hat einige dieser falschen Zuschreibungen gelistet: Ein Bild, das auf Twitter verbreitet wird, sollte zeigen, wie Demonstrierende ein Polizeiauto stehlen, doch die Aufnahme stammt aus einem Netflix-Film. Auch aus einem Film stammt eine Szene, die aus einem Parkhaus stürzende Autos zeigt. Die Behauptung, die Aufnahmen stammten aus Frankreich, ist falsch. Ebenfalls nichts mit den aktuellen Unruhen zu tun hat die bizarre Behauptung aus einem Tiktok-Video, Menschen in Batman-Kostümen stürmten aus einem Transporter, um die Proteste zu stoppen. Die Aufnahmen entstanden im April 2023 in den USA. Auf Tiktok verbreiten sich zudem verschiedene Videos von Zootieren, die während der Proteste ausgebrochen oder von Demonstrierenden freigelassen worden wären. Auch das stimmt nicht, keines der Videos steht in Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen in Frankreich. Eindrücklich sind die Aufnahmen eines imposanten Gebäudes, das in Flammen steht. Im Netz heißt es, sie zeigten die Alcazar-Bibliothek in Marseille, die von Randalierenden in Brand gesteckt worden sei. Doch das Video zeigt ein Postgebäude in der philippinischen Hauptstadt Manila. Es gab zwar Randale an der Bibliothek in Marseille, doch die ist nicht abgebrannt und inzwischen auch wieder geöffnet.
- Mia Mottley, Barbados: In der ZEIT stellte Andrea Böhm am 22. Juni 2023 Mia Mottley vor: „Sie legt sich mit den Reichen an“. Die Juristin Mia Mottley ist Premierministerin von Barbados. Sie schaffte es, Christine Lagarde von einer Art Klima- und Finanzpakt zu überzeugen, der als Alternative zu den auf internationalen Konferenzen und Kongressen diskutierten Vorschlägen Schule machen sollte. Andrea Böhm fasst diese Alternative wie folgt zusammen: „2018, als sie erst ein paar Monate im Amt war, stellte Mottley die Schuldendienstzahlungen ihres Landes ein. Stattdessen bot sie der damaligen Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, einen Deal an: Ja, Barbados werde seinen Haushalt zusammenstreichen und die Steuern erhöhen, so wie das der IWF häufig fordert, wenn er ein Rettungsprogramm auflegen und Kredite stunden soll. Aber nur einmalig. Danach dürfe der IWF nicht auf weitere Austeritätsmaßnahmen drängen, sondern er müsse etwas Neues tun: einem Investitionsprogramm zum Ausbau der Infrastruktur zustimmen sowie „KlimarisikoKlauseln“ im Umschuldungspaket. Etwa einer Regel, wonach Barbados nach jeder künftigen Naturkatastrophe zwei Jahre lang alle Schuldendienstzahlungen aussetzen kann.“ Mia Mottley gründete die „Bridgetown-Initiative“, die sich schon in der Münchner Sicherheitskonferenz präsentierte.
- Muslimfeindlichkeit: Der angekündigte Bericht der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission liegt vor. Die Kommission wurde als Reaktion auf die rassistischen Morde vom 19. Februar 2019 in Hanau eingerichtet. Verfasst hat den Bericht maßgeblich Saba Nur-Cheema, Politologin aus Frankfurt am Main und Co-Autorin und Co-Herausgeberin verschiedener Bücher zum Mega-Thema der Diskriminierung von Minderheiten (z.B. die im Verbrecher Verlag erschienenen Bände „Triggerwarnung“ und „Frenemies“). Auf der Seite der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main finden Sie ein Interview mit Saba Nur-Cheema über die Ergebnisse der Studie. Ein großes Manko sei die Darstellung von Muslim*innen und Islam in Schulbüchern, in denen sie vor allem mit Gewalt, Terror und Integrationsschwierigkeiten in Verbindung gebracht werden. Ein weiteres Interview mit ihr führte Jan Bielicki für die Süddeutsche Zeitung. Sie sagte: „Ihnen wird pauschal unterstellt, dass sie rückständig seien, potenziell gefährlich, schwer zu integrieren. In der Summe werden Muslime als nicht der deutschen Gesellschaft zugehörig erklärt. Und das geschieht eben nicht nur auf persönlicher Ebene im alltäglichen Zusammenleben, sondern auch strukturell, das heißt in Behörden oder am Arbeits- oder Wohnungsmarkt.“ Dies beginne bereits in den Kindertagesstätten. In Ausbildung und Lehrplänen spiele Muslimfeindlichkeit keine Rolle.
- Woke ist weiß: Critical Whiteness einmal anders herum gesehen. Zu diesem Schluss könnte man kommen, wenn man die Geschichte von Sascha Chaimowicz im ZEIT-Magazin vom 22. Juni 2023 Er beschreibt, wie er als Schwarzer und als Jude von in der Regel weißen Menschen mehr oder weniger pater- oder maternalistisch mit ihrer Wortwahl zum Objekt gemacht wird und die Vielfalt jüdischer wie Schwarzer Menschen geflissentlich übersehen wird. Auch bei Anmoderationen von Veranstaltungen, in denen er auf der Bühne auftritt, erlebe er immer wieder, wie ihm und dem Publikum weiße Moderator*innen versichern, dass man jetzt wirklich nur aus seiner und seinesgleichen Perspektive sprechen werde und auf keinen Fall aus der Sicht alter weißer Männer. Einstellungen werden als Charaktereigenschaften, fast schon als genetisch festgeschrieben dargestellt, wohlgemerkt vorwiegend von weißen. „In einer amerikanischen Studie der gemeinnützigen Organisation More in Commons kam vor ein paar Jahren heraus, dass die einzige Gruppe in den USA, die politische Korrektheit als etwas Positives sieht, die sogenannten progressiven Aktivisten sind, hoch gebildet, hoch bezahlt und vor allem – weiß. Der Anteil der Schwarzen in dieser Gruppe lag bei drei Prozent.“ Nach einem Gespräch mit Alice Hasters kommt er zu dem Schluss: „Je vielfältiger eine Minderheitengruppe öffentlich wirkt, desto lebendiger ist sie.“ Die Geschichte wurde von ihm selbst illustriert.
- US-Supreme Court – Zwischentöne: Der US-Supreme Court entscheidet und die Aufregung ist groß. Bei einigen Urteilen der Vergangenheit ist dies durchaus berechtigt, jedoch nicht bei allen. Stefan Cornelius kommentierte am 2. Juli 2023 in der Süddeutschen Zeitung drei Urteile. Der Supreme Court hatte entschieden, dass sich eine Webdesignerin weigern dürfe, für ein homosexuelles Paar zu arbeiten, dass die unter John F. Kennedy eingeführte Affirmative Action rechtswidrig sei sowie dass die Exekutive mit dem Weg, auf dem der Erlass der Rückzahlung von Studiendarlehen zustande gekommen sei, ihre Kompetenzen überschritten habe. Stefan Cornelius bittet seine Leser*innen sich vorzustellen, was geschehe, wenn sich jemand weigere, eine Internetseite für Trump-Anhänger*innen zu gestalten. Auch darüber, ob die Affirmative Action Gerechtigkeit schaffe, lässt sich streiten. Und bei dem Urteil zum Schuldenerlass für Studierende ging es vielleicht den Kläger*innen um die Sache, der Supreme Court urteilte jedoch über das Verfahren. Die Exekutive hatte ihre Entscheidung, dies per Erlass zu regeln, mit der Pandemie als Notstand begründet, damit jedoch die Gewaltenteilung ausgehebelt. Stephan Cornelius überschreibt seinen Kommentar daher mit den Worten „Runter von der Kanzel“: „Die US-Politik und das höchste Gericht des Landes ringen gerade darum, wie man von diesem Belehrungsmöbel herunterkommt.“ Er plädiert für mehr Gelassenheit: „Ja, es gibt unterschiedliche Weltanschauungen, aber es gibt auch Argumente. Was außerhalb des Gerichtssaals in einer allemal polarisierten Gesellschaft auf rechts gegen links, auf Trump-Richter gegen Woke-Richter verknappt wird, verdient mehr Aufmerksamkeit, weil nicht nur der US-Gesellschaft, sondern auch ihren demokratischen Geschwistern in Europa in Zeiten des Populismus die Zwischentöne ausgehen. Die Argumente allemal.“
- Russische Medien: Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung bietet Tamina Kutscher eine Analyse der russischen Medienlandschaften. Sie beschreibt die Beziehungen zwischen Staatsfernsehen, Polit-Talkshows und – soweit möglich – der Meinungsbildung in der russischen Bevölkerung. Journalismus wird als eine Institution zur Unterstützung der Regierung verstanden. Andererseits gibt es auch sehr differenziert argumentierende freie Medien, die allerdings inzwischen nicht mehr aus Russland, sondern aus dem Ausland berichten und dies in der Regel auch in englischer und deutscher Sprache. Eine unabhängige Informationsquelle ist nach wie vor youtube, das in Russland (noch) nicht gesperrt ist. Youtube ist allerdings ebenso ambivalent wie Telegram. Oppositionelle und die Propaganda der russischen Regierung unterstützende Beiträge sind dort gleichermaßen zu finden. Tamina Kutscher beschreibt ebenso die Schikanen, unter denen ein unabhängiger Journalismus in Russland zu leiden hat, beispielsweise durch die Einstufung als „ausländischer Agent“. Fazit: es gibt Wege, die staatliche russische Propaganda zu umgehen, doch stehen diese Wege bei Weitem nicht allen Bürger*innen des Landes zur Verfügung. Technisches Know-How ist ebenso erforderlich wie Mut und Risikobereitschaft. Weitere Informationen zum Verhältnis von Information und Desinformation in der Mediathek der Bundeszentrale.
- Cultural Appropriation – bayerische Version: Die Well-Brüder, Gerhard Polt und die Toten Hosen bereiten eine gemeinsame Tour vor. In ihrem „Trainingslager“ am Schliersee hat sie die Süddeutsche Zeitung besucht. Campino trug eine Lederhose. Cultural Appropriation? Viel Spaß beim Lesen des Interviews, das unter anderem in dem wunderbaren Appell gipfelt: „Punks an die Regierung!“ Und dann gibt es da noch ein paar Sätze zum fehlenden Ironieverständnis heutigen Publikums, wie war das noch mit Mai Ling und Üzülü? Geht das heute noch im Kabarett?
Bei allen aktuellen Unwirtlichkeiten und Unwägbarkeiten wünsche ich Ihnen einen angenehmen Sommer, in dem Sie die Muße finden, sich vom ein oder anderen Buch, Film oder Feature, von Fotografien, Skulpturen, Bildender Kunst, vielleicht auch von mancher Lektüre und manchen Bildern im Demokratischen Salon inspirieren und irritieren zu lassen.
Den nächsten Newsletter des Demokratischen Salons erhalten sie in etwa vier Wochen.
Bis dahin verbleibe ich mit herzlichen Grüßen
Ihr Norbert Reichel
(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 3. und 14. Juli 2023.)
P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitten wir um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.