Liebe Freund:innen des Demokratischen Salons,
der Newsletter des Demokratischen Salons für Oktober 2024 erscheint kurze Zeit nach den Jahrestagen von drei Oktober-Ereignissen:
- Ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023, den die Antilopen-Gang in ihrem Rap „Oktober in Europa“ Mia Schem ließ sich nach ihrer Befreiung: „Wir werden wieder tanzen“ auf ihren Arm tätowieren. Ist ein Ende dieses längsten Tages absehbar? Nach wie vor gilt: „Bring Them Home Now!“
- Fünf Jahre nach dem 9. Oktober 2019, dem Tag des mörderischen Angriffs auf die Synagoge von Halle. Die taz dokumentierte ein Gespräch von zwei Überlebenden: Valentin Lutset, der damals in der Synagoge betete, und Ismet Tekin, der mit seinem Bruder im Kiez-Döner arbeitete und dort jetzt das Tekiez.
- 35 Jahre nach dem 9. Oktober 1989, der Tag, der die Friedliche Revolution in der DDR möglich machte, weil die DDR-Führung eben nicht – wie wohl zuvor geplant – schießen ließ. Frank Richter und Detlef Pappermann standen auf verschiedenen Seiten, im Tagesspiegel sprachen sie über diese historischen Tage.
Themen der neuen Texte im Demokratischen Salon sind jüdische Stimmen zum 7. Oktober, die pluralistische Demokratie und ihre Freunde, Aspekte einer liberalen Ethik, die Ostdeutschen als Subjekt der Friedlichen Revolution, die DDR und die Migration, die documenta und die DDR, Realitätsverluste in der deutschen Friedensbewegung, Künstliche Intelligenz in der Literatur sowie – ganz utopisch – Solarpunk.
Das Editorial analysiert unter dem Titel „Demokratischer Pop – Von Smartphones, Dorfkneipen und Teppichstangen“ Möglichkeiten einer neuen Demokratiekultur, in der Demokratie wieder Spaß macht. Wir brauchen eine Politik der Begegnung.
Nach den Kurzvorstellungen der neuen Texte lesen Sie Hinweise auf Veranstaltungen unter Beteiligung des Demokratischen Salons sowie zum Besuch weiterer Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe.
Unter den Leseempfehlungen und Hintergrundinformationen finden Sie – einfach zu findenüber die Sprungmarken – Informationen über die Szenarien von „Neue Horizonte 2045“, Bürgerschaftliches Engagement, Debatten zur Kunstfreiheit, das deutsch-polnische Barometer, Paradoxa der Migration, amerikanische Studien über die Ablehnung des Wohlfahrtstaats durch arme Menschen, Einstellungen in der Polizei, die Verleihung des Deutschen Schulpreises, Probleme des Startchancenprogramms, den neuen Antidiskriminierungsbericht, die Jenaer Erklärung gegen Rassismus, erfolgreiche Erprobungen der Vier-Tage-Woche, Italien, Menschenrechte im Iran, Frauen im Widerstand gegen die Nazis, jugendliche Terroristen, russische Geschichtspolitik, Bahnhöfe in Deutschland sowie zu drei weiteren Übersetzungen aus dem Demokratischen Salon ins Ukrainische.
Die neuen Texte im Demokratischen Salon:
- Der 7. Oktober 2023 war eine „Ruptur“ (Marina Chernivsky). Der Essay „Wir werden wieder tanzen – werden wir?“ stellt drei Bücher vor, in denen jüdische Stimmen zu Wort kommen, aus Israel, aus Deutschland, aus Österreich. Herausgeber:innen sind Oded Wolkstein und Stella Leder, Gisela Dachs und Dana von Suffrin. 36 Autor:innen versuchen, mit ihrer Sprache Perspektiven zu ergründen und die Hoffnung zu schaffen. Sie fragen, welche Schutzräume Literatur ermöglichen könnte, mit fiktiven, philosophischen, politischen Texten. Zwischen Zweifel und Verzweiflung liegen Welten. (Rubriken: Levantinische Aussichten, Jüdischsein, Antisemitismus)
- Till van Rahden begründet in dem Gespräch „Die pluralistische Demokratie und ihre Freunde“, warum liberale Demokratie gleichermaßen „Herrschaftsform“ und „Lebensform“ Die Geschichte der liberalen Demokratie wurde maßgeblich von jüdischen Intellektuellen der Weimarer Zeit geprägt, mit nachhaltigem Einfluss auf amerikanische Debatten. Migration, Vielheit, Multikulturalismus, kultureller Pluralismus werden in der amerikanischen und in der europäischen Debatte unterschiedlich belegt, Sozialstaat hat nicht nur eine wirtschaftliche Dimension, sondern auch eine Dimension im sozialen Miteinander. Demokratie muss im Alltag erfahrbar werden. (Rubrik: Liberale Demokratie)
- Jenny Joy Schumann befasst sich aus juristischer Sicht mit ethischen Dilemmasituationen. Sie plädiert für eine „Liberale Ethik“ und eine „Gesellschaft der Experimentierfreudigen“. Ausgehend von der Frage, wann eine Künstliche Intelligenz eigene Rechte, möglicherweise analog zu den Menschenrechten beanspruchen könnte, diskutiert sie die ethisch-juristischen Implikationen der Sterbehilfe, der Triage, des Trolley-Problems, auch dagegen eher banal erscheinender Debatten wie die über ein Tempo-Limit. Es gibt keine einfachen Lösungen, Liberalismus hat je nach Schwerpunkten und Perspektiven ein breites Spektrum. (Rubrik: Liberale Demokratie, Science Fiction)
- Markus Meckel belegt: „Die Ostdeutschen waren Subjekt, nicht Objekt“ und fordert ein anderes Narrativ zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Er stellt fest, dass in Gedenkreden kaum noch zwischen dem 3. Oktober und dem 9. November unterschieden wird. Die Demokratie war – wie in Polen oder Ungarn – „eine gewaltfreie Selbst-Demokratisierung“ und nicht „Wohltat des Westens“, die deutsche Einheit war eine selbstbewusst „verhandelte Einheit“. Markus Meckel dokumentiert die Verfassungsdebatte der Jahre 1989/1990 und plädiert dafür, den Art. 146 Grundgesetz zu streichen und das Grundgesetz zur „dauerhaften Verfassung“ Deutschlands zu erklären. (Rubriken: Liberale Demokratie, DDR)
- Almuth Berger, Ausländerbeauftragte der DDR von Januar bis Anfang Oktober 1990, anschließend im Land Brandenburg, erzählt in „Die DDR und die Migration“ eine wichtige, aber viel zu wenig beachtete Geschichte. Ihr Pfarrhaus war schon lange Zeit vor 1989 eine wichtige Anlaufstelle für „Vertragsarbeiter“. Bis heute demonstrieren „Vertragsarbeiter“ in Maputo (Mosambik), damit sie das Geld erhalten, dass ihnen die DDR vorenthalten hat. Bleibende Zeichen des Engagements von Almuth Berger sind die RAA’en in Brandenburg sowie die mobilen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus. Wichtige Unterstützung beim Aufbau leistete die Freudenbergstiftung. (Rubriken: Migration, DDR)
- Alexia Pooth stellt in „Die documenta und die DDR“ ihr Buch „Exhibition Politics“ vor, Ergebnis einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Die DDR wurde zwei Mal zur documenta eingeladen, 1972 antwortete sie nicht, 1977 nahm sie teil. Die Art und Weise, wie DDR-Künstler:innen im Westen und die documenta in der DDR rezipiert wurden, ist ein Lehrbeispiel der deutschen Teilungsgeschichte. Im Westen war man kaum an DDR-Kunst interessiert, in der DDR befürchtete man, im Westen vorgeführt zu werden. Wer genauer hinschaut, entdeckt in der DDR-Kunst großen Nuancenreichtum. Alexia Pooth verweist auf den nach wie vor hohen Forschungsbedarf. (Rubriken: Kultur, DDR)
- Fritz Heidorn präsentiert in seinem Essay „Magie – Technik – Evolution“ eine kurze Geschichte der Künstlichen Intelligenz in der deutschen und US-amerikanischen Science-Fiction-Literatur. Er bezieht die literarischen Werke auf wissenschaftliche Entwicklungen, nennt mehrere Meilensteine der Debatte um intelligente Maschinen wie die Entwicklung von LaMDA und ELIZA. Er diskutiert Fragen der Roboterrechte, eines möglichen autonomen Bewusstseins, des Verhältnisses von Mündigkeit und Unmündigkeit im Sinne der Kant’schen Aufklärung sowie Perspektiven einer post- beziehungsweise transhumanistischen Evolution. (Rubrik: Science Fiction)
- Alessandra Reß bietet in „Solarpunk – Genre – Bewegung – Vision“ einen Überblick über die drei Phasen dieser Bewegung: „Der Mensch in Einklang mit Technik und Natur“. Künstlerische und technologische Visionen vermischen sich, inspirieren sich gegenseitig und schaffen Bilder einer utopischen Zukunft. Sie belegt, was Solarpunk als weltweite Bewegung leistet, die den Klimaschutz sichert, menschenwürdiges Leben ermöglicht und auch zur Dekolonialisierung beitragen könnte, beispielsweise in Brasilien. Das Manifest des Solarpunks, Romane, Videos und Conventions sorgen für Austausch und Verbreitung. (Rubriken: Science Fiction, Treibhäuser)
- Norbert Reichel wendet sich in seinem Essay „Identitärer Frieden“ gegen „Realitätsverluste in der deutschen Friedensbewegung“. Diese ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, Instrument einer einzigen Politikerin, sich selbst zu promoten. Die Bewegung überlässt sich magisch-identitären Fantasien, verklärt Putin und Hamas, ignoriert die Opfer des Terrors, will nicht sehen, wie Putin Georgien, Moldawien, Armenien und andere schikaniert. Geschichte wird verdreht, Opfer werden zu Tätern, es regiert Orwell’scher „Newspeak“. Der Essay schließt mit einem Blick in Heinrich Bölls Parabel „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. (Rubriken: Europa, Weltweite Entwicklungen, Opfer und Täter*innen)
Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:
- „We will dance again“ – das ließ sich Mia Schem (21) nach ihrer Befreiung aus der Hamas-Gefangenschaft auf den Arm tätowieren. Am 8. Oktober 2024 fand in der Synagogengemeinde Köln in der Roonstraße 50 die Premiere der Szenischen Collage „Wir werden wieder tanzen“ statt. Sophie Brüss, Jürgen Reinecke und Norbert Reichel haben ein etwa 70minütiges Programm entworfen, mit Songs von Leonard Cohen und der Antilopen Gang, Gedichten von Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler, Selma Meerbaum-Eisinger und anderen, eigens für die Veranstaltung geschriebenen Szenen sowie Testimonials von (nicht nur) jüdischen Autor:innen. Träger ist der Theater- und Musikverein NRW e.V. Die nächsten Termine: 14. November 2024, 19 Uhr, im Städtischen Gymnasium Hennef, Fritz-Jacobi-Str. 18, 53773 Hennef, am 21. November 2024, 10.30 Uhr, im Elisabeth-von-der-Pfalz-Berufskolleg Herford, Löhrstraße 2, 53773 Herford, am 13. Dezember 2024, 20 Uhr, im Ratshaus Bensberg, Ratssaal, Wilhelm-Wagener-Platz, 54129 Bergisch Gladbach, am 12. Januar 2025, 11 Uhr, in der Stadtbibliothek Düsseldorf, Konrad-Adenauer-Platz 1, 40210 Düsseldorf, am 15. Januar 2024 im Jüdischen Museum in Dorsten. Weitere Termine folgen. Die Veranstaltungsreihe wird von der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten gefördert.
- Unter Verschluss – Die Dritte Literatur des Ostens: Nach dem Erfolg der szenischen Lesung „Unter Verschluss“ im Oktober 2022 in Bonn gibt es anlässlich des 35. Jahrestags des Mauerfalls eine weitere Veranstaltung am 5. November 2024, 18.30 Uhr in Düsseldorf in der Zentralbibliothek am KAP 1 (Konrad-Adenauer-Platz 1) mit Ines Geipel. Ines Geipel stellt die im März 2024 im Lilienfeld Verlag erschienene erweiterte Neuauflage von „Gesperrte Ablage“ vor, Axel von Ernst den Verlag und sein Angebot zur Erinnerungskultur. Texte mehrerer Autor:innen, beispielsweise von Edeltraud Eckert oder Franziska Groszer (die, da erkrankt, leider nicht selbst teilnehmen kann), werden gelesen. Partner sind die Düsseldorfer Stadtbibliotheken, Respekt und Mut sowie die Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Die Veranstaltung wird von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Hier das Programm und weitere Informationen.
- KlimaFiktionen 2024: Das Festival findet am 16. November 2024, von 13.00 bis 19.00 Uhr im Theater Rottstraße 5 in Bochum unter dem Titel „Erzählte Zukünfte“ statt. Der Demokratische Salon veröffentlicht seit Februar 2024 Texte rund um das Festival und stellt die Akteur:innen vor, im Februar 2024 Aiki Mira mit dem Manifest „Post-Cli-Fi“, in den Monaten März, April und Mai mit dem dreiteiligen Essay „Der lange Weg der Öko-Science Fiction“ von Hans Frey. Teilnehmen werden Theresa Hannig, Dominik Irtenkauf, Don Kringel, Aiki Mira, Wolfgang Neuhaus, Uwe Post, Alessandra Reß, Michael Wehren und Zara Zerbe. Norbert Reichel wird die Lesungen von Theresa Hannig, Aiki Mira und Zara Zerbe moderieren (Interviews mit allen dreien wurden bereits in der Rubrik „Science Fiction“ des Demokratischen Salons veröffentlicht. Weitere Informationen und das Programm finden Sie auf der Internetseite des Kongresses. Der Eintritt ist frei.
Veranstaltungen, Ausstellungen, Wettbewerbe:
- Demokratie in Bewegung: Die Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit bietet, kuratiert von Martin Reif, zwölf Veranstaltungen zum Thema Protest an. Mit Zeitzeugen, Journalist:innen sowie Wissenschaftler:innen organisiert sie eine Zeitreise von der 68er Bewegung bis zum Stadionprotest. Eine Anmeldung ist möglich unter der Rufnummer 030/2201 2634 oder über die e-mail service@freiheit.org, alle Veranstaltungen jeweils 18 – 19 Uhr:
- Folge 9 am 5. November 2024 Extinction Rebellion (2018) & Letzte Generation (2021)
- Folge 10 am 12. November 2024 Protest gegen Rechtsextremismus (2024)
- Folge 11 am 19. November 2024 Stadionprotest (2024)
Alle Veranstaltungen können Sie auf dem youtube-Kanal der Stiftung zu jeder beliebigen Zeit nachverfolgen.
- Kunst in der NS-Diktatur: Am 14. November 2024, 18 Uhr, wird im Solinger Zentrum für verfolgte Künste die Ausstellung „Solinger Künstler in der Kunstregion Rheinland 1933–1945. Moorsoldaten? Eine Spurensuche“ eröffnet. Christian Fuhrmeister vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München wird in die Ausstellung einführen. Gezeigt werden über 100 Werke von Solinger Künstler:innen aus der Sammlung Heinz-Willi Müller sowie aus privatem Besitz, unter anderem Werke von Georg Meistermann, Willi Deutzmann, Harry Stratmann, August Preuße und Ernst Walsken, die sich am Ende der Weimarer Republik auf den Weg gemacht hatten, ihren eigenen künstlerischen Ausdruck zu finden und die Kunst zum Beruf zu machen. Ergänzt wird dies durch historische Zeitungsartikel. Der Titel der Ausstellung geht auf das Lied der Moorsoldaten zurück, das 1933 im Konzentrationslager Esterwegen unter Beteiligung inhaftierter Mitglieder der Solinger Arbeiterchöre uraufgeführt wurde. Es wurde weltweit zu einer Hymne des Widerstands. Die Ausstellung fragt, wie sich die Solinger Künstler verhielten. Waren sie am Widerstand beteiligt, arrangierten sie sich oder profitierten sie vielleicht sogar? Die Ausstellung ist bis zum 9. Februar 2025 zu sehen.
- „Versöhnung“: Das Bonner Zentrum für Versöhnungsforschung unter Leitung von Hans-Georg Soeffner lädt gemeinsam mit dem Theater Bonn am 24. und 25. November 2024 ein zur Veranstaltung „Versöhnung – eine Utopie?“: „Dozenten, Dozentinnen und Assoziierte des Zentrums für Versöhnungsforschungen geben in regelmäßigen Abständen einen Einblick in ihre Forschungsfelder. Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles begleiten die Vorträge mit literarischen und szenischen Beiträgen.“ Karten können auch in Kombination mit dem Theaterstück „Fremd“ nach dem Buch von Michel Friedman am 22. November 2024 erworben werden. Im WDR äußerte sich Esther Gardei, die Geschäftsführerin des Zentrums für Versöhnungsforschung, zu Herausforderungen und Grenzen der Versöhnungsforschung.
- Velvet Terrorism: Pussy Riot’s Russia: Diese Ausstellung ist bis zum 2. Februar 2025 in München im Haus der Kunst zu sehen. Sie ist die erste Ausstellung, die sich umfassend mit der Gruppe und ihrer „Kunst des Widerstands“ Zu sehen sind Texte und Videos, angeboten werden Workshops und Führungen. Maria Alyokhina stellt ihr Buch „Riot Days“ vor, in dem sie unter anderem ihre Zeit im russischen Straflager beschreibt. Die Botschaft: „Aufruhr ist immer eine Frage der Schönheit.“
- Ostdeutsche Demokraten in der Nachkriegszeit: Unter dem Titel „…denen mitzuwirken versagt war“ bietet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine zum Preis von 40 EUR erwerbbare Plakatausstellung, die all den Demokratinnen und Demokraten gewidmet ist, die an der Erarbeitung des Grundgesetzes nicht beteiligt werden konnten, weil sie auf dem Gebiet der SBZ beziehungsweise DDR lebten. Kuratiert wurde die Ausstellung von Anna Kaminsky und Alexander Frese unter Mitarbeit von Sara Brand und Carlotta Strauch. Die Ausstellung umfasst 20 Tafeln im Format DIN A 1, darunter 15 biografische Tafeln, die jeweils zwei Personen porträtieren. Jede Tafel enthält einen QR-Code, der auf Begleitmaterialien im Internet verweist. Wer im Köln-Bonner-Raum interessiert ist, kann sich an den Demokratischen Salon
Leseempfehlungen und Hintergrundinformationen:
- Neue Horizonte: Das Projekt „Neue Horizonte 2045 – Missionen für Deutschland“ hat seine Ergebnisse veröffentlicht. In der Studie wurden sieben alternative Zukunftsbilder entwickelt. Daraus abgeleitet wurden Handlungsempfehlungen für die Politik. Zentrale Fragen lauteten: „Wie sieht ein klimaneutrales Deutschland aus? Wie eine sozial gerechte Zukunft? Was für ein Land wollen wir 2045 sein?“ Beteiligt waren 50 Zukunftsforscher:innen. Für den Szenarioprozess galten drei Grundprinzipien: „Unabhängigkeit, Zukunftsoffenheit und Beteiligung.“
- Deutsch-polnische Beziehungen: Am 24. Oktober 2024 stellte das Deutsche Polen-Institut in den Räumen des Berliner Tagesspiegels das diesjährige deutsch-polnische Barometer Befragt wurden jeweils 1.000 Pol:innen und Deutsche. Agnieszka Łada-Konefał und Jacek Kucharczyk fassten die Ergebnisse im Tagesspiegel zusammen: „Deutschland und Polen – Das schwierige Verhältnis zum Nachbarn“. Aus polnischer Sicht spielt nach wie vor die Geschichte eine wichtige Rolle, während Polen aus deutscher Sicht vor allem als Tourismusziel gesehen wird. Das Thema der Anerkennung und der „Wiedergutmachung“ des von Deutschen über Polen gebrachten Leids prägt nach wie vor die polnischen Debatten. Der Krieg um die Ukraine und die anti-deutsche Rhetorik der PiS bewirken durchgehend mehr Skepsis gegenüber der deutschen Politik. So hat sich aus polnischer Sicht die Zusammenarbeit verschlechtert, die deutsche Europapolitik sei nicht konstruktiv genug, vor allem würden polnische Interessen zu wenig berücksichtigt. Die Pol:innen sind nicht anti-deutsch, wohl aber kritischer geworden. Problematisch sind die deutsche Unwissenheit und Ignoranz gegenüber Polen in Deutschland, auch in der Politik. Den meisten Deutschen ist auch nicht klar, wie modern Polen ist. Das Thema „Modern(e)“ ist auch das Jahresthema des vom Deutschen Polen-Institut herausgegebenen Jahrbuchs Polen 2024).
- Paradoxa der Migration: Für die Süddeutsche Zeitung sprach Thomas Steinfeld mit dem niederländischen Migrationsforscher Hein de Haas. Sein Buch „How Migration Really Works“ wurde in 13 Sprachen übersetzt, deutscher Titel: „Migration: 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ (erschienen im S. Fischer Verlag). Hein de Haas spricht auch über Reaktionen auf seine Thesen: „Wenn man die Einwanderung drastisch reduzieren wolle, gebe es nur eine Möglichkeit, sagte ich. Man müsse die Wirtschaft ruinieren. Die Leute fanden den Satz lustig. Dabei ist er wahr: Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist mit Abstand die wichtigste Triebkraft der Einwanderung.“ Er verwies auch darauf, dass die gängigen Rezepte der Politik nur Symptome bekämpfen, nicht jedoch die Ursachen, „insbesondere der Arbeitskräftebedarf in den Zielländern und auch die Gewalt in den Herkunftsländern“. Gerade Großbritannien ist ein Beispiel für kontraproduktive Wirkungen von Abschottungsmaßnahmen. „Eines der Ziele des Brexit bestand darin, die Einwanderung zu verringern. Das Gegenteil trat ein: Die Nettozuwanderung nach Großbritannien hat sich in den Jahren nach dem Brexit nahezu vervierfacht. Die freie Migration aus Osteuropa wurde durch den Brexit zwar unterbrochen, der Arbeitskräftemangel aber blieb bestehen.“ Zu den Paradoxien gehört auch die gängige Akzeptanz illegaler Migration in der Wirtschaft. Migrant:innen finanzieren wirtschaftliche Entwicklung und soziale Absicherung in ihren Herkunftsländern mit erheblich höheren Mitteln als staatliche Entwicklungshilfeprogramme.
- Arme Menschen gegen den Wohlfahrtsstaat: Studien belegen die hohe Akzeptanz von Welfare / Wohlfahrt in den USA. Martin Gilles hat allerdings bereits 1999 in einer Studie festgestellt, dass diese hohe Zustimmung schwindet, wenn Bürger:innen den Eindruck haben, dass vor allem Schwarze Menschen profitieren. Eine weitere Studie von Reverend William J. Barber II und Jonathan Wilson Hartgrove (White Poverty – How Exposing Myths About Race and Class Can Reconstruct American Democracy, Liveright, 2024) zum Thema Immigration bestätigte dieses Ergebnis, das Matthew Desmond unter dem Titel „A Prophet for the Poor“ in der New York Review of Books vorstellte: „Whether they have bought into a kind of zero-sum thinking whereby nonwhite people are lazy and a drain on society, many poor white Americans continue to endorse policy agendas that directly harm them.” Eine plausible Erklärung für die Unterstützung von Politikern wie Trump und Milei durch Menschen in prekären Verhältnissen, die sich sicherlich auch auf die deutschen Debatten über Bürgergeld, Mindestlohn und Immigration übertragen ließe.
- Einstellungen in der Polizei: Die Ergebnisse der MEGAVO-Studie liegen inzwischen vor. Anlass für eine kritische Würdigung. Janina Bauer sprach für die ZEIT mit Rafael Behr, der als Dozent an der Akademie der Polizei Hamburg Tausende Polizist:innen ausgebildet hat. Er ist jetzt im Ruhestand und begründet seine Erfahrung: „Gewalt gegen die Polizei wird hysterisch skandalisiert“. Rafael Behr beschreibt Veränderungen in der Ausbildung und in den Einstellungen seit den 1980er Jahren, hin zu „Empathie, Mitarbeiterführung, Mitbestimmung“ sowie „mehr Verantwortung in die Fläche“, weg von starren Hierarchien. Er befürchtet allerdings, dass die Polizei „wieder so autoritär wird, wie ich sie in den Siebzigern kennenlernte“. Bereits das Festhalten an einem Tisch werde „heute als Gewalt gesehen“, die Verhältnismäßigkeit in einer Lagebeurteilung schwinde. Selbstkritik sei in der Polizei wenig verbreitet, dies liege „an der politischen Rahmung von Polizei“. Es helfe nicht, bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass man hinter der Polizei stehe, und Übergriffe von Polizist:innen immer nur als Einzelfälle hinzustellen: „Das wirkt sich auf unsere Studierenden aus. Es prägt ihr Menschenbild. Was Ähnliches passiert gerade mit der Letzten Generation: Die Gruppe wird für ihren Protest stark kriminalisiert. Andere, die Bauern mit ihren Traktoren zum Beispiel, hofiert man noch und lässt sie stundenlang gewähren. Linker Protest wurde schon immer härter behandelt als rechter. Die ‚anständigen Bürger‘ haben da einen besseren Platz, weil sie unauffällig sind. ‚Die Linken‘ sitzen dagegen auf der Strafbank. Ebenso wie junge Männer mit Migrationsbiografie.“ Erforderlich sei eine „Fehlerkultur“ in der Polizei, „Kontrolle“ und „Misstrauen“ seien ein „Grunderfordernis der Demokratie“: Sein Appell an junge Polizist:innen: „Seid kritisch mit euch und eurem Beruf. Teilt die Welt nicht nur in Gut und Böse ein. Lasst euch von euren Funktionären nicht ins Bockshorn jagen. Glaubt keinem, der sagt: Polizisten sind Opfer, und es wird immer schlimmer. Den jungen Leuten heute zu suggerieren, es werde alles immer schlimmer, halte ich für verantwortungslos.“
- Bürgerschaftliches Engagement: Die neue Ausgabe des Magazins der „Aktiven Bürgerschaft, „bürgerAktiv“ stellt Bürgerstiftungen in Deutschland vor. Bürgerstiftungen fördern Partizipation, Demokratie und Nachhaltigkeit. Die Ausgabe enthält unter anderem konkrete Beispiele aus Leipzig, Ostfalen und aus Würzburg, auch ein Interview mit Sönke Wortmann, der sich in der BürgerStiftung Düsseldorf engagiert. Vorgestellt werden erfolgreiche Beispiele wie Kinderbeiräte und Stiftungsfonds. Der Geschäftsführer Stefan Nährlich und der stellvertretende Projektleiter Jonas Rugenstein nennen jedoch auch Ungleichgewichte. Es gibt 426 Bürgerstiftungen in Deutschland, doch nicht alle sind gleichermaßen bekannt. Zwei Drittel der Stiftungen nutzen das Instrument des Stiftungsfonds noch nicht, obwohl dieses sie unabhängiger und wirkungsvoller agieren ließe. Oft fehlt es an ehrenamtlichem Personal für die Vorstände. „Die Stiftung Aktive Bürgerschaft unterstützt die Bürgerstiftungsgremien daher mit gezielten Weiterbildungen, Beratungen und Praxishilfen beim Einsatz von Stiftungsfonds. Einerseits, weil der kontinuierliche Aufbau des Stiftungskapitals zum Wesen einer Bürgerstiftung gehört. Andererseits, um öffentliche Aufmerksamkeit von Spendenkampagnen wie aktuell in Norddeutschland für die Gewinnung von Zustiftungen nutzen zu können.“
- Deutscher Schulpreis: Der Preis wurde in diesem Jahr an eine Förderschule, die Bonner Siebengebirgsschule, verliehen. Martin Spiewak sprach für die ZEIT mit dem Schulleiter Achim Bäumer. Dessen Konzept orientiert sich nicht an den üblichen Rhythmen des Schulunterrichts, sondern an den Rhythmen der Kinder, die mal schneller, mal langsamer, mal intensiver, mal weniger intensiv an einem Thema oder einer konkreten Aufgabe arbeiten. „Wir haben einen hohen Migrantenanteil und liegen in einem sozialen Brennpunkt. Viele Kinder haben auf anderen Schulen negative Erfahrungen gemacht. Die sind es gewohnt, sich in eine Klasse zu setzen, abzuschalten oder zu stören, vielleicht sogar in der Hoffnung, rausgeschmissen zu werden. Doch das geht bei uns nicht. Wir trainieren die Eigenständigkeit von Anfang an, wir sind da sehr hartnäckig und nervig. Und wir gehen abgestuft vor.“ Die Lehrkräfte begleiten die Schüler:innen, es gibt keine festen Zeiten, kein Lernen im Klassenverband, gleichwohl „Leitplanken“. Alle Schüler:innen haben ihren individuellen Lehrplan. Sie schaffen aufgrund dieser flexiblen Vorbereitung die staatlichen Abschlüsse, einige sogar den Wechsel auf ein Gymnasium. Das Konzept lässt sich mit der Dalton-Pädagogik vergleichen oder mit dem Konzept des Bildungshauses Bad Aibling, das im Demokratischen Salon unter dem Titel „Paradies für Glückspilze“ vorgestellt worden ist. Warum die Kultusministerien der 16 Länder solche guten Erfahrungen nicht zur Regel machen? Meine These: Mangelndes Zutrauen in das, was Kinder und ihre Lehrer:innen können. Aber das ist nicht nur ein Thema in der Politik!
- Startchancenprogramm: Dieses Bundesprogramm soll vielen Schulen helfen, Kinder und Jugendliche in prekären Lebenslagen zu unterstützen. Eine Correctiv-Recherche hat jedoch ergeben, dass sich dies nicht immer so realisieren lässt wie geplant. Arme Kommunen können den erforderlichen Eigenanteil nicht aufbringen, werden von den Ländern auch nicht unterstützt. Correctiv nennt Beispiele aus Herne und Kiel. Eine Länderumfrage ergab, dass sechs Länder die Kommunen definitiv nicht unterstützen, vier Länder antworteten nicht, zwei Länder übernehmen den Eigenbeitrag der Kommunen nur teilweise. Berlin und Hamburg (Stadtstaaten!), Brandenburg und das Saarland geben an, dass sie den gesamten Eigenanteil übernähmen. Zu befürchten sind Mitnahmeeffekte, wenn Länder oder Kommunen bereits vorhandene Förderungen anrechnen und damit zusätzliche Leistungen verhindern. Nordrhein-Westfalen verweist beispielsweise auf das Gemeindefinanzierungsgesetz, das angesichts der zahlreichen Aufgaben jedoch hoffnungslos überbucht ist.
- Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Der fünfte gemeinsame Bericht der Antidiskriminierungsstelle und der Beauftragten von Bundestag und Bundesregierung liegt vor. Ernüchternde Ergebnisse: Die Rechtslage in Deutschland bleibt nach wie vor hinter EU-Standards zurück. Der Arbeitsplatz ist für viele ebenso wenig ein sicherer Ort wie der öffentliche Bereich und die Nachbarschaft. Es gibt Diskriminierungen gegenüber Eltern, vor allem Frauen, die nach der Elternzeit in ihren Beruf zurückkehren wollen. Zugenommen hat Altersdiskriminierung. Ein „Hochrisikobereich für rassistische Diskriminierung“ ist die Wohnungssuche. Der Zugang zum Gesundheitswesen ist für Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten sowie für Menschen, die (noch) nicht ausreichend Deutsch sprechen, schwierig. In den Schulen gibt es kaum Schutz vor Diskriminierung. Auch Lehrkräfte sind oft Täter:innen. Die finanzielle Ausstattung der Beratungsstellen ist unzureichend.
- Jenaer Erklärung gegen Rassismus: Die Zeitschrift „Politik & Kultur“ stellt in der Oktoberausgabe 2024 in einem Beitrag des Biologiedidaktikers Uwe Hoßfeld die Jenaer Erklärung gegen Rassismus vor: „Die Mär von den Menschenrassen“. Beschlossen wurde die Erklärung auf der 112. Tagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft im September 2019 in Jena. Sie formuliert unmissverständlich: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ Sie beruft sich auf Ergebnisse der Archäogenetik: „Aus genetischer Sicht sind wir alle Afrikaner (…). Die „helle Haut der Europäer ist erst wenige tausend Jahre alt und aus Anatolien und Zentralasien eingewandert, als Anpassung an den Ackerbau.“ Anders gesagt: Unterschiede in der Hautfarbe haben nichts mit unterschiedlichen „Rassen“ zu tun, wir sollten anerkennen, „dass es der Rassismus ist, der Rassen geschaffen hat“. In dieser Hinsicht ist es mehr als ein Armutszeugnis (man müsste eigentlich von Politikversagen sprechen), dass es der Bundestag noch nicht geschafft hat, den Begriff der „Rasse“ aus Artikel 3 Grundgesetz zu streichen. Man kann zwar „rassistisch“ diskriminiert werden, nicht jedoch wegen der „Rasse“. Es wäre eigentlich eine einfache Änderung, die jedoch offenbar scheitert, weil manche immer noch meinen, in – so Uwe Hoßfeld – „Typologien“ denken zu müssen.
- Vier-Tage-Woche: Erste Ergebnisse eines Versuchs in 45 Betrieben liegen vor. Clemens Haug berichtete für den MDR (die Information erhielt ich über CORRECTIV), David Gutensohn für die ZEIT. Lebenszufriedenheit und Produktivität seien gestiegen. Dazu habe auch die geringere Zahl von Meetings geführt, die offenbar schon vorher eigentlich überflüssig gewesen wären. Es gab keine Umsatzverluste. Es ist anzunehmen, dass Betriebe, die eine Vier-Tage-Woche anbieten, mehr Bewerbungen erhalten, gerade auch wegen der Erleichterungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 70 Prozent der Teilnehmenden wollen die Vier-Tage-Woche fortsetzen. Ähnliche Ergebnisse gab es bei einem Versuch in Großbritannien.
- Italien – Land der Widersprüche: Italien war bereits mehrfach Gegenstand von Analysen im Demokratischen Salon, zuletzt in dem Essay „Der gute Mensch von Rom“ von Gerd Pütz. Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ widmete ihre Ausgabe vom 28. September 2024 dem Land. Sebastian Heinrich titelt: „Rasender Stillstand – Italien im Herbst 2024“ und beschreibt die Pläne des Rechtsbündnisses, den Staat umzubauen, sieht aber auch die Hindernisse, die nicht alle überwunden werden dürften. Manche Pläne von Giorgia Meloni erinnern an die gescheiterten Versuche von Matteo Renzi und Silvio Berlusconi. Andererseits ist die Beschäftigungsquote in Italien so hoch wie nie zuvor. Ein Symptom der Weltoffenheit des Landes ist die Volleyballmannschaft, in der Italienerinnen „mit nigerianischen, ivorischen, russischen und deutschen Wurzeln“ bei den Olympischen Spielen Gold gewannen. „Als Roberto Vannacci, Europawahl Spitzenkandidat der rechtsnationalen Lega der Weltklasse-Volleyballerin und Schwarzen Italienerin Paola Egonu nach dem Sieg das Italienischsein absprechen wollte, erntete er scharfe Kritik, in bemerkenswerter Deutlichkeit auch von hochrangigen Politikern des Regierungslagers.“ Und dann legte Forza Italia einen Gesetzentwurf vor, mit dem Kindern aus Einwanderungsfamilien nach Abschluss ihrer Schulausbildung in Italien die Einbürgerung erleichtert werden sollte. Alexander Grasse stellt in seinem Beitrag „Stabil fragil?“ fest: „Sozioökonomische Themen, sozialer Status beziehungsweise Einkommenssituation“ bei der jüngsten Europawahl nicht entscheidend gewesen wären. Der „Rechtsruck“ werde vor allem von Oberschicht und oberer Mittelschicht getragen, entscheidend sei allerdings auch die „Marke Meloni“. Luca Barani beschreibt in „Italien und die Migration“ die Versuche der „Externalisierung“, nicht zuletzt die aktuelle Debatte um die Abwicklung der Asylverfahren in Albanien. Betroffen sind zwölf Menschen, ein römisches Gericht hat dies untersagt, Meloni widerspricht. Symbolpolitik? Oder was steckt dahinter? Italien bleibt ein Land der Widersprüche, in den Worten von Sebastian Heinrich: „Ach, Italien? Man kann den Satz auch als Frage stellen.“
- Italien und die Buchmesse: Über die italienische Literatur schreibt in der genannten Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Giulia Caminito, deren letzter Roman „L’Acqua del lago non è mai dolce“ unter dem Titel „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ 2022 im Wagenbach-Verlag Berlin erschien. Sie fragt: „Wo ist die Politik in der Literatur?“ „Was immer noch fehlt, ist politisches Denken, die Auseinandersetzung mit den politischen Systemen, mit den philosophischen Grundlagen der Politik. Was immer noch fehlt, ist die Fähigkeit, über Politik zu schreiben, nicht über die Tatsachen, sondern über die großen Ideen, die hehren Ideen, die alles andere umgreifen.“ Dies sei auch ein Versäumnis der „intellektuelle(n) Klasse“. Aber wie kann und sollte man in einer solchen Gemengelage schreiben? Eine Möglichkeit erkundet Donatella Di Pietrantonio in ihrem Roman „Die zerbrechliche Zeit“ (deutsche Ausgabe bei Antje Kunstmann, München, 2024). Birgit Schönau rezensierte für die ZEIT: „Sie spricht ihnen aus der Seele“. Thema ist „die Brüchigkeit der Familie, dieser angeblich noch immer stärksten italienischen Institution.“ Im Frühjahr wurde eine der Lesungen abgesagt, weil die Behörden „politische Propaganda“ befürchteten: „Kein „Wunder, dass die Meloni-Regierung die oppositionellen Schriftsteller fürchtet Die Pietrantonio spricht den Leuten aus der Seele. Die Politik höchstens aus ihrem Bauch.“
- Kunstfreiheit: Thema der Septemberausgabe 2024 von „Politik & Kultur“ war die Kunstfreiheit. Das Editorial schrieb Olaf Zimmermann. Er verweist auf Traditionen der Weimarer Verfassung, die sich auch im Grundgesetz wiederfinden. In der Verfassung der DDR war ursprünglich eine vergleichbare Formulierung zu finden, nicht mehr jedoch nach der Revision von 1968, die sich auf „Teilhabe am kulturellen Leben der Bürger“ beschränkte. Kontrovers diskutiert wird die Frage, wie weit Kunstfreiheit gehen dürfe, so Johann Hinrich Claussen zur „Geschichte der Blasphemien“, Thomas Salzmann zum Verhältnis von „Jugendgefährdung und Kunstfreiheit“. Natürlich darf die Debatte um eine Antisemitismusklausel nicht fehlen, Karin Prien argumentiert, dass es bei der Antisemitismusklausel bei Förderbescheiden in Schleswig-Holstein nicht um die Einschränkung von Kunst gehe, sondern nur darum, dass es kein öffentliches Geld für Antisemitismus und Diskriminierung geben dürfe. Die Frage, wie sich was rechtssicher als „antisemitisch“ markieren ließe, kann sie jedoch nicht beantworten. Stephan Lessenich befasst sich mit der „Logik des Boykotts“. „Wer Boykott sät, wird Boykott ernten. (…) Der Boykott ist die Bankrotterklärung der viel zitierten und oft beschworenen demokratischen Öffentlichkeit.“ Gilt dies auch für Antisemitismusklauseln? Möglicherweise ja, denn Kunstfreiheit wird unter dem Druck von Rechtsextremen – dazu Sven Scherz-Schade – bedroht. Dies geschieht nicht nur in Ungarn und Florida oder in der Slowakei, sondern auch in ostdeutschen Kommunen. Vor allem dort, „wo die AfD besonders starke politische Kraft geworden ist, stehen kleinere Theater und Spielstätten unter Druck“. Es reicht, öffentliche Mittel ein wenig zu reduzieren. Ein Mantra der AfD ist eine behauptete „Neutralitätspflicht“, die nirgendwo eine rechtliche Grundlage hat. Arne Ackermann und Boryano Rickum berichten von zunehmenden Protesten gegen Bibliotheken. Welche Bücher dürfen angeschafft werden, welche nicht? Und was zeigen Museen, was nicht? Dazu Sylvia Willkomm.
- Frauen im Widerstand: Die Erinnerung an die französische Résistance scheint sich – wie bei anderen Widerstandsbewegungen auch – in der Regel nur auf die Männer zu konzentrieren. Männer kämpften, Frauen waren allenfalls als Kurierinnen tätig. Jonas Engelmann stellt in der Jungle World vom 10. Oktober 2024 „Madeleine Riffaud und ihre Schwestern: Frauen in der Résistance“ Anlass sind die beiden ersten Bände der Graphic Novel „Madeleine die Widerständige“ (erschienen im Berliner Avant-Verlag, 2022 und 2024, Text und Szenario von Madeleine Riffaud und Jean-David Morvan, Zeichnungen von Dominique Bertail, Übersetzung aus dem Französischen von Marcel Le Comte). Der dritte Band erscheint demnächst. Madeleine Riffaud hat lange nicht über ihre Beteiligung am bewaffneten Widerstand gesprochen. Sie wurde von den Deutschen zum Tode verurteilt. Am 25. August 2024 wurde sie 100 Jahre alt. Jonas Engelmann beschreibt das Leben von Madeleine Riffaud und anderen Frauen, zum Beispiel Fanny Asenstarck, die sich der Résistance angeschlossen hatten. Er setzt sich aber auch mit der Frage auseinander, warum Frauen so lange keine Rolle in der Erinnerungsliteratur spielten. Eine Ausnahme war die 2024 verstorbene Ingrid Strobl, die 1988 ihre Studie „‚Sag nie, du gehst den letzten Weg‘ – Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und Besatzung“ (bei Fischer erschienen) veröffentlichte. Jonas Engelmann beginnt und schließt mit einem Verweis auf Emanuel Ringelblum und sein Archiv des Warschauer Ghettos: „Die Hoffnung Emanuel Ringelblums, dass der heroische Einsatz der ‚Mädchen‘ eine literarische Würdigung erfährt, hat sich erfüllt, wenn auch spät und wohl anders als von ihm erhofft.“
- Menschenrechte im Iran: Auf der Plattform mena-watch informiert Thomas von der Osten-Sacken: „Iran plant Deportation weiterer zwei Millionen Afghanen“. Dies soll in den nächsten sechs Monaten geschehen. Entsprechende Deportationen gab es auch aus Pakistan. Der Vizegouverneur von Teheran sieht den Iran im Krieg mit den Geflüchteten: „Im Umgang mit den illegalen Einwanderern sind wir wie unsere Jugend, die zu den Waffen griff, in den Krieg zog und zu Märtyrern wurde.“ Thomas von der Osten verweist auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der in einem Grundsatzurteil festgestellt hat, dass für Frauen „‚die Repressionen des Taliban-Regimes so massiv seien, dass sie grundsätzlich als Verfolgte gelten‘. Damit stehe ihnen in der Europäischen Union Asyl ohne Einzelfallprüfung zu.“ Aber Europa ist weit und die dortige Stimmung ein weiteres Problem, wie die – vorsichtig gesprochen – zögerliche Aufnahme von Ortskräften in der Vergangenheit zeigte. Am 28. Oktober 2024 ließ das iranische Regime den Deutsch-Iraner Djamshid Sharmahd hinrichten. Die Bundesaußenministerin kündigte „schwerwiegende Folgen“ an, bestellte den iranischen Botschafter ein. Natalie Amiri sieht in den Äußerungen von Außenministerin und Bundeskanzler nicht mehr und nicht weniger als „den routinemäßigen Opportunismus der deutschen Außenpolitik“. Thomas Seibert berichtete am 16. September 2024 im Tagesspiegel, dass viele im Iran den nächsten Aufstand erwarten. In seinem Text findet sich auch ein Link zu dem Video einer jungen Frau, die öffentlich und ohne Kopftuch „Back To Black“ von Amy Winehouse singt.
- Junge Terroristen: Auf tagesschau.de berichtete Tobias Dammers vom WDR über jugendliche Terroristen, die sich explizit als „Antisemiten“ und „Rassisten“ bezeichnen, die gleichermaßen in der rechtsextremistischen wie in der islamistischen Szene andocken, Adressen heraussuchen, nicht unbedingt jemanden töten wollen, dies aber als „Kollateralschaden“ akzeptieren oder gleich konkrete Anschläge planen. Politiker:innen sollen zum Rückzug von ihren Ämtern bewegt werden, Anerkennung in der eigenen Szene ist ein wesentliches Ziel. Das Bundeskriminalamt zählt etwa 30 junge Männer, die als „Gefährder“ beobachtet würden, Islamisten, Rechtsextremisten, in Einzelfällen auch der ein oder andere Linksextremist (unter Linksextremisten erlangen auch Frauen zweifelhafte Berühmtheit, wie zum Beispiel die inzwischen zu einer Haftstrafe verurteilte Lina E.). Tobias Dammers berichtet von Ausstiegsprogrammen, zum Beispiel das Programm „Wendepunkt“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz). Radikalisierung ist ein langer Prozess. Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass der Kipppunkt, zu dem bestimmte Ansichten in kriminelle Planungen oder gar die Tat umschlagen, ausgesprochen schwer vorhersehbar ist. Und es sind bei weitem nicht nur – wie nach den Morden von Solingen in manchen Statements und Berichten suggeriert – als „Asylbewerber“ zugewanderte Männer, es sind auch Deutsche, die sich radikalisieren, nicht nur in der rechtsextremen Szene. Eigentlich hätte man dies angesichts der nach Syrien und in den Irak ausgewanderten IS-Anhänger:innen wissen können. Mitunter wechseln einige die Seite und werden vom Rechtsextremisten zum Islamisten. Besorgte Anfragen von Eltern oder Freund:innen erhalten die Ermittler:innen täglich. Ausführlich zu diesem Thema die Reportage „Warum wollen Minderjährige töten?“ in der ARD-Mediathek.
- Russische Geschichtspolitik: Wer Geschichte erleben will, liebt Themenparks. Einen solchen hat Russland jetzt in Sewastopol. Nikolai Klimeniouk nennt ihn „Putins Russen-Disney“. Es soll eine byzantinische Stadt darstellen, aber es erinnert – so Klimeniouk – doch eher an die Star-Trek-Version einer außerirdischen Zivilisation (mit Tempeln, Säulen, spitzen Giebeln und Friesen und entsprechenden Verhaltensweisen der Bewohner:innen, fehlt nur die Kleidung.) Oder ein Hauch von Las Vegas? „Die Wiege des russischen Christentums, so ein Staatsfernsehbericht, sei vom Bautrupp der russischen Armee ganz neu im byzantinischen Stil errichtet worden. Es herrsche die Atmosphäre einer antiken Stadt, die mehr als zweieinhalbtausend Jahre alt ist.“ Gezeigt werden sollen Multimediashows, all dies als „Verteidigungsbastion im hybriden Krieg, den der Westen gegen Russland führe“ – so der russische Gouverneur des besetzten Sewastopol. Mich erinnert dies ein wenig an eine Satire von Wladimir Kaminer aus seiner „Reise nach Trulala“ (München, Goldmann, 2002). Dort beschreibt er Reisen von verdienten Sowjet-Genoss:innen nach Paris und London, die jedoch in Wirklichkeit in eine nachgebaute Stadt irgendwo in Kasachstan führten. Als der Schwindel aufflog, wurde die Stadt demontiert und in so manchem Stall fanden sich schließlich kostbar erscheinende Türen. Stimmt es? Nach der Lektüre möchte man es gerne glauben, aber vielleicht ergeht es Putins neuem Disneyland in Sewastopol eines Tages auch so.
- Bahnhöfe in Deutschland: Vor einiger Zeit habe ich eine Liebeserklärung an die Deutsche Bahn veröffentlicht. Darin habe ich die bekannten Probleme nicht beschwiegen. Ergänzend kann ich eine Ende September erschienene Bewertung von 30 Bahnhöfen von omio Leipzig führt vor Berlin, Dresden, Nürnberg, Köln und Frankfurt am Main, aus meiner Sicht eine durchaus berechtigte Sicht, auch wenn ich vielleicht Frankfurt am Main wegen der exzellenten Lounge (beide Klassen) höher bewerten würde. An letzter Stelle liegt mit Null Punkten Bonn, ein Bahnhof ohne jede Aufenthaltsqualität: Unpünktliche Züge, häufige Streckensperrungen, keine Möglichkeiten, bei Wartezeiten an einem angenehmen Ort einen Kaffee zu trinken oder eine Zeitung zu lesen, keine Geschäfte, ein Bahnhofsvorplatz, der vor allem von Drogensüchtigen und Alkoholiker:innen in Anspruch genommen wird. Es wurden nur Fernbahnhöfe bewertet. Das Bild von Bahnhöfen in Vorstädten (zum Beispiel Bonn-Beuel, Frankfurt Süd), oder im sogenannten „ländlichen Raum“ sieht noch einmal ganz anders aus. Es gibt durchaus hübsche Bahnhofsgebäude, die auch eine eigene kleine Gastronomie haben, aber ebenso gibt es eine große Zahl von Bahnhöfen, die vor sich hin zerfallen und nicht einmal mehr als Kultur- oder Jugendzentrum interessant sind, weil sie niemand saniert.
- Demokratischer Salon in der Ukraine – drei weitere Übersetzungen: Auch der zweite Teil des Essays „Friedenspolitik nach der Zeitenwende“ von Paul Schäfer wurde von Anastasia Kovalenko und Tamila Besarab ins Ukrainische übersetzt und in dem Kulturportal „Eksperiment“ veröffentlicht. Die Studierenden des Germanistik-Seminars unter Leitung von Pavlo Shopin (komplette Liste im September-Newsletter) haben das Gespräch mit Dilek Güngör „Vor dem Spiegel“ ins Ukrainische übersetzt und ebenfalls in „Eksperiment“ veröffentlicht. Als dritter Text wurde das Interview mit Cristina Collao und Alvaro Solar „Die Antwort heißt: Wir machen Kunst“ von Anastasiia Demianenko, Vladyslav Tereshchenko, Iryna Sorokivska und Maksym Hyzhniak übersetzt und ebenfalls in „Eksperiment veröffentlicht. Inzwischen hat der Demokratische Salon dank der Vermittlung von Pavlo Shopin auch Gespräche mit dem ukrainischen Germanistenverband und seiner Vorsitzenden Alla Paslawska aufnehmen können. Über den 31. Kongress des Verbandes berichtete Iris Hanika für die FAZ.
Den nächsten Newsletter des Demokratischen Salons lesen sie in etwa vier Wochen.
Mit den besten Grüßen verbleibe ich
Ihr Norbert Reichel
(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 22. und 30. Oktober 2024.)
P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitte Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.