Ukrainian Standoff
Es geht nicht nur um schwere Waffen
„Rabbiner Gábor Lengyel, der Schoa-Überlebender ist, hat dies kürzlich auf den Punkt gebracht: ‚Wir deuten das ‚Nie wieder‘ unterschiedlich: Viele Nichtjuden meinen ‚Nie wieder Krieg‘, Juden hingegen meinen ‚Nie wieder Vernichtung‘.“ (Rabbiner Zsolt Balla, Realität unserer Zeit, in: Jüdische Allgemeine 7. April 2022)
Der Autor der zitierten Zeilen ist Militärbundesrabbiner und Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. Er schrieb sie als Antwort auf die Frage „Frieden schaffen ohne Waffen?“ und antwortete: „Diese Idee widerspricht dem jüdischen Grundprinzip vom Schutz des Lebens“. Seine Formel „Nie wieder Vernichtung“ ließe sich meines Erachtens sogar um ein weiteres „Nie wieder“ erweitern: „Nie wieder wehrlos“. Dieses „Nie wieder wehrlos“ ist eine zentrale Grundlage der israelischen Verteidigungskräfte. Szolt Balla zitiert einen Brief von Ghandi, der 1942 dem englischen Volk in einem offenen Brief vorschlug, die Waffen im Krieg gegen das Deutsche Reich niederzulegen. Die Konsequenzen mag sich jeder selbst ausmalen. „Ein Festhalten an der reinen Lehre des Pazifismus reicht nicht aus, ist sie einem auch noch so lieb.“ Pazifismus – darauf verwies zuletzt auch Robert Habeck – ist zurzeit „ein ferner Traum“. In der Tat: Pazifismus ist ein Ziel, aber noch keine Strategie.
Eine geschichtspolitische Kontroverse
In meinem letzten Editorial habe ich geschrieben, dass alle, die mit dem Finger auf andere zeigen, bedenken sollten, dass vier Finger auf sie zurückzeigen. Dies heißt nicht mehr oder weniger, dass wir uns ehrlich machen sollten. Für Rechthaberei gibt es keinen Anlass. Und dies gilt gerade auch für diejenigen, die glauben, Putins Armee wäre mit Gebeten und guten Worten zu stoppen. Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion, Agnieszka Brugger, sagte am 28. April 2022 im Deutschen Bundestag, dass die Entscheidung für die Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine „die Voraussetzung dafür ist, dass dieser Krieg am Ende auch mit Verhandlungen beendet werden kann, die nicht von Russland diktiert werden“.
Die Entscheidung des Deutschen Bundestages hatte zwei offene Briefe zur Folge. Der von profilierten Intellektuellen unterzeichnete offene Brief vom 29. April 2022 ist ein wichtiger Beitrag in der aktuellen Debatte. Für alle, die auch nur den leisesten Verdacht hegen, die Ukraine solle ihrem Schicksal überlassen werden, zitiere ich eine der Unterzeichnerinnen, Juli Zeh, die in einem Interview auf ZEIT online gegenüber Jochen Bittner am 3. Mai 2022 klarstellte: „Der Brief bezweifelt nicht, wer die Schuld an der gegenwärtigen Situation trägt. Die trägt eindeutig der Kriegsverbrecher Putin. Der Brief ruft aber zu äußerster Vorsicht beim Umgang mit dieser Situation auf. Ich glaube, wir haben einen großen Konsens darüber, was das Ziel der Ukrainepolitik sein muss. Aber wir reden zu wenig über die Mittel, die dafür eingesetzt werden sollen. Zum Beispiel Waffenlieferungen.“ Mittlerweile gibt es diverse Einlassungen rund um diesen offenen Brief, Gegenäußerungen, Distanzierungen, auch Rückzüge.
Eine andere Gruppe von ebenso profilierten Intellektuellen veröffentlichte wenige Tage später eine Gegenposition. Organisiert hat diesen Brief das Berliner Zentrum Liberale Moderne. Seine Unterzeichner*innen verweisen auf die Ängste, die Putin schüre, um damit die kontroversen Debatten um die Unterstützung der Ukraine im Westen für sich zu nutzen: „Die Drohung mit dem Atomkrieg ist Teil der psychologischen Kriegführung Russlands. Dennoch nehmen wir sie nicht auf die leichte Schulter. Jeder Krieg birgt das Risiko einer Eskalation zum Äußersten. Die Gefahr eines Nuklearkrieges ist aber nicht durch Konzessionen an den Kreml zu bannen, die ihn zu weiteren militärischen Abenteuern ermutigen. Würde der Westen von der Lieferung konventioneller Waffen an die Ukraine zurückscheuen und sich damit den russischen Drohungen beugen, würde das den Kreml zu weiteren Aggressionen ermutigen. Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden. Das erfordert Entschlossenheit und Geschlossenheit Europas und des Westens statt deutscher Sonderwege.“
Meines Erachtens könnte sich die Debatte um die beiden Briefe zu einer Parallel-Debatte zu entwickeln, die den Bezug zum eigentlichen Thema verliert, der Frage, wie die aggressive Politik Putins beendet werden könnte. Denn der Streit geht im Grunde nicht um das Ob, sondern um das Wie. Es ließe sich darüber streiten, ob beide Briefe nicht zu einem früheren Zeitpunkt hätten geschrieben werden müssen, denn die Entscheidung des Deutschen Bundestags, die Ukraine auch mit schweren Waffen zu unterstützen, sprich mit Panzern, die nach verschiedenen Tieren benannt wurden, zeichnete sich ab. Im Grunde kamen die Briefe zu spät und fungieren beide nunmehr als Kommentare, die in ihrer Ausrichtung die unterschiedlichen Positionen in der Bevölkerung spiegeln. Vielleicht hätte es zu einem früheren Zeitpunkt eine Debatte auch im Deutschen Bundestag geben können, die die Argumente der Initiator*innen der beiden Briefe einbezogen hätte. Vielleicht hätte es auch Gespräche zwischen Bundeskanzler, Außenministerin oder Wirtschaftsminister mit Initiator*innen der Briefe gegeben?
Oder geht es doch um das Ob? Dies ließe sich aus Äußerungen von Alice Schwarzer schließen, die dem ukrainischen Präsidenten Provokationen vorwarf und damit zumindest indirekt Putins Vorgehen rechtfertigte. Mit ihrer Medienprominenz könnte es Alice Schwarzer durchaus gelingen, die von ihr initiierte Unterschriftenliste zu instrumentalisieren, sodass ein Beitrag wie der zitierte von Juli Zeh in den Hintergrund geraten könnten. Allerdings ist die Medienpräsenz von Juli Zeh auch nicht relativ hoch, sodass es möglicherweise zwischen den Unterzeichner*innen dieses Briefes einige öffentliche Debatten geben könnte.
Putin rechtfertigte sein Vorgehen von Anfang an mit dem Verweis auf Angriffe der ukrainischen Armee auf russische Stellungen in den beiden nur von Russland anerkannten separatistischen Republiken im Osten der Ukraine. Er müsse einen „Völkermord“ an der russischen Bevölkerung verhindern, obwohl die Ukraine im Grunde nicht mehr und nicht weniger als ihr eigenes Staatsgebiet verteidigte. Herfried Münkler schrieb am 7. Mai 2022 in der ZEIT über die immer wieder als Argument gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine beschworenen Analogien, die seines Erachtens mit einer Ausnahme nicht zuträfen. Vor dem Ersten Weltkrieg hätten immerhin vier von fünf Großmächten Angriffspläne gehabt, um ihre Position im Weltgefüge zu verbessern. Sie waren alles andere als die von Christopher Clark beschriebenen „Schlafwandler“. Sie alle spielten mit dem Feuer eines möglichen Angriffskriegs. „Gibt es eine historische Analogie, die zumindest teilweise trägt, so ist es die vom September 1939, dem deutschen Angriff auf Polen: Wie zuvor schon gegenüber der Tschechoslowakei hatte Hitler Gebietsansprüche gegenüber Polen geltend gemacht, auf die Polen nicht einging, und weil die Polen beim Einmarsch deutscher Truppen Widerstand leisteten (was die Tschechoslowakei im Herbst 1938 beim Einmarsch ins Sudetenland und im Frühjahr 1939 bei der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ nicht getan hatte), begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Hätten die Polen keinen Widerstand geleistet und vor Hitler kapituliert, hätte der Krieg nicht im Herbst 1939 begonnen.“
Die Frage, ob ein neues 1914 oder ein neues 1938 drohe, ist in der Tat von Interesse. Sie war Gegenstand eines Streitgesprächs zwischen Juli Zeh und Thea Dorn, das am 11. Mai 2022 in der ZEIT veröffentlicht wurde. Während Juli Zeh auf das schlafwandlerische Jahr 1914 verwies, verwies Thea Dorn auf das Jahr 1938 mit dem vom damaligen britischen Premierminister ausgegebenen Motto „Peace in our time“. Und wenn ein Vergleich mit 1914 gerechtfertigt wäre, wäre allenfalls der deutsche Überfall auf das neutrale Belgien eine denkbare Analogie.
Deutsches Framing
Eine freiheitliche Demokratie muss kontroverse Debatten und deutliche Meinungsäußerungen aushalten. Sie lebt davon. In einer freiheitlichen Demokratie darf jede*r jede Maßnahme der Regierung kritisieren. Und dies bedeutet, dass die Argumente derjenigen, die die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ablehnen, ebenso respektiert und abgewogen werden müssen wie die derjenigen, die sie befürworten. Auch Ostermärsche, Friedensinitiativen, die die Entscheidungen der Bundesregierung und des Bundestages nicht teilen, gehören zu einer Demokratie. Auch sie sollten wir ernst nehmen. Die Zahl derjenigen, die auf solchen Veranstaltungen den Austritt aus der NATO oder sogar der EU fordern und die schon immer hinter jeder Waffenlieferung böse Absichten der USA vermuten, dürfte sich in Grenzen halten. Sie bedroht die Demokratie nicht, wohl aber eine Einstellung, die vehement alle gleichermaßen mit dem Aggressor in einen Topf wirft, die die mit deutlicher Mehrheit beschlossenen Maßnahmen ablehnen. Umgekehrt helfen auch Beschimpfungen von Befürworter*innen nicht weiter. Es ist meines Erachtens eines seriösen Journalismus unwürdig, sich auf Toni Hofreiter als Apologeten von schweren Waffen zu konzentrieren und ihn – wie leider mehrmals geschehen – als „Schwere-Waffen-Toni“ zu diffamieren. Eine freiheitliche Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass wir offen über Für und Wider diskutieren, sicherlich nicht endlos, denn Entscheidungen sind erforderlich, und die fallen in Deutschland im Deutschen Bundestag.
Leider dominierten in Deutschland zwei nebensächliche Themen die Debatte: die inneren Widersprüche in der SPD und das nicht unbedingt den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechende Verhalten des ukrainischen Botschafters.
- Im Fall der SPD ist erstaunlich, wie es der CDU gelang, sich in dieser Debatte als die Unschuld vom Lande zu präsentieren, als hätte sie in den vergangenen 16 Jahren weder Bundeskanzlerin noch Verteidungsminister*innen gestellt und schon immer gegen Nordstream 2 votiert, selbst als Koalitionspartner in der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern. Diejenigen, die aus den Kreisen der CDU jetzt den Rücktritt von Manuela Schwesig fordern, sollten sich fragen, wie sie denn vor dem 24. Februar 2022 argumentiert und gehandelt haben. Das Schweigen der ehemaligen Bundeskanzlerin glauben sie, als Bestätigung ihrer Vorwürfe nutzen zu können, obwohl nach bestem Wissen und Gewissen das Gegenteil angenommen werden muss. Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin Nordstream 2 gegen den Widerstand aller deutschen Bündnispartner durchgesetzt, bis zum bitteren Ende. Der in Mecklenburg-Vorpommern eingesetzte Untersuchungsausschuss sollte dies belegen können, auch im Hinblick auf die diversen Maßnahmen zur Umgehung US-amerikanischer Sanktionen. Diese wurden sicherlich nicht im Alleingang von der Ministerpräsidentin beziehungsweise ihrem Vorgänger erdacht.Nur am Rande: die Konzentration der Debatte auf den Vorgänger Angela Merkels ist meines Erachtens weniger dessen sicherlich merkwürdiger Solidarität mit dem russischen Präsidenten zu verdanken als seinen Fähigkeiten, sich selbst zu inszenieren, durchaus auch unter Nutzung der Empathie heischenden Bilder seiner Ehefrau. Immerhin hat er die SPD erheblich verunsichert, sodass diese Gefahr läuft, das berühmte Kind mit dem Bade auszuschütten. Ihr Vorsitzender sprach nun davon, dass ein Teil des Grundsatzprogramms verändert werden müsse, da dort von einem „Frieden nur mit Russland“ die Rede sei. Der Satz ist nach wie vor richtig, denn weder eine dauerhafte Isolation Russlands durch den Westen noch eine fortgesetzte Aggression russischer Truppen auf wen auch immer sichern Frieden. Der Satz gilt, auch wenn sich sein Sinn durch den 24. Februar 2022 verändert hat und sich somit auch die Strategie verändern muss, den Frieden mit Russland wiederherzustellen.
- Im Fall diverser Reaktionen auf den ukrainischen Botschafter Andrej Melnyk mag erstaunen, dass weniger die Inhalte seiner Worte als die Art, wie er sie vortrug, kommentiert wurde. In manchen Medien ist Bashing des ukrainischen Botschafters geradezu Mode geworden. Vielleicht war und ist seine Sprache nicht gerade seiner Funktion angemessen, aber wenn in deinem Land Menschen bombardiert, ermordet, verschleppt werden, dein Land Opfer eines Angriffskrieges ist, dann ist vielleicht verständlich, dass du die Geduld verlierst, deutliche Worte wählst anstatt alles, was dir und deinem Land wichtig ist, im üblichen Pressesprecherstil zu verklausulieren. Andrej Melnyks Verteidigung von Stepan Bandera, der nicht nur ein Unabhängigkeitskämpfer für die Ukraine, sondern auch ein Antisemit und Nazi-Kollaborateur war, ist in der Tat kritikwürdig, aber sollten Vertreter*innen eines Landes der Ukraine vorhalten, wen sie zu verehren hat, in dem jeder Versuch einer Umbenennung einer Straße, die noch den Namen von Völkermördern der Kolonialgeschichte oder von Wehrmachtsgenerälen trägt, zu langwierigen Debatten führt? Meron Mendel hat dies in seiner Analyse der Sendung von Anne Will vom 8. Mai 2022 am Beispiel von Bemerkungen von Harald Welzer markiert: als Deutsche sollten wir nicht versuchen, Ukrainer*innen zu belehren, wie sie ihrer Vergangenheit zu gedenken haben. Die deutsche Erinnerungskultur ist kein Auftrag über andere zu urteilen. Wie gesagt: vier Finger der Hand zeigen immer auf einen selbst zurück.
Was heißt hier Russland, was russisch?
In den deutschen Debatten irritiert die ständige Verwechslung von Russland, Sowjetunion, Putin und Stalin. Die Bürger*innen Russlands sind nicht alle Russ*innen, Russland ist ein Staat mit vielen Völkern, vielen Sprachen, sicherlich unter russischer Dominanz, auch wenn nicht alle Mitglieder der Führungs-Nomenklatura Russ*innen sind. Manche differenzieren die Zugehörigkeit mit den Worten „russisch“ versus „russländisch“. In der sowjetischen Armee kämpften Soldaten aus vielen Ländern, die heute selbstständige Staaten sind, Kasachstan und die anderen zentralasiatischen Republiken gehören dazu, die Ukraine und Weißrussland sowie die baltischen Staaten. Wer von einer russischen Armee spricht, ignoriert deren Beitrag. Michail Ryklin hat die Komplexität der post-sowjetischen Erinnerung wie folgt beschrieben: „Es gibt keine Sowjetmenschen mehr, es gibt nur noch sowjetische Erinnerungen und Empfindungen, mit denen die Menschen in einer Situation umgehen, die sich einerseits grundsätzlich von der sowjetischen abhebt und diese andererseits fortsetzt. Der Unterschied besteht darin, dass jetzt all das zum Objekt von An- und Verkauf geworden ist, was früher sakralisiert worden ist.“ (in: Räume des Jubels – Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 2003, bei diesem Band handelt es sich um Auszüge der russischen Ausgabe, die 2001 in Moskau erschien.)
Die Analyse Michail Ryklins entspricht den Fakten, die Catherine Belton in ihrem Buch „Putin‘s People“ (London, HarperCollins, 2020, Titel der deutschen Fassung: „Putins Netz“) vorgelegt hat. Ihre Grundthese: Von Anfang an hat der KGB versucht, wieder die Macht zumindest und vorerst in Russland zu übernehmen. Putin war der Auserwählte, der mit Unterstützung diverser KGB-Generäle und sogenannter Oligarchen das Imperium wiederherstellen sollte. Der erste Schritt war sein „Erfolg“ im zweiten Tschetschenienkrieg. Eine Ideologie war und ist mit diesen Absichten nicht verbunden. Das als Zeichen des russischen Siegeswillens zurzeit verbreitete „Z“ ließe sich vielleicht als Simulation von Ideologie interpretieren. Auch die Wiedererrichtung von Lenin-Statuen in besetzten Regionen der Ukraine durch die dort eingesetzte russische Verwaltung hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern simuliert sie lediglich. Insofern unterscheidet sich das Russland Putins deutlich vom Russland beziehungsweise der Sowjetunion Stalins und seiner Nachfolger. Stattdessen herrscht ein Konglomerat von mit den Mitteln eines Geheimdienstes und krimineller Organisationen nach dem Schlage einer Mafia durchgesetzter Wille zu Bereicherung und Monopolisierung der Macht. Ein Michail Chodorkowskij stand im Wege, nicht weil er ein Demokrat gewesen wäre, sondern weil er in geradezu grob fahrlässiger Selbstüberschätzung zu selbstständig über sein Vermögen und seine Geschäftspartner entschied. Solche Entscheidungen behielt sich die Nomenklatura des KGB vor, die die Macht im Kreml übernommen hatte.
Catherine Belton beschreibt eindrucksvoll die Kunst der Vernetzung mit Politikern und Wirtschaftsführern des Westens, nicht nur mit Donald Trump, Silvio Berlusconi und Gerhard Schröder, auch sie „Putin’s People“. Putins Netz ging tiefer und weiter. Die bekannte Unterstützung Putins für rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien im Westen ist nicht ideologisch begründet. Unterstützt werden auch linksextreme und linkspopulistische Parteien. Ziel ist einzig und allein die Destabilisierung des Westens, nicht zuletzt mit der Schaffung von wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Dem stand die Ukraine im Wege, daher Nordstream 2, daher der 24. Februar 2022 und die vorangegangenen Besetzungen von Krim und Donbass sowie zurzeit der Region um Cherson. Der Westen hat mehr als acht Jahre lang nicht gemerkt, welche Absicht sich dahinter verbarg. Auch die Unterstützung Putins für terroristische Gruppen im Westen während seiner Zeit in Dresden, beispielsweise der RAF, war völlig unideologisch und verfolgte bereits das Ziel der Destabilisierung. Die damals angewandten Methoden bewähren sich auch heute. In dieser Hinsicht hat Donald J. Trump in gewisser Weise recht: Putins Strategie hat etwas durchaus Geniales, auch wenn er sie nicht hätte so weit treiben können, wenn wir im Westen besser aufgepasst hätten.
Ein Mexican Standoff in der Ukraine?
Leichte Waffen töten und wirken genauso effektiv wie schwere Waffen. Dies erfuhren die Sowjetunion und die NATO gleichermaßen in Afghanistan. Dies nur als Vorbemerkung zu diesem Kapitel. In der Vergangenheit zierte sich Deutschland kaum, auch schwere Waffen in Krisengebiete zu liefern. Sie wurden in der Vergangenheit beispielsweise an Saudi-Arabien, an die Türkei verkauft, Verkäufe, die mit Recht kritisiert wurden und meines Erachtens nicht hätten genehmigt werden dürfen, denn diese Waffen werden – vorsichtig formuliert – nicht unbedingt nur für Verteidigungszwecke verwendet. Was geschieht im Jemen, was in den kurdischen Gebieten in Syrien, mit welchen Waffen schlug Saudi-Arabien die Ansätze des arabischen Frühlings in Bahrein nieder? Die Entwicklungen in Afghanistan zeigten, dass gelieferte Waffen, von wem auch immer, auch denen in die Hände fallen konnten, die mit ihnen bekämpft werden sollten. Die nach Afghanistan gelieferten Waffen sollten den Mujaheddin helfen, die sowjetische Besatzung zu bekämpfen. Das taten sie erfolgreich und nutzten die erhaltenen und eroberte Waffen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt gegen USA und NATO einzusetzen.
Auch diejenigen, die sich in der Friedensbewegung engagierten, sind keine Unschuldslämmer. Es gab immer die Forderung, Waffen an Befreiungsbewegungen zu liefern, es gab Spendenkampagnen für Waffen nach El Salvador, nach Nicaragua, es gab die legendäre Entscheidung eines prominenten Frankfurter Grünen, in seinem späteren Leben UN-Beauftragter in Afghanistan, der sieben Millionen Deutsche Mark von seinem acht Millionen umfassenden Erbe dem Vietkong spendete. Gewaltlosigkeit war nie ein Dogma der Linken, es kam eben auf die Gegner an, die mit diesen Waffen bekämpft werden sollten. Und wenn die USA der Hauptgegner war, umso besser.
Schwere Waffen an die Ukraine – das bedeutet zunächst nicht mehr und nicht weniger als einem überfallenen Land zu helfen. Ob und wie die Hilfe wirkt, in Haupt- und Nebenwirkungen, das ist eine andere Frage, über die rechtzeitig nachgedacht werden sollte. Ich bezweifele nicht, dass die Bundesregierung dies nicht tut. In einer der Friedensbewegung nahestehenden kleinen Zeitschrift ehemaliger Jungdemokrat*innen las ich, dass „nie wieder“ – da ist es wieder, das oft bemühte „Nie wieder“ – deutsche Waffen auf russische Soldaten gerichtet werden dürften. 1941 überfielen deutsche Truppen die Sowjetunion. Jetzt sollen deutsche Waffen einem Land helfen, das von der Russischen Föderation überfallen wurde. Ein Nachfolgestaat der Sowjetunion überfiel einen anderen. In der zitierten Zeitschrift las ich auch, die USA sollten mit Russland verhandeln und könnten vereinbaren, dass die Krim russisch bleibt und Russland dafür den Kosovo anerkennt. Verträge zu Lasten Dritter – so nennt man dies, aber wir wäre auch wieder in längst vergangenen Zeiten, in denen Großmächte untereinander klärten, welcher Staat existieren dürfe und wenn ja, in welchen Grenzen. Ein Hauch von München 1938? Aber auch hier gilt: Vergleichen ja, Gleichsetzung nein.
Es gibt zurzeit viel zu viele Vorschläge, die dem genannten vergleichbar wären. Diffus sind in vielen Vorschlägen die Ziele. Das Ziel der Ukraine sollte es eigentlich sein, dass sich die russischen Truppen hinter die Grenzen zurückziehen und die territoriale Integrität der Ukraine vor 2014 garantiert wird. So formulierte es am 2. Mai 2022 der Bundeskanzler im ZDF. Ob und wie dieses Ziel erreichbar ist, ist eine andere Frage. Die westliche Seite ist in ihren Äußerungen leider nicht immer so klar. Joe Biden ließe sich so verstehen, als wolle er einen „Regime Change“ in Russland. Dies wurde umgehend dementiert. Und welche Ziele verfolgen Solidaritätsbesuche hochrangiger und weniger hochrangiger Politiker*innen aus den NATO-Staaten? Es gibt nicht nur Nuancen.
Aber welche Ziele verfolgt Putin? Zunächst hieß es, er wolle die Ukraine „entnazifizieren“. Diese Begrifflichkeit ist nicht mehr und nicht weniger als eine Metapher für einen „Regime Change“, Ersetzen der ukrainischen Regierung durch eine Russland- bzw. Putin-freundliche Regierung. Mischa Gabowitsch hat Putins Instrumentalisierung der Begriffe „Faschisten“ und „Nazis“ in einem Essay der Mai-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik analysiert. Es sind Kampfbegriffe, die „Russlands Anspruch als Schutzmacht russischsprachiger Bevölkerungsgruppen und Hegemonialmacht einer ‚russischen Welt‘ unterstützen.“ Nachdem Kiew nicht eingenommen werden konnte, ging es um die Sicherung der Separatisten-Republiken im Donbass, etwas später ging die Nachricht über die Ticker, dass der gesamte Süden der Ukraine mit freiem Zugang bis Transnistrien, wo ohnehin schon russische Truppen stationiert sind, besetzt werden solle. Dieses Ziel scheint sich zu konkretisieren. Aber das Generalziel gilt wohl nach wie vor: die Anerkennung Russlands als Weltmacht. Das wäre Putins Sieg über die Bemerkung von Barack Obama, der Russland als „Regionalmacht“ bezeichnete. Die USA müssten zugeben, dass die Russische Föderation eine Weltmacht ist und Frieden nur mit ihr, niemals gegen sie, zu erreichen ist.
Von russischer Seite wird gerne Zbigniew Brzeziński (1928-2017), Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, zitiert, der darauf hinwies, dass die Ukraine für die damalige Sowjetunion unverzichtbar wäre. Catherine Belton widmet diesen Äußerungen mehrere Abschnitte. Wendet man diese Bemerkung auf die heutige Konstellation an, könnte man den Krieg als eine Art Mexican Standoff interpretieren, mit den Parteien Russland, Ukraine, USA, aus dem Russland gerne eine Zweier-Konfrontation machen würde, Russland vs. USA, zum Nachteil der Ukraine und anderer Staaten, die dann in die Position von Vasallen der ein oder anderen Seite verwiesen würden.
„Gut gegen Böse ist keine Strategie“
In dieser Situation ist es umso wichtiger, dass Politiker*innen die Dilemmata, die Kontroversen, die Ambivalenzen, Risiken und Unwägbarkeiten, in denen sie Entscheidungen treffen müssen, auch benennen. Der Politiker, der dies sehr konsequent tut, ist Robert Habeck, in einer meines Erachtens ausgesprochen interessanten Arbeitsteilung mit Bundesaußenministerin und Bundeskanzler. Er sagte am 4. Mai 2022 im Gespräch mit Jana Hensel und Martin Machowecz in der ZEIT: „Ich akzeptiere jede Position, die sagt: Waffen sollte man nicht liefern. Ich akzeptiere auch alle Ängste. Vernunft, die keine Gefühle zeigt, ist blutleer. Aber die Entscheidung darf nicht in Gefühlen aufgehen. Man darf weder aus Angst handeln noch aus Mitleid. Wir treffen höchst bedrückende Entscheidungen. Ein Bundeskanzler, auch ein Minister wie ich, darf sich da nicht von Affekten leiten lassen, und ich kann Ihnen versichern: Wenn wir Entscheidungen treffen, ist die Frage, ob wir dadurch Kriegspartei werden könnten, immer eine, die gewogen wird. Ich finde es richtig, jetzt die Ambivalenz jeder Entscheidung deutlich zu machen. Hinter die scheinbare moralische Einhelligkeit zu schauen. Auch zu streiten. Auch wenn ich die Conclusio dieses Emma-Aufrufes nicht teile.“ (Das Gespräch wurde in der Ausgabe der ZEIT vom 5. Mai 2022 abgedruckt.) Robert Habeck war allerdings auch der einzige deutsche Spitzenpolitiker, der offen sagte, dass seine Zustimmung zu Waffenlieferungen an die Ukraine auch bedeute, dass mit diesen Waffen Menschen getötet werden.
Freiheitliche Demokratie verteidigt sich nicht von selbst. Mit moralischen Reinheitsfantasien ist niemandem geholfen, mit gegenseitigen Diskreditierungen ebenso wenig. Das heißt aber noch lange nicht, dass der einer freiheitlichen Demokratie angemessene Respekt vor der Meinung eines anderen aufgegeben werden dürfe. Rally around the flag? Unsere Flagge ist die Flagge der Demokratie. Das sollte niemand vergessen. Und wie von Juli Zeh formuliert: „äußerste Vorsicht“! Oder wie Robert Habeck sagte: „Geschlossenheit kann nur hergestellt werden, indem man redet und erklärt. Indem Politik sich öffentlich macht und erläutert, was man gerade tut. Es braucht Sprache und eine öffentliche Debatte, sonst kann ein Land nicht zusammenbleiben. Politik in dieser Zeit muss öffentlich zweifeln.“ In den Worten von Madeleine Albright sel. A.: „Gut gegen Böse ist keine Strategie“ (zitiert nach Nora Bossong, Vier Versuche über das Böse, in: N.B., Auch morgen – Politische Texte, Berlin, Suhrkamp, 2021).
Moralische Einwände sind gut und richtig, mitunter auch eine Art Kompass, aber auch sie müssen so rational wie möglich auf ihren Kern analysiert und bewertet werden. Arvid Bell arbeitet an der Harvard Universität. Er gründete das Beratungsunternehmen Negotiation, Design and Strategy. Am 17. April 2022 beantwortete er für ZEIT- Online Fragen von Lenz Jacobsen. Er berichtete von seinen Reisen, deren letzte vor dem Interview nach Vietnam ging: „Aber, und das klingt brutal: Dem Völkerrecht geht es nicht darum, welche Kinder wo in U-Bahn-Stationen sitzen. Sondern darum, ob ein Land erstens das Recht zu einem Krieg hat und ob es sich zweitens dabei an das Kriegsrecht hält. Beides hat Putin offenbar nicht. Sein Krieg ist also ein doppelter Rechtsbruch. In den UN-Debatten zur Ukraine haben Länder wie Kenia oder Singapur viel nüchterner argumentiert. Kenia hat argumentiert, dass man nicht einfach Grenzen verletzen und gewaltsam verschieben kann, dass man so heute keine Konflikte mehr löst. Und Singapur hat klargestellt, dass es als kleiner Staat kein Interesse hat, in einer Welt zu leben, in der Großmächte sich einfach nehmen, was sie können, und die anderen müssen zusehen.“ Sein Fazit: „Es geht darum, eine Welt zu verhindern, in der wieder allein das Recht des Stärkeren gilt. Das ist, worauf man sich einigen könnte, egal was für eine Moral man hat.“
Arvid Bell weist aber auch darauf hin, dass der Westen heute keine Regeln mehr setzen könne, sondern nach wie vor in der von ihm selbst so oft und so gerne beschworenen multilateralen Welt agieren muss. Mir moralischen Postulaten kommen wir nicht weiter: „Empörung ist noch keine Strategie.“ Es gibt keine moralisch begründbare Pflicht, „nie wieder“ Waffen einzusetzen. Es gibt auch keinen „gerechten Krieg“. Es gibt aber ein Recht, sich vor dem Angriff eines anderen zu verteidigen, und es ist unsere Pflicht, dem Angegriffenen beizustehen. Und vielleicht denken manche auch darüber nach, wo Deutschland heute stünde, wenn die Wiederbewaffnung und die damit verbundene Mitgliedschaft in der NATO in den 1950er Jahren nicht stattgefunden hätten. Was eine Finnlandisierung Deutschlands hätte bedeuten können, lässt die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen mit ihrem Essay vom 17. Februar 2022 in der ZEIT erahnen. Wollen wir wirklich das Risiko eingehen, dass demnächst von Lissabon bis Wladiwostok – das ist die Fantasie von Alexander Dugin, anderen Spin-Doktoren des russischen Präsidenten sowie seiner Kampfgefährt*innen aus alten KGB-Zeiten – Putins Unrecht gilt? Zensur, Gleichschaltung aller Medien, Verbot von Nicht-Regierungsorganisationen, Reduzierung von Erinnerungskultur auf eine scheinbar patriotische Geschichtspolitik, drakonische Haftstrafen gegen Oppositionelle?
Vielleicht doch ein Regime Change in Russland?
Unsere Solidarität sollte nicht nur den Menschen in der überfallenen Ukraine gelten. Auch all die Russ*innen, die sich in Russland oder – falls dort für sie ein Leben ohne Bedrohung durch die Staatsorgane nicht mehr möglich war – in anderen Ländern aufhalten, die nicht nur in Georgien, in Armenien, in Istanbul, sondern auch in Deutschland willkommen sein sollten, verdienen unsere Solidarität und tatkräftige Unterstützung. Robert Habeck hat dies in dem zitierten Interview mit der ZEIT deutlich gesagt: „Es ist völlig klar: Russland ist unter Putin zu einem autoritären Staat geworden, der politische Gegner ermorden lässt, Krankenhäuser bombardiert und Menschen deportiert. Der Willkür an die Stelle von Recht gesetzt hat. Jede Ordnung aber basiert auf Regeln. Insofern: Wann Putins Russland bereit ist, überhaupt wieder Regeln als Handlungsgrundlage zu akzeptieren, kann niemand sagen. Aber es gibt Russinnen und Russen, die für Demokratie und Rechtsstaat ihre Freiheit und ihr Leben riskieren. Die Putin bekämpfen, um ein anderes Russland zu ermöglichen. Das dürfen wir nie vergessen.“ Freiheitliche Demokratie in Russland? Eine Illusion? In den Augen all derjenigen, die für eine solche Demokratie kämpfen, darf es keine Illusion bleiben. Wir sollten nicht vergessen, dass sich der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2021, Dmitri Muratow, nach wie vor in Russland aufhält, immer wieder belästigt aber – wie ich hoffe – in Freiheit. Am 7. April 2022 wurde er Opfer eines Farbanschlags.
Einen Regime Change halte ich – so wünschenswert er wäre – in Russland zurzeit nicht für denkbar. Ich erlaube mir, Lenin zu zitieren und damit erneut zu betonen, dass Putin und seine KGB-Camarilla keine ideologischen Grundlagen im Marxismus-Leninismus finden. Der zitierte Text ist nachlesbar in Lenins Schrift „Der ‚Linke Radikalismus‘ – Die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (zitiert nach einer 1964 im Dietz Verlag Berlin veröffentlichten Ausgabe): „Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise. Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, dass die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewussten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehe; zweitens, dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht (das Merkmal einer jeden wirklichen Revolution ist die schnelle Verzehnfachung, ja Verhundertfachung der Zahl der zum politischen Kampf fähigen Vertreter der werktätigen und ausgebeuteten Masse, die bis dahin apathisch war), die Regierung kraftlos macht und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen.“
Lenin lässt diesen Sätzen eine Analyse der Bedingungen im zeitgenössischen England folgen, die sich aus heutiger Sicht als Fehleinschätzung erweist. Aber die Kriterien, die Lenin nannte, erwiesen sich als erfolgreich im Jahr 1989, mit der Friedlichen Revolution in der DDR und den vorangehenden und folgenden Demokratisierungen in anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs. Das Subjekt der Revolution waren nicht unbedingt „Arbeiter“, aber die Bedingungen, die Lenin beschrieb, lagen vor. Darüber, was geschehen wäre, wenn die DDR-Führung am 7. Oktober 1989 in Leipzig nach dem chinesischen Vorbild vom 4. Juni 1989 hätte schießen lassen, lässt sich nur spekulieren. Aber die Bedingung, dass die gegen das DDR-Regime protestierenden Menschen bereit waren, ihr Leben zu riskieren, lag vor.
All diese Bedingungen liegen im derzeitigen Russland nicht vor. Einer der profilierten Analysten der Schriften und der Praxis Lenins und Stalins ist Slavoj Źiźek. Ich zitiere aus seinem Buch „Die Revolution steht bevor – Dreizehn Versuche über Lenin (Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 2002). Slavoj Źiźek referiert im dritten Kapitel mit dem Titel „Die innere Größe des Stalinismus“ aus den Tagebüchern Georgi Dimitroffs, der die Genialität Stalins gelobt haben will und von diesem zurechtgewiesen wurde, auf ihn käme es nicht an, denn „Entscheidend sind die mittleren Kader“. „Stalin gibt hier das Geheimnis seines Aufstiegs zur Macht preis. Als wenig bekannter Generalsekretär nominierte er Zehntausende von Kadern, sodass diese ihm ihre Beförderung verdankten. Dies ist auch der Grund, warum Stalin um jeden Preis verhindern wollte, dass Lenin schon 1922 starb, und sich daher weigerte, ihm Gift zu geben, damit er seinem Leben nach dem Schlaganfall ein Ende würde setzen können. Wäre Lenin schon 1922 gestorben, hätte sich die Nachfolgefrage noch nicht zugunsten Stalins entschieden gehabt, da dieser den Parteiapparat als Generalsekretär noch nicht ausreichend mit eigenen Leuten besetzt hätte.“ Diese Strategie ähnelt durchaus der von Catherine Belton beschriebenen Strategie Putins und seiner Genoss*innen des KGB. Auch Putin brauchte seine Zeit, die „mittleren Kader“ nach seinem Willen zu besetzen. Sie sind einer der Gründe, warum in Russland die durchaus vorhandene Opposition so erfolgreich ausgeschaltet werden konnte. Es geht auch nicht um Putin, sondern um das Bild von Putin. Es gibt eine Anekdote, in der Stalin seinem Sohn gesagt haben soll, nicht er wäre Stalin, sondern der auf dem Bild an der Wand gezeigte Mann, der wäre Stalin.
Eine weitere Parallele zur aktuellen Situation beschreibt Slavoj Źiźek am Beispiel der Unterstützung Bertolt Brechts für die Intervention sowjetischer Panzer gegen die Demonstrierenden des 17. Juni 1953: „Für Brecht richtete sich die sowjetische Militärintervention gegen die Ost-Berliner Arbeiter nicht gegen die Arbeiter, sondern gegen ‚organisierte faschistische Elemente‘, die die Unzufriedenheit der Arbeiter ausbeuteten. Aus diesem Grund vertrat er die Auffassung, dass die sowjetische Intervention einen neuen Weltkrieg verhindert habe.“ Diese Sätze ließen sich auf die sowjetischen Interventionen in Ungarn im Jahr 1956 oder in der Tschechoslowakei im Jahr 1968 übertragen. Und die Parallelen zur Argumentation Putins liegen auf der Hand. Ebenso auf der Hand liegen die Unterschiede zwischen dem 17. Juni 1953 und dem 24. Februar 2022, nur mit folgendem Unterschied: die Ukraine hat mächtige Freunde, die die Ost-Berliner Arbeiter, die Prager und Budapester Aufständischen in den Jahren 1953, 1956 und 1968 nicht hatten. Diesen Faktor hat Putin unterschätzt. Die Russische Föderation ist eben nicht die Sowjetunion. Der Prozess der Destabilisierung des sowjetischen Machtbereichs ist weder reversibel noch ist er zu seinem Ende gekommen. Insofern hat das subjektive Gefühl Putins, vom Westen bedroht zu werden, durchaus seine Grundlagen. Die Gründe für die von ihm behauptete Bedrohung durch die NATO sind allerdings in der inneren Verfasstheit der Russischen Föderation zu suchen, nicht außerhalb. Die Ukraine ist der Ort, an dem sich die Fehleinschätzung Putins beweist. Kiew ist nicht Prag, nicht Budapest, nicht Ost-Berlin.
Von einem Regime Change in der Russischen Föderation sind wir dank der vielen mittleren Kader in der Justiz, der Polizei, in den Medien weit entfernt. Die Kriterien Lenins für eine Revolution liegen nicht vor. Im sechsten Versuch über Lenin mit dem Titel „Die erlösende Gewalt“ benennt Slavoj Źiźek zwei denkbare Identitäten einer Gesellschaft. Stalin hatte den Klassenkampf „für beendet erklärt“, weil „die Sowjetunion als das klassenlose Land des Volkes gilt“. Daher „sind diejenigen, die sich der Regierung widersetzen (oder von denen man annimmt, dass sie dies tun, nicht mehr nur Klassenfeinde in einem den Gesellschaftskörper entzweienden Konflikt, sondern Feinde des Volkes, Geschmeiß, wertloser Abschaum, der von der Menschheit selbst ausgeschlossen werden muss.“ Aus einem antikommunistischen Narrativ, dem die Sowjetunion ihre Großmachtstellung entgegensetzen konnte, wurde ein antirussisches Narrativ, das jedoch nicht mehr geeignet ist, die Völker, die in und mit der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland kämpften, gegen einen gemeinsamen Feind zu einigen. Russ*innen geraten in Ländern und Staaten außerhalb der Russischen Föderation in die Situation einer Diaspora, identifizieren sich aber nur zum Teil mit den von Putin forcierten russischen Narrativen. Putin muss in Grenzen agieren, die es unter Stalin nicht gab. Mit seinem russischen Narrativ verkleinert er seinen Spielraum. Die Versuche, sich der Erinnerungskultur des Großen Vaterländischen Krieges zu bemächtigen, wirken eher hilflos. Umso gefährlicher ist es, wenn im Westen – und in der Ukraine – alles Russische ohne jede Differenzierung mit Putin identifiziert wird.
Noch einmal Slavoj Źiźek im Kapitel „Die innere Größe des Stalinismus“: „Die großen repressiven Regimes werden nie in der unmittelbaren Konfrontation geschlagen. An einem gewissen Punkt, wenn der ‚alte Maulwurf‘ seine subversive Tätigkeit der ideologischen Auflösung vollendet hat, brechen sie einfach zusammen.“ Ob es in der Russischen Föderation ein zweites 1989 beziehungsweise 1991 geben wird, lässt sich nicht vorhersagen. Vorerst bleibt es – und ich denke, dass dies durchaus noch einige Jahre so bleiben wird – bei einem Ukrainian Standoff. Ein eingefrorener Konflikt, ein Kalter Krieg, ein Fauler Frieden, das ist wahrscheinlich, manches klingt nach einer Koreanisierung des Konflikts. Vielleicht gilt aber auch der Satz des Carl von Clausewitz, dass in einem Krieg das Unwahrscheinliche das Wahrscheinliche ist. Umso wichtiger ist die Formel: „Nie wieder wehrlos“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2022, die Internetzugriffe erfolgten alle zuletzt am 13. Mai 2022. Für den Hinweis auf Catherine Beltons Buch danke ich Ines Geipel. Ich danke Katja Makhotina für unsere Gespräche, die mir eine differenzierte(re) Sichtweise vermittelte als ich sie vor diesen Gesprächen hatte. Mein Kompliment an die Redaktion und Autor*innen der ZEIT, die es verstehen, die verschiedenen Standpunkte verdichtet und inspirierend zu präsentieren, sodass sich ein Gesamtbild ergibt, wie ich es versucht habe, in diesem Essay darzustellen. Nur am Rande: ich habe den Brief des Berliner Zentrums Liberale Moderne unterschrieben.)