Umstrittene Erinnerung
Analogien, Kontinuitäten und Konkurrenzen in der „Erinnerungskultur“
„Mein armenischer Großvater sprach nie darüber, wie viele Freunde und Verwandte er im Jahr 1915 verloren hat, als die Jungtürken versuchten, sein Volk auszurotten. Trotzdem wuchs ich, dessen andere drei Großeltern alle Juden waren, mit dem Bewusstsein zweier großer Volksmorde auf, und genau deshalb wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, sie jemals miteinander zu vergleichen oder gegeneinander auszuspielen, um damit politisch etwas zu erreichen oder seelisch zu sublimieren. Ich lernte bloß schon sehr früh, dass Menschen die verrücktesten, brutalsten, einfältigsten Einfälle haben können, also zum Beispiel im Ernst zu glauben und zu hoffen, man könne eine ganze Nation und ihre Kultur und Religion auslöschen, damit sie und die Erinnerung an sich in Nichts auflösen. Darum hat mich später dann auch das systematische Massenmorden von Ruanda 1994 so bewegt und interessiert.“ (Maxim Biller, Die neuen Relativierer, in: Die ZEIT 2. September 2021)
Maxim Biller vergleicht, aber er wertet nicht. Er dokumentiert geradezu nüchtern das Grauen eines leider nicht unvorstellbaren, sondern angesichts der Geschichte vorstellbaren Wahns, der sich jederzeit wiederholen kann, an denselben Orten, an anderen Orten, bezogen auf dieselben Menschengruppen, bezogen auf andere. Maxim Biller widerspricht Menschen, die ihm das Gefühl verwehren, sich „als selbst so eine Art Davongekommener“ zu fühlen, weil sie offenbar befürchten, dass ihre eigene Opfergeschichte angesichts der jüdischen Opfergeschichte nicht ausreichend bedacht werde. „Da war keine Opferkonkurrenz zwischen mir und ihnen, so wie man sie oft als Jude von den Holocaust-Neidern aus den fest geschlossenen Reihen der scheinheiligen PoC-Fraktion und ihrer Critical-Whiteness-Verbündeten erfährt, sondern nur Empathie und die Hoffnung, dass sie nicht alle tot waren und ihr Volk vielleicht wie die Juden weiterleben würde.“
Ewige Wiederkehr des Terrors
Die ZEIT hat ebenso wie andere regelmäßig erscheinende Zeitungen und Zeitschriften im Verlauf des Jahres 2021 mehrfach Autor*innen zu Wort kommen lassen, die sich in der Debatte, die manche als einen „Historikerstreit 2.0“ bezeichnen, in die ein oder andere Richtung äußerten. Die ZEIT nennt in ihrer Anmoderation des zitierten Textes von Maxim Biller die zentralen Fragen dieses Streits: „War der Holocaust ein singuläres Verbrechen? Oder ähnelten ihm die Verbrechen des Kolonialismus doch sehr stark?“ Es ist keine neue Debatte. Sie wurde schon in den 2000er Jahren ausgetragen, zum Teil von denselben Akteuren, hat aber in den letzten beiden Jahren in Deutschland wieder neue Aufmerksamkeit erhalten, insbesondere im Hinblick auf Debatten um die deutschen Kolonialverbrechen, die fast ein Jahrhundert lang ignoriert worden sind. Möglicherweise fuhr manchen Deutschen der Schreck in die Glieder, als sie merkten, dass Deutsche nicht nur für die Shoah und den Zweiten Weltkrieg verantwortlich waren, sondern auch für andere Verbrechen der Vergangenheit, und versuchten daher, die Kolonialverbrechen zu verkraften, indem sie die Shoah in den Hintergrund drängten. Die Frage nach Analogien, Kontinuitäten und Konkurrenzen der Erinnerungskultur kam auf die Tagesordnung, letztlich auch als Frage nach einem angemessenen Gefühlsmanagement.
Vielleicht bietet Milan Kundera im ersten Kapitel seines 1984 in Frankreich erschienenen Romans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ eine Antwort. Er bezieht sich auf Friedrich Nietzsches Gedanken von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, ob zu Recht oder zu Unrecht spielt hier unbeschadet der Komplexität der Philosophie Nietzsches keine Rolle. Milan Kundera fragt, wie es wäre, wenn einerseits Robespierre nicht mehr wäre als eine Gestalt der Geschichte, auf die diejenigen, die sich an ihn erinnern, sogar stolz sein könnten, oder wenn andererseits ein ewiger Robespierre immer wiederkäme, um den Franzosen den Kopf abzuschneiden. Was bedeutet es, sich beim Durchblättern eines Buches mit Fotografien der Kindheit und Jugend Hitlers und anderer Despoten an die eigene Kindheit zu erinnern, an Kindheit an sich, jenseits politischer Kontexte, oder an die Kindheit, in der Mitglieder der eigenen Familie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis ermordet wurden? Und was ist – so fragt Milan Kundera explizit – mit 300.000 toten Afrikaner*innen im Verlauf eines Krieges zwischen zwei afrikanischen Reichen im 14. Jahrhundert? Er beendet das kurze erste – in gewisser Weise durchaus programmatische – Kapitel mit dem Satz, dass „in dieser Welt von vornherein vergeben wird und damit alles zynisch erlaubt ist.“ (Übersetzung NR aus der französischen von Milan Kundera revidierten Ausgabe)
Friedrich Nietzsche schrieb in dem Abschnitt „Der Genesende“ von „Also sprach Zarathustra“: „Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt.“ Dies erschwert jeden Altruismus, jede Empathie. Zarathustra spricht wie Franz von Assisi mit Tieren über den Schrecken des Menschen: „Der Mensch nämlich ist das grausamste Tier. / Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden.“ Nietzsche lässt Zarathustra sich selbst ansprechen, denn er als Mensch gehört selbst zu dieser Spezies des grausamsten Tiers: „Denn deine Tiere wissen es wohl, o Zarathustra, wer du bist und werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft –, das ist nun dein Schicksal.“
Kein Mensch entkommt diesem „Schicksal“. Er ist zu allen Taten, allen Morden fähig. In Nietzsches Nachlass aus den 1880er Jahren, in der Ausgabe von Karl Schlechta im dritten Band dokumentiert, findet sich der entscheidende Bezug: „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr‘. / Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig! (…) Wir leugnen Schluss-Ziele: hätte das Dasein eins, so müsste es erreicht sein.“ Die Geschichte verfolgt keine Ziele, die Welt wird nicht von selbst freiheitlicher, demokratischer, rechtsstaatlicher, gerechter, sie ist immer von neuer Barbarei bedroht, aber wir in den sicheren Häfen der sich „westlich“ nennenden Demokratien wollen glauben, dass das Grauen nur an Orten, in Ländern geschehen kann, die wir für barbarisch, minderwertig, noch nicht in der Moderne angekommen, unaufgeklärt halten, nicht jedoch bei uns in Deutschland, in Europa. Aber da es dort einmal geschah, versuchen wir mit der Zeit zu vergessen und uns im Gefühl der eigenen Unschuld zu sonnen.
Die Schuldigen und die Unschuldigen
Dies ist vielleicht der Kern aller Bemühungen, einen „Schlussstrich“ unter die Verbrechen der Vergangenheit zu ziehen und die Augen vor jeder denkbaren Wiederholbarkeit zu verschließen. Nietzsche kritisierte das „Mitleiden“, vielleicht im weitesten Sinne mit Empathie übersetzbar, als Schwäche, nicht im Sinne einer Rechtfertigung von Unrecht und Verbrechen. Das „Mitleiden“ reduziert die Wucht des Terrors, der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – ein Begriff, den Nietzsche noch nicht kennen konnte – auf ein für die Nachkommenden der Täter*innen erträgliches Maß. Gerechtigkeit widerfährt den Opfern auf diese Art und Weise nicht. Eben dies ist auch der Gedanke Milan Kunderas. Was bedeutet die Aufnahme der Ermordung von Tausenden, von Hunderttausenden, von Millionen in die Geschichtsbücher? Und was bedeutet sie für jeden einzelnen der ermordeten Menschen, für dessen Kinder, dessen Enkel*innen?
Doch kann Erinnerung oder das, was wir als Erinnerungskultur pflegen, dazu beitragen, diesen von Nietzsche diagnostizierten Nihilismus zu überwinden? Wie lässt sich überhaupt angemessen, und das heißt in Gerechtigkeit gegenüber den Opfern, gedenken? Gabriele Rosenthal hat bereits in den 1990er Jahren ausführlich zu den Folgen der Shoah für die Überlebenden sowie deren zweite und dritte Generation geforscht. Ein Standardwerk ist der von ihr herausgegebene Band „Der Holocaust im Leben von drei Generationen – Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern“ (erschienen im Psychosozial-Verlag). Die Autor*innen des Bandes versuchten die formalisierten Rituale von „Gedenken“ und „Erinnerung“ im Gespräch mit Überlebenden, deren Kindern und deren Enkel*innen zu dekonstruieren.
In dem programmatischen Essay „Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog“ schreibt Gabriele Rosenthal: „Mit der Ausblendung der Nazi-Verbrechen aus der eigenen Lebensgeschichte und der Familiengeschichte geht einher, dass die Opfer des Nazi-Systems weder als Individuen, noch als Kollektiv Bestandteil der familialen ‚Geschichtsschreibung‘ sind. Diese Ausblendung hat auch ihre Entsprechung in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, in der entweder über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg oder über die Shoah geforscht wird. Die Nazi-Verfolgungspolitik ist auch hier nicht selbstverständlich Bestandteil der Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, sondern eine Spezialdisziplin.“ Dies betrifft – so die Erfahrungen von Gabriele Rosenthal und ihrer Forscher*innengruppe – nicht nur die Täter*innen, sondern, so tragisch es ist, auch die Opfer! Kundera und Nietzsche analysieren das Grundproblem der Verbrechen des Menschen. Die Analyse der Spezifika der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und damit auch die Frage nach ihrer historischen Einordnung wäre der nächste Schritt.
In der Shoah ging es um die physische Vernichtung all derjenigen, die die Nazis als Juden*Jüdinnen definierten. Es ging aber auch um ihre Eliminierung als Menschen. Diese Entmenschlichung begann schon lange vor der Ermordung und dies ist eines der wesentlichen Spezifika der Shoah: Strukturen und Kontinuität des Antisemitismus. Gabriele Rosenthal: „Das Verschwinden der Juden aus der Wahrnehmung und dem Bewusstsein, das Schweigen über die Verfolgung und die damit einsetzende Abwehr von damit zusammenhängenden Gedächtnisinhalten begann schon lange vor der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.“ Gabriele Rosenthal beschreibt vier Phasen, in denen Jüdinnen*Juden aus der Wahrnehmung ihrer Zeitgenoss*innen in der Zeit von 1933 bis 1945 verschwanden, mit nachhaltiger Wirkung auch für die Zeit danach, in der die Täter*innen und ihre Nachfahren diverse Strategien entwickelten, ihre eigene Schuld und Verantwortung zu minimieren. „In der vierten Phase nach dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ korrespondiert die sozial auferlegte Zurkenntnisnahme der Vernichtung mit der Projektion eigener Schuldgefühle auf die Juden. Aus den identitätslosen Kreaturen wurden nun schuldige Juden.“ Täter-Opfer-Umkehr ist das Ergebnis dieses Verdrängungsprozesses.
Gabriele Rosenthal fragt, warum bei historischen und medialen Darstellungen des Pogroms der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zuerst in der Regel die Sachschäden, die zerstörten Geschäfte, die geplünderten Wohnungen genannt werden, erst später – wenn überhaupt – „die gedemütigten, geprügelten und verhafteten Menschen“. Die „Dehumanisierung der Opfer“ geht einher mit dem „Schweigen über alle mit der Verfolgung zusammenhängenden Erlebnisse“. Dies gilt auch für die Seite der Täter*innen. Auch sie erscheinen im Kollektiv, zu dem diejenigen, die darüber sprechen, nicht gehören wollen. „Die Nachgeborenen konzentrieren sich in ihrem Nachdenken eher auf den anonymisierten Mord in den Gaskammern und weniger auf die Situationen, in denen sich Täter und Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, bei den Brutalitäten in den Ghettos, bei Aktionen, bei den Massakern vor Ort und bei den Massenerschießungen.“ Doch das Beschwiegene bricht sich Bahn bei Kindern und Enkelkindern, bei den Opfern wie bei den Täter*innen.
Harald Welzer schreibt in seinem Buch „Täter – Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ (Frankfurt am Main, Fischer, 2005): „Im Ergebnis bedeuten diese normativen Veränderungen, dass eine Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern sukzessive aus dem ‚Universum‘ der allgemeinen Verbindlichkeit ausgeschlossen wird, das für die Anderen, die Zugehörigen zur Mehrheitsgesellschaft, nach wie vor in Geltung ist, nun aber exklusiv wird. Dieser Vorgang ist, wie gesagt, die zentrale Voraussetzung für die Entstehung genozidaler Prozesse.“ Harald Welzer untersucht in seinem Buch in erster Linie die Täter von Babij Jar, bietet aber im Kapitel „Wie und warum man Feinde vernichtet“ auch einen Ausblick auf Täter*innen in Vietnam, Ruanda und Jugoslawien. Auch er verfolgt den Gedanken der Wiederholbarkeit: „Es handelt sich bei kollektiven Gewalttaten in der Regel nicht um unerklärliche Eruptionen, sondern um wiederkehrende soziale Vorgänge mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Schluss, und diese Vorgänge werden von denkenden Menschen und nicht von Berserkern erzeugt.“ Hier schließt sich der Kreis der Reflexionen Milan Kunderas.
Entweder oder – ein binäres Konstrukt
Die Singularität des Menschheitsverbrechens der Shoah hat zwei Dimensionen, das Verbrechen in seiner Gesamtheit sowie das Verbrechen in Bezug auf den jeweiligen einzelnen ermordeten Menschen in seiner beziehungsweise ihrer gelebten und ungelebten Geschichte. Es bleibt – in den Worten Paul Celans: „ein Grab in den Wolken“. Doch was treibt diejenigen um, die versuchen, die jüdischen Opfer des Holocaust aus der Geschichte zu verdrängen, ihnen offenbar nicht einmal das „Grab in den Wolken“ gönnen, um andere, im aktuellen Fall, die Opfer kolonialistischer Verbrechen an ihre Stelle zu setzen? Warum müssen – dieser Eindruck wird in der Debatte um die Opfer des Kolonialismus erweckt – die Opfer des Holocaust beziehungsweise der Shoah in den Hintergrund treten?
Maxim Biller vertritt in dem oben zitierten ZEIT-Artikel eine prägnant formulierte und durchaus provokant gemeinte Position: „Wäre es nicht möglich, dass der Gedanke an den schlimm-schaurigen Holocaust in Wahrheit vor alldem darum gerade die Nichtjuden und Antisemiten aller Kontinente und Großstadt-Ghettos so nervt und erschreckt, weil sie dabei automatisch immer an die Juden denken müssen, an ihre alttestamentarisch strengen, hochmoralischen Todfeinde, und zwar bis ans Ende aller Tage? Und wenn die modernen Ausgestoßen und ihre westlichen Pflichtverteidiger einen Holocaust ohne Juden bekämen, würden sie seine urtümliche, moralische Wucht, seinen ewigen Schrecken vielleicht etwas weniger fürchten? Anders gesagt: Würden sie wenigstens dann endlich damit aufhören, in ständig durch ihre Vergleichsmaschine zu jagen?“
Anders gesagt: warum muss sich „Erinnerung“ oder „Gedenken“ immer in binären Strukturen vollziehen? Warum ist nur das Eine erinnerbar, nicht aber das Andere, warum lässt sich der Erinnerung an das eine Verbrechen nicht die Erinnerung an das andere hinzufügen, so wie Maxim Biller es am Beispiel seiner Großväter und – oder auch Harald Welzer in seinem Täter-Buch – in seinen Bezügen zu Ruanda tat? Die Zeitschrift MERKUR, die – so Untertitel und Anspruch – „als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ gegründet wurde, hat im Oktober und im November 2021 in mehreren Essays eine Kontroverse über dieses Thema gewagt. Anlass war ein Text von Sebastian Conrad in der September-Ausgabe, auf den im Oktober Aleida Assmann, Grande Dame Deutscher Erinnerungskultur, mit ihrem Essay „Wie viel Geschichte braucht die Zukunft“ und Martin Schulze Wessel mit seinem Essay „Zur Singularität des Holocaust“ reagierten. Sebastian Conrad antwortete in der Novemberausgabe unter der Überschrift „Warum die Vergangenheitsdebatte immer noch explodiert“.
Aleida Assmann schlägt vor, von „Erinnerung I und Erinnerung II“ zu sprechen und begründet dies damit, dass „die Welt eine andere geworden“ ist. Sie spricht von einer Zeit von 35 Jahren, in denen Deutschland „ein Einwanderungsland geworden“ ist. Sie bezieht sich auf die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie: „Solange das kulturelle Gedächtnis ausschließlich das speichert und wertschätzt, was nur eine Gruppe der Gesellschaft erfahren hat und versteht, wird die Erfahrungsrealität anderer Mitglieder der Gesellschaft systematisch abgewertet, ja ausgelöscht.“ Das entscheidende Wort lautet „ausschließlich“. Aber wird damit nicht möglicherweise ein solches exklusives und exkludierendes Verständnis von Erinnerungskultur herbeigeredet? Chimamanda Ngozi Adichie argumentiert in ihrem 2013 erschienenen Roman „Amerikanah“ differenzierter. Sie unterscheidet zwischen Erfahrungen des Schwarz-Seins in den USA, in London, in Nigeria. Aleida Assmann macht diese Erfahrungen zu einer allgemeinen Erkenntnis, in der mal die eine, mal die andere Erinnerung im Mittelpunkt des Interesses steht. Gestern achteten wir auf die eine, morgen müssen wir die andere beachten.
Der Subtext ist gefährlich. Kommt es denn wirklich darauf an, was eine Gruppe als zu Erinnerndes durchsetzt? Oder kommt es nicht eher darauf an, wie sich verschiedene Erzählungen in verschiedenen Kontexten aufeinander beziehen, sich gegenseitig ergänzen oder auch gegenseitig verstärken, durchaus im Sinne eines erweiterten Begriffs von Intersektionalität, der sich diesmal nicht nur auf die Diskriminierungen einer einzelnen Person oder einer bestimmten Gruppe bezieht, sondern auf den gesamten Diskurs. Aleida Assmann verwechselt aus meiner Sicht den Gedanken der „Singularität“ der Shoah mit einem „Ausschließlichkeitsgebot“. Ein solches hat niemand gefordert, aber es ist dennoch keine Spiegelfechterei. Sie argumentiert letztlich ahistorisch und verharmlost – wenn auch sicherlich ungewollt – letztlich vergangenen wie heutigen Antisemitismus.
Aleida Assmann verdreht eine Aussage des israelischen Außenministers Jair Lapid, den sie mit dem Satz zitiert: „Antisemitismus ist auch Rassismus“. Ihre Interpretation des Satzes: „Der Holocaust ist absolut einzigartig, aber der Antisemitismus ist es nicht, denn er ist eine Form von Rassismus, wenn auch eine besonders schlimme.“ Die rassistischen Ausprägungen des Antisemitismus sind ein Ergebnis des 19. Jahrhunderts, die dann die Nazis in extenso exekutierten. Antisemitismus hat jedoch eine erheblich umfassendere Geschichte, er hat seine Wurzeln im Antijudaismus der christlichen Geschichte, die vor allem auf die Gnostik und auf Paulus zurückgeht und letztlich die Motive fast aller späteren Ausprägungen bestimmte. Juden*Jüdinnen wurden gleichzeitig als minderwertig und übermächtig diffamiert, eine Kombination, die es sonst für keine einzige Gruppe gibt, sie waren für den Kapitalismus ebenso verantwortlich wie für den Bolschewismus.
„Gewalt eigenen Unrechts“
Chimamanda Ngozi Adichie hielt eine eindrucksvolle Rede zur Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin. Die ZEIT druckte die Rede am 30. September 2021 unter dem Titel „Wer hat das Recht, den anderen auszustellen?“ ab. Von Opferkonkurrenzen ist in diesem Text keine Rede. Es geht – dem Anlass angemessen – um das Recht der Opfer der Kolonialgeschichte, Gehör zu finden: „Ich sprach von Belgien und seiner Kolonialgeschichte, aber was ist mit Deutschland und seiner Kolonialgeschichte? Lernen die Schulkinder hier etwas über Namibia? Über Deutsch-Südwestafrika, über einhundertausend ermordete Herero, vergiftete Brunnen, über Frauen, die als Sexsklavinnen, und andere, die in deutschen Lagern als Arbeitssklavinnen benutzt wurden? Wissen sie von den getöteten Nama und dem Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika, im heutigen Tansania?“
Die Antwort lautet: nein, sie lernen es nicht. Und Chimamanda Ngozi Adichie fordert: „Es ist nur fair, die volle Antwort für beide deutschen Geschichten zu übernehmen.“ Sie vereinfacht ein wenig, indem sie die beiden Geschichten als die Geschichte Bachs und Beethovens sowie die Geschichte der Verbrechen der Vergangenheit benennt. An keiner Stelle ist jedoch davon die Rede, dass das Thema der kolonialistischen Verbrechen die Verbrechen der Shoah in irgendeiner Form in den Schulen ablösen sollte. Wer so denkt, macht sich zum Komplizen der Lehrplanmacher*innen, die der Meinung sind, dass die geringen Stundenzahlen des Geschichtsunterrichts Vielfalt nicht zuließen. Das traurige Schicksal des deutschen Geschichtsunterrichts ist durchaus eine der Ursachen für die aktuellen Debatten um Opferkonkurrenzen. Über den Geschichtsunterricht in anderen Ländern möchte ich jetzt gar nicht reden.
Möglicherweise sollten wir die Frage stellen, warum die Debatte um eine mögliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Kolonialismus und der Erinnerung an die Shoah für manche Deutsche so attraktiv ist. Warum erhalten die Thesen von Dirk A. Moses oder Michael Rothberg, die wie gesagt schon in den 2000er Jahren formuliert wurden, heute so viel Aufmerksamkeit? Steckt dahinter möglicherweise auch schlechtes Gewissen? Die Arbeiten Gabriele Rosenthals lassen dies vermuten. Saba-Nur Cheema hat am 27. Januar 2022 in der ZEIT geschrieben: „Für mich war die Erinnerung an die Schoah nie eine Frage der Abstammung, der Nationalität oder der Hautfarbe. Die Schoah ist nicht nur deutsche Geschichte, sondern eine Menschheitsgeschichte.“ Gleichzeitig plädiert sie für „die Anerkennung des Schmerzes und des Leids anderer Menschengruppen in der Geschichte. Darunter fallen etwa die koloniale Vergangenheit und die Völkermorde des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie ein solcher Ansatz Brücken baut und Zugänge schafft, kann ich aus meiner Erfahrung berichten. Für mich stand die Fluchtgeschichte meiner Eltern nie in Konkurrenz zur Schoah – im Gegenteil. Sie war eine Erfahrung, die das Interesse an der Verfolgung der Juden und anderer Minderheiten in der Nazi-Zeit begründete.“ (Saba-Nur Cheema arbeitet in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, die ich als eine der profiliertesten Einrichtungen historisch-politischer Bildung in Deutschland bezeichnen möchte.)
Martin Schulze Wessel bringt die Frage auf den Punkt: „Das Postulat, die Geschichte der Kolonialverbrechen aufzuarbeiten, ist unabweislich. Aber weshalb soll das Paradigma des Kolonialismus mit dem des Holocaust verbunden werden?“ Haben wir es wirklich „mit einer Entweder-oder-Entscheidung zu tun“? Die Shoah lässt sich – so Martin Schulze Wessel – „mit den Paradigmen des Kolonialismus und Rassismus nicht annähernd angemessen (…) beschreiben.“ Er verweist auf Saul Friedländers Begriff des „Erlösungsantisemitismus“, der sich in der gnostisch-paulinischen Tradition ebenso wie in der Gedankenwelt der Nazis findet, „der Massenmord im Zeichen einer perversen Heilserwartung unterscheidet den Holocaust grundlegend von Formen kolonialer Gewalt.“ Anders gesagt: nur im Antisemitismus, nur in der Shoah, gibt es den leitenden Gedanken, dass die Vernichtung aller – wohlgemerkt aller! – Jüdinnen*Juden die Menschheit retten solle und könne. Die ewige Wiederkunft des antisemitischen Terrors realisiert sich zurzeit im israelbezogenen Antisemitismus mit der Forderung, dass Israel von der Landkarte gestrichen werden möge.
Hier liegt auch ein grundlegendes Problem der Linken. „Denn die Linke in der alten Bundesrepublik stellte den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und den NS-Verbrechen fast immer her, wenn sie gegen Imperialismus oder Rassismus demonstrierte.“ Und sie nutzte ihn, um Nazis, USA und Israel als Imperialisten an den Pranger zu stellen. Juden waren nur als Opfer willkommen, dass sie sich wehrten und in Israel 1967 Gebiete der Staaten, die Israel vernichten wollten, besetzten, war in diesem Bild nicht vorgesehen. Indem Linke Israel Kolonialismus und Imperialismus vorwarfen, ein historisch nicht haltbarer Anwurf, entfernten sie das Gedenken an die Shoah aus ihrem Erinnerungs-Repertoire. Ähnliche Aufrechnungen gab es in den 1970er Jahren, als in Studentenparlamenten und in diversen Kongressen von linker Seite Verbrechen im sowjetischen Herrschaftsbereich, von rechter Seite Verbrechen in den lateinamerikanischen und südeuropäischen Diktaturen geleugnet wurden. Israel hingegen wurde sowohl von der rechten wie von der linken Seite angegriffen.
Martin Schulze Wessel erweitert den Horizont des Erinnerns, Gedenkens und letztlich des Geschichtsunterrichts auch durch die Forderung nach Anerkennung der „deutschen Vernichtungskriege im Osten, die, um nur Beispiele zu nennen, Zerstörung von siebenhundert polnischen Dörfern, die Ermordung von Hundertausenden Zivilisten durch SS und Wehrmacht bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands. Im Geschichtsbewusstsein sind diese Verbrechen noch ähnlich wenig verankert wie die Geschichte kolonialer Gewalt.“ Es gab letztlich keine Unbeteiligten. Doch gibt es einen Ausweg aus der binären Sicht auf die Verbrechen der Vergangenheit? Martin Schulze Wessel zitiert Dan Diner, der die Erinnerung an die Kolonialverbrechen als „Imperativ universeller Humanität und partikularer Schuld“ bezeichnet. „Diese sei ‚Gewalt eigenen Rechts – oder genauer eigenen Unrechts‘, die des Vergleichs mit dem Holocaust nicht bedarf, um Anerkennung zu bewirken.“
Sebastian Conrad antwortet auf Martin Schulze Wessel, er habe nicht den Eindruck erwecken wollen, die Singularität des Holocaust in Frage zu stellen. „Mir ging es vielmehr darum, zu klären, warum aktuell so oft von einem Entweder-Oder die Rede ist, warum diese Fragen gerade jetzt ‚zum Gegenstand einer erbitterten, häufig polemischen Auseinandersetzung‘ geworden sind.“ Er spricht von weiteren „Blindstellen“, zu denen auch die Erinnerung an die DDR-Geschichte gehöre, „die angesichts der Verve der NS-versus-Kolonialismus-Diskussion aus dem Blickfeld geraten ist“. Und er versucht, die aktuelle Debatte um die Erinnerungskultur aus der in Folge der Black-Lives-Matter-Bewegung entstandenen Debatte um den Rassismus abzuleiten. „In erster Linie wird die Dynamik vom Moment der Erinnerungs-Produktion getrieben, erst in zweiter Linie von der Vergangenheit, an die erinnert wird.“
Also sollten wir über die Produzent*innen von Erinnerung und ihre Interessen sprechen. Und dies ist nicht mehr eine rein historische, sondern eine ausgesprochen politische Debatte. Ich stimme Sebastian Conrad zu: „Erinnerungsdebatten kreisen um aktuelle gesellschaftliche Konflikte. Unterschiedliche Vorstellungen davon, was erinnert werden soll und wie, korrespondieren immer auch mit politischen Positionen“. Phasenmodelle oder Typologien nach dem Muster einer „Erinnerung I“ oder „Erinnerung II“, eine Liste, die beliebig erweiterbar wäre und geradezu zu Hierarchisierungen einlädt, helfen dabei nicht.
„Geschichtsgeschichten“ – inklusive Geschichtspolitik
Die Shoah ist Dreh- und Angelpunkt deutscher Erinnerungskultur, in doppelter Hinsicht: einerseits ist die Shoah nach wie vor der zentrale Gegenstand deutscher Erinnerungskultur, andererseits aber auch die Folie für diverse Debatten, wie intensiv man sich mit der Shoah oder darüber hinaus oder alternativ mit anderen Groß-Verbrechen beschäftigen solle. Die „Faulenbach-Formel“, die auch Aleida Assmann zitiert, mag helfen, Kontroversen um Opferkonkurrenzen temporär zu befrieden, doch kann sie ebenso als Ausflucht benutzt werden. Geschichte ist ein politischer Kampfplatz, jenseits der „Faulenbach-Formel“.
Es ließe sich darüber nachdenken, ob die Debatte um Konkurrenzen oder Hierarchien in der individuellen oder kollektiven Erinnerung eine typisch deutsche Debatte ist, vor allem aber auch eine Debatte, an der sich in erster Linie Deutsche mit Verve beteiligen. Da sich deutsche Wissenschaftler*innen jedoch scheuen, die Relevanz der Shoah öffentlich zu relativieren, zitieren sie gerne Expert*innen aus anderen Ländern als Gewährsleute. Anders kann ich mir nicht erklären, dass an der Schwelle zwichen dem zweiten und dritten Jahrzehnt der 2000er Jahre ein bisher weitgehend unbekannter australischer Historiker und ein ebenso wenig bekannter US-amerikanischer Literaturwissenschaftler in Deutschland mit Thesen, die sie schon vor etwa 10 bis 15 Jahren entwickelt hatten, so populär werden konnten. Black Lives Matter und die nicht nur durch die Eröffnung des Humboldt Forums eröffneten Alternativen lassen sich im Sinne einer Relativierung durchaus instrumentalisieren. Ebendies scheint zu geschehen, und es ergibt sich die folgende entscheidende Frage: geht es um eine ehrliche Anerkennung deutscher Kolonialverbrechen und anderer vergleichbarer Verbrechen. Oder geht es um den Versuch, die Bedeutung der Shoah in Frage zu stellen?
Ein weiteres Argument in dieser Debatte ist die Frage, ob Menschen, die nicht in Deutschland geboren oder erst entweder selbst oder mit ihren Eltern eingewandert sind, etwas mit der Shoah verbinden. Ihnen wird sogar oft pauschal unterstellt, dass sie die Geschichte der Shoah nicht interessiere. Die Erfahrungen der diversen NS-Gedenkstätten in Deutschland belegen das Gegenteil. Das Interesse ist hoch. Viola B. Georgi und Rainer Ohliger haben sich bereits in den 2000er Jahren mit dem Thema befasst, gemeinsam in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Crossover Geschichte – Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft“ (Hamburg, edition Körber-Stiftung, 2009), Viola B. Georgi explizit in ihrer Dissertation „Entliehene Erinnerung – Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland“ (Hamburger Edition 2003).
Bodo von Borries gab seinem Beitrag zur „Crossover Geschichte“ den provokanten Untertitel „Opas Schulunterricht ist tot“. Ich denke, er meint einen Geschichtsunterricht, der chronologisch vorgeht, deutsche Geschichte in extenso lehrt, unabhängig davon, was in anderen Kontinenten und Weltregionen geschah. Alles, was in Europa und in der Welt geschah, wird in irgendeiner Weise auf die deutsche Geschichte bezogen. So tot ist dieser Geschichtsunterricht natürlich nicht, ein Blick in Lehrpläne und Unterrichtspraxis reicht. Den Untertitel meint Bodo von Borries daher durchaus ironisch: „Dieser Konflikt ist bisher niemals so recht ernst genommen worden, weil die dominante, hegemoniale, eben ‚imperialistische‘ Lösung (national, elitär, christlich, europäisch) von der Masse der Geschichtslehrer niemals zureichend reflektiert und relativiert, sondern – autoritätsgläubig – als ‚wissenschaftlich‘, als ‚die Geschichte selbst‘, übernommen worden ist. Selbst die Frauenbewegung ist daran weitgehend gescheitert. Angesichts der Inter-Kulturalität und der vielen Einwanderer dürfte das erstmals nicht mehr so perfekt gelingen.“
Voraussetzung für die Auflösung des traditionellen Geschichtsbildes wäre allerdings, dass die jungen Menschen in den Schulen, die Leser*innen und Konsument*innen von historischen Dokumentationen in den diversen Medien nachfragen und vor allem auch wissen, was sie fragen sollten. Ein junger Geschichtslehrer erzählte mir einmal, dass ein dem Namen nach türkeistämmiger Schüler in der ersten Stunde zum Thema NS-Zeit fragte, wie die Türken denn nach Deutschland gekommen seien. Das war ein anderes Thema, aber nach der Devise, dass Störungen Vorrang haben, hat eine Antwort auf diese Frage geholfen, vielleicht ein umfassenderes Bild der Geschichte in Deutschland, die eben nicht nur deutsche Geschichte ist, zu finden.
Das eine Thema schließt das andere nicht aus, aber vielleicht eröffnet die Beschäftigung mit dem einen auch das Interesse für das andere, jenseits aller Vergleiche. Viola B. Georgi hat in „Entliehene Erinnerung“ ihre Gespräche mit elf jungen Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund dokumentiert, die eindeutig belegen, dass allein schon die Konnotationen, Assoziationen oder Analogien, die ihnen angesichts der Thematisierung der NS-Zeit und der Shoah helfen, eine differenzierte Sicht der gesamten Geschichte ermöglichen. Einem Schüler erging es so, als er den Film „Schindlers Liste“ auf kurdische Geschichte bezog. Zu berücksichtigen wären – so Viola B. Georgi in „Entliehene Erinnerung“ – „mehrere Erinnerungsgemeinschaften“, die sich durchaus verbinden ließen. Viola B. Georgi stimmt der Analyse von Seyla Benhabib zu, „dass durch die Formen der Reproduktion von Vergangenheit im Erzählen von Beschichten eine Standortbestimmung in der Gegenwart vorgenommen wird“ (Seyla Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, in: Dan Diner, Hg., Zivilisationsbruch – Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988). Eine solche „Standortbestimmung“ ist nur möglich, wenn Geschichte im Plural gelehrt wird.
Viola B. Georgi verweist auf das Konzept „Konfrontationen“, das vom Fritz Bauer Institut „in Anlehnung an das amerikanische Konzept ‚Facing History and Ourselves: Holocaust and Human Behaviour‘ (1994) entwickelt“ worden ist. Dieses Konzept überwindet den traditionellen und rein kognitiv ausgerichteten Schulbuch-Geschichtsunterricht. „Das Programm unterscheidet sich von herkömmlichen Methoden historisch-politischer Bildung, weil es die ‚Geschichtsgeschichten‘ über NS-Zeit und Holocaust bewusst in den Geschichtsunterricht integriert. Fiktional-projektive Momente der Geschichtsaneignung werden als unverzichtbare Bestandteile historischen Lernens erkannt und bearbeitet.“ Künstlerische, kulturpädagogische Ansätze können in der Tat dazu beitragen, dass das Verständnis von Geschichte sich diversifiziert. Geschichte wird nicht gepredigt, sondern erarbeitet, erfahren, mit allen diversen Optionen, vielleicht auch kontrafaktisch vermittelt. Dies eröffnet auch inter- und transkulturellen Ansätzen Raum.
Viola B. Georgi schreibt in „Crossover Geschichte“: „Über die Aneignung, Annahme oder Abgrenzung von der Geschichte des Nationalsozialismus wird Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft verhandelt, behauptet, in Frage gestellt oder zurückgewiesen.“ Rainer Ohliger ergänzt: „Multiperspektivische Migrationsgeschichte ist auch die Geschichte der Mehrheitsgesellschaft und des Einwanderungslandes selbst.“ Wird deutsche Geschichte und somit auch die Shoah jedoch als essenzialisierende Dominanzgeschichte gelehrt, die unbeschadet der deutschen Täter*innen nur Deutsche etwas angehe, die dieses Thema aber als gefühlte „Erinnerungsweltmeister“ schon weitestgehend abgearbeitet hätten, stehen die vielfältigen Geschichtsbilder, die Schüler*innen in den Unterricht aus ihren Familien oder auch aus diversen Medien mitbringen, konfrontativ und unaufgelöst nebeneinander. Dann geschieht was Nevim Çil in ihrem Beitrag zur Sicht „türkischstämmmiger Jugendlicher auf Mauerfall und Wiedervereinigung“ schreibt: „Die Verengung auf das Türkischsein ist keineswegs eine Selbsterfindung der Migrantenkinder, sondern geht auf die Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft zurück, werdende Deutsche als bereits gewordene Deutsche zu begreifen.“ Wie man es in den Wald hineinruft, schallt es hinaus. Martin Liepach warnt in seinem Beitrag zur „Crossover-Geschichte“ davor, dass Migration „vorrangig als Thema für Migranten wahrgenommen“ wird. Dies wäre dann eine doppelte „Verengung“. Carlos Kölbl fragt nach dem Wissen über die Geschichte von Ein- und Auswanderung bei deutschen Jugendlichen einerseits und bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund andererseits. Es gibt natürlich nicht nur zwei „Geschichtsgeschichten“, eine deutsche und eine migrantische, sondern ganz viele.
Historikerstreit 2.0 – Fischer-Kontroverse 3.0
Steffen Klävers hat 2019 bei de Gruyter seine Dissertation mit dem programmatischen Titel „Decolonizing Auschwitz? – Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung“ veröffentlicht. Die Arbeit ist 2021 als Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Seinen Vortrag vom 8. Februar 2022 kündigte er mit dem Untertitel an: „Warum postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung scheitern“. Es wäre sicherlich interessant darüber nachzudenken, ob dieses „Scheitern“ ein politisches oder ein wissenschaftliches „Scheitern“ ist oder von beidem etwas in sich hat. Seine Frage: „Handelt es sich tatsächlich in beiden Fällen, also NS und Kolonialismus, um zwar graduell unterschiedliche, aber dennoch nicht nur ähnliche, sondern gleichartige Beispiele von rassistisch begründeter Herrschaft und Gewalt?“ Bezogen auf einen Text von Aram Ziai aus dem Jahr 2016 in dem von diesem bei transcript herausgegebenen Band „Postkoloniale Politikwissenschaft – Theoretische und empirische Zugänge“ fragt Steffen Klävers weiter: „Warum spricht Ziai zwar von rassistischer, aber nicht von antisemitischer Gewalt?“
Amin Ziai weist mit Recht darauf hin, dass die kolonialistischen Verbrechen in deutschen Schulen nicht Gegenstand des Unterrichts sind, dass die Nachkommen der im Völkermord deutscher Militärs an den Ovaherero und Nama nach wie vor weder angemessen gewürdigt noch – auch dies ein niemals angemessener Begriff – „entschädigt“ wurden. Die Frage nach der Singularität des Holocausts, der Shoah hingegen scheint Amin Ziai zu verneinen. In der Tat gab es auch schon vor 1933 Konzentrationslager, aber mit einer solchen Argumentation sind wir wieder mitten im Historikerstreit der 1980er Jahre, als wäre ein Verbrechen erst dann ein Verbrechen, wenn die Täter*innen auch die Erfinder*innen jeder einzelnen Grausamkeit sind, die sie begingen.
Dieser Aspekt ließe sich vielleicht sogar im Sinne der Fischer-Kontroverse der frühen 1960er Jahre interpretieren und wir könnten über die Kontinuitäten imperialistisch-kolonialistischer Politik und ihrer Methoden in Deutschland und in Europa nachdenken. Kernpunkt ist jedoch – so Steffen Klävers – die Anmerkung Amin Ziais und anderer Kolonialismusforscher*innen, es habe sich bei den ermordeten Juden*Jüdinnen um „weiße Europäer*innen“ gehandelt und die Beschäftigung mit der Shoah wäre daher „eurozentristisch“. Und damit sind wir wieder bei der Frage, warum eine Würdigung kolonialistischer Verbrechen so oft mit einer zumindest impliziten Abwertung der Opfer der Shoah einhergehen muss. Lässt sich nur so die angemessene Aufmerksamkeit erzeugen? Oder geht es in Wirklichkeit um etwas anderes, nämlich eine Anklage gegen Israel als imperialistisch-kolonialistisches Projekt?
Steffen Klävers referiert mehrere Versuche zur Politisierung des Holocausts, beispielsweise die ständigen Vorwürfe, dass Juden*Jüdinnen und jüdische Organisationen aus der Shoah im doppelten Sinne Kapital schlagen wollten und würden. Jeder Übergriff israelischer Polizist*innen oder Soldat*innen in den besetzten Gebieten, jede Antwort der israelischen Regierung auf Angriffe palästinensischer Kämpfer*innen wird ohne weiteres Nachdenken mit der NS-Politik verglichen. Steffen Klävers: „Auffällig ist auch, dass postkoloniale Studien sich in Bezug auf die Geschichte des sogenannten Nahostkonflikts selten bis gar nicht mit islamischem Imperialismus oder islamischem Antisemitismus auseinandersetzen, sondern lediglich mit einer Kritik des Zionismus und / oder der israelischen Politik befasst sind (…)“. Die ahistorische Anwendung des „Apartheid“-Begriffs auf die israelische Siedlungs- und Besatzungspolitik – beispielsweise durch Achille Mbembe oder Anfang Februar 2022 durch Amnesty International – gehört ebenso dazu wie die Leugnung der Vertreibungen jüdischer Araber*innen aus fast allen arabischen Staaten sowie dem Iran nach 1947, die Nathan Weinstock in „Der zerrissene Faden – Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947-1967“ (Freiburg / Wien, ça ira, 2019) ausführlich dokumentierte.
Steffen Klävers dekonstruiert diverse Versuche, eine hierarchische Beziehung zwischen Shoah und anderen Verbrechen wie den Kolonialverbrechen herzustellen. Er versucht dies, indem er fragt, ob der Genozidbegriff geeignet wäre, „die historischen Spezifika des Holocausts“ zu erfassen. Seine Antwort ist negativ: „Somit wird der millenaristische Antisemitismus als Spezifikum des Nationalsozialismus verschleiert und geht der Holocaust auf in eine Reihe von (subalternen) ‚Genoziden‘ (…)“. Er beruft sich auf eine Formulierung von Dan Diner, die dieser unter anderem in seinem Buch „Gegenläufige Gedächtnisse – Über Geltung und Wirkung des Holocaust“ (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007) äußerte: „Wie unter der Hand wird der so seiner Geschichtlichkeit entblößte Holocaust – das zum bloßen Exempel verallgemeinerte Ereignis Auschwitz – zu einem Genozid unter anderen mutieren“.
Im Grunde dreht Steffen Klävers den sprichwörtlichen Spieß um. Gerecht wird er damit dem berechtigten Anliegen, die kolonialistischen Verbrechen in der deutschen Erinnerungskultur, im Geschichtsunterricht der Schulen zu verankern, ebenso wenig wie seine wissenschaftlichen Konkurrent*innen. Mehr als berechtigt ist jedoch seine Frage: „Warum wurde die deutsche Kolonialgeschichte so lange als lediglich marginal abgetan?“ Dies geschah nicht wegen der Shoah, sondern – so wage ich es zu formulieren – völlig unabhängig von der Shoah. Von Kolonialverbrechen wussten in Deutschland nur einige wenige Historiker*innen zu berichten, weil in Schulen und anderswo die Mär verbreitet wurde, dass es so gut wie keine deutschen Kolonien gegeben hätte. Die Namen auf den Straßen diverser sogenannter afrikanischer Viertel in deutschen Städten, die Bezeichnung eines Lebensmittelgeschäfts als Kolonialwarenladen, all dies wurde nicht mit der verbrecherischen Wirklichkeit des deutschen Kolonialismus verbunden. Zielführender ist Steffen Klävers Verweis auf einen Text von Monika Schwarz-Friesel und Evyatar Friesel aus dem Jahr 2012 mit dem vielsagenden Titel „Gestern die Juden, heute die Muslime….?“ „‘Bei einem heterogenen Vergleich‘, so schreiben sie, ‚werden zwei Vergleichsgrößen aus unterschiedlichen Realitätsbereichen in Beziehung zueinander gesetzt (…).“
Für Diversität in der historischen Forschung und in der Bildung
Fazit: Mord ist Mord, Völkermord ist Völkermord, politische Programme, die zur Vernichtung von Menschen oder sogar zur Vernichtung von ganzen Gruppen von Menschen aufrufen, sind verbrecherisch. Das eine Verbrechen ist nicht die Blaupause des anderen. Letztlich handelt es sich bei der Debatte um die Sichtbarkeit der Kolonialverbrechen nicht um eine wissenschaftliche, sondern um eine politische Debatte. Die Förderung einschlägiger Forschung zu Kolonialverbrechen ist in den letzten Jahren ausgeweitet worden, dank des Engagements afrodeutscher, afroamerikanischer sowie afrikanischer Wissenschaftler*innen, Expert*innen und Politiker*innen, die sich zunehmend Gehör verschaffen können. Und dieses Engagement wäre zu stärken, aber eben nicht zu Lasten des Engagements zur Forschung und Erinnerung an die Shoah.
Es sollte eigentlich das Ziel jeder historischen Forschung sein, die Leiden der Opfer zu würdigen, die Motive und Taten der Täter*innen zu erfassen und daraus ein Gesamtbild zu entwickeln. Die Perspektive der Opfer fehlt jedoch ständig. Dies wird schon allein an der Sprache deutlich, wenn immer von Kollektiven gesprochen wird, so gut wie nie von einzelnen Menschen. Dies wird dann den Zeitzeug*innen überlassen, die in Schulen und anderswo über die Shoah berichten oder an Gedenktagen in Parlamenten und Festsälen eine Rede halten. Manche Zeitzeug*innen der Shoah sind inzwischen weit über 90 Jahre alt, viele leben nicht mehr. Zeitzeug*innen der Kolonialverbrechen leben schon lange nicht mehr. Dennoch sollten ihre Biografien eine zentrale Grundlage sowohl für die historische Forschung als auch für politisches Bewusstsein sein.
Die Frage, was Menschen dazu antrieb, bei vollem Bewusstsein, mit klarer Zustimmung zu dem, was sie taten, andere Menschen nur aus dem einen Grund, dass sie einer anderen Gruppe angehörten als sie selbst, zu schikanieren, zu verfolgen, zu vertreiben und zu ermorden, ist vielleicht die zentrale Frage historischer Forschung, die auch die politische und gesellschaftliche Sicht auf die Verbrechen der Vergangenheit erweitern sollte. Solche Forschung macht nicht glücklich, sie schafft keinen Frieden. Fara Dabhoiwala schreibt in ihrem Essay mit dem Titel „Imperialer Selbstbetrug“ (in: MERKUR 870, November 2021): „Wie es einmal jemand formulierte: Wenn Geschichte zu studieren einen vor allem glücklich und stolz macht, dann studiert man wahrscheinlich nicht wirklich Geschichte.“
Arno Gruen beschrieb in seinem Buch „Der Fremde in uns“ (Stuttgart, Klett-Cotta, 2000) eine Art Programm für eine diverse Geschichtspolitik. Er hält fest, dass „der Nationalsozialismus eine Vorgeschichte hatte und das 20. Jahrhundert die Beweggründe für eine solche Entwicklung bereits in sich trug.“ Dem wurde unser Geschichtsunterricht nie gerecht: „Wir wurden in einem Denken erzogen, dass der Größe an sich einen besonderen Wert zuspricht. Das Töten auf dem Schlachtfeld zum Beispiel gilt als anerkennenswerte Tat, die die Größe eines Feldherrn bezeugt. Die Geschichtsbücher verschweigen das entsetzliche menschliche Leid, das damit angerichtet wurde. Fusionen von Unternehmen werden als Geniestreich von Wirtschaftsmagnaten gelobt, ungeachtet der Auswirkungen, die sie auf die Arbeitsverhältnisse haben. Die Größe des Profits wird zum übergeordneten Wert, der alles andere in den Schatten stellt.“
Die Tatsache, dass Kolonialismus und Shoah, Völkermord in Armenien und Ruanda und anderswo – wer vermag schon, eine vollständige Liste zu erstellen –, dass Menschen morden und dass die Mörder*innen ganz konkrete, ganz „normale“ Menschen (Christopher Browning) waren und sind, darum geht es. Sicherlich ist die Versuchung groß, alles Geschehene mit Zahlen, in einem einheitlichen System, in Hierarchien und binären Begriffen zu erfassen, um das Unerträgliche erträglicher zu gestalten. Der historischen Forschung und ihrer Rezeption in der Politik täte es gut, mehr Diversität zu wagen und die Geschichte der Opfer und der Täter*innen in der zweiten oder auch dritten oder vierten Generation zu verfolgen. Arno Gruen und Gabriele Rosenthal zeigen, welchen Beitrag die Psychologie dazu zu leisten vermag. Die „lange Dauer“, die „longue durée“ (Fernand Braudel) von Traumatisierung und Re-Traumatisierung sollte Forschungsziele und Erinnerungskulturen bestimmen. Schlussstriche kann es niemals geben, auch die Shoah ist immer möglich, Antisemitismus und Kolonialismus, Sklaverei und andere „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ haben immer wieder Konjunktur, doch der Teufel kommt niemals zweimal durch dieselbe Tür.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Februar 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 9.2.2022.)