Vermächtnisse der Bukowina

Reflexionen zur Shoah bei Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger

„Ist ‚Heilung‘ überhaupt möglich und angemessen als Wort, um diese Handlungserfahrung zu beschreiben? Unabhängig davon, ob wir uns im Rahmen des Möglichen oder des Unmöglichen befinden, erweist sich die Akzeptanz der schrecklichen Realität als eine gestalterische Fähigkeit, in der vorhandenen Zeit anders unterzukommen und für sich Spielräume zu (er)finden. Anders gesagt, in der Dunkelheit wird ein Danach geformt. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Prozess ohne Metaphern beschreiben kann.“ (Kateryna Mishchenko, Erste Gedanken an Heilung, veröffentlicht im Oktober 2024 auf der Plattform „Weiter Schreiben“)

Die Plattform „Weiter Schreiben“ gibt Autor:innen, die durch Krieg und Terror ihre Heimat verloren haben, die Gelegenheit, in dem Land ihres Exils weiter zu schreiben. Kateryna Mishchenko ist Ukrainerin. Die Autorin engagiert sich unter anderem im Verlag Medusa. Sie stellt eine, vielleicht sogar die entscheidende Frage, die sich allen stellt, stellen müsste, die versuchen, den Schrecken von Terror und Krieg in Worte zu fassen, ihn literarisch – so heißt es empathiereduziert oft – aufzuarbeiten.

Die Ukraine, nicht zuletzt die West-Ukraine, ist die Heimat eines bedeutenden Teils der deutschsprachigen Literaturgeschichte, die zugleich eine Geschichte der von Jüdinnen und Juden geschriebenen Literatur ist. Ein geradezu mythisch aufgeladener Ort ist Czernowitz, nicht nur, weil Czernowitz einer der größten jüdischen Gemeinden Osteuropas Heimat war. Die verschiedenen Schreibweisen des Ortsnamens spiegeln die wechselvolle Geschichte der Stadt, deutsch auch Tschernowitz, ukrainisch Чернівц / Tscherniwzi, russisch Черновцы / Tschernowzy, rumänisch Cernăuţi, polnisch Czerniowce, jiddisch טשערנאָװיץ Tschernowitz). Die Stadt liegt am Fluss Pruth in der Landschaft der Bukowina, die wiederum ein Teil des ebenso mythisch aufgeladenen Galiziens ist.

What Poems and Music Can Tell

Norbert Gutenberg hat für die Edition Noack & Block zwei Bände gestaltet, die einer Autorin und einem Autor gewidmet sind, die in der Bukowina, in Czernowitz aufgewachsen sind: Paul Antschel, bekannt als Paul Celan, und Selma Meerbaum-Eisinger. Beide schrieben in deutscher Sprache, beide repräsentieren eine mit der Shoah zerstörte Kultur, die deutschsprachige jüdische Kultur in Osteuropa.

Paul Celan überlebte die Shoah und wurde zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker, Selma Meerbaum-Eisinger erlebte nach ihrem frühen tragischen Tod im Lager Michailowka ihre Wiederentdeckung nicht mehr, gehört aber nach einer aufregenden Überlieferungs- und Publikationsgeschichte zu den berühmten in deutscher Sprache schreibenden Autorinnen und Autoren der Bukowina. Wer mehr über die Biographien von Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger wissen möchte, greife zu den bei Hentrich & Hentrich erscheinenden „Jüdischen Miniaturen“. Helmut Braun schrieb das Buch „Selma Meerbaum – ‚Ich will nicht sterben‘“, Gernot Wolfram den Band „Paul Celan – Der Dichter des Anderen“.

Bevor ich im Detail auf die beiden Bände von Gutenberg eingehe, erlaube ich mir einige grundsätzlichen Überlegungen, im Anschluss an den Gedanken von Kateryna Mishchenko. Ist es möglich, über die Shoah, über einen Genozid ohne Metaphern zu schreiben oder sind Metaphern unabdingbar, um Unsagbares in irgendeiner Art lesbar und hörbar, weniger unerträglich zu machen?

Diese Frage belastet alle, die die Shoah in ihre Texte aufnehmen, im Übrigen weil sie wohl gar nicht anders können, als sie, wenn sie schreiben, aufzunehmen: Wie lässt sich über den Schrecken, den Terrorregime und Milizen dieser Welt verbreiten, sprechen oder schreiben? Oder müssen wir Adornos Diktum aus dem Jahr 1951 akzeptieren, nach Auschwitz wäre es „barbarisch“, Gedichte zu schreiben? Oder ist es doch nicht eher so, dass gerade Gedichte helfen, die Welt wieder neu zusammenzusetzen, zumindest den Anschein einer neu zusammengesetzten Welt zu erzeugen? Wolfgang Hildesheimer deutete in seinen Frankfurter Vorlesungen (Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1969) an, dass Gedichte oder kurze an Gedichte mahnende Prosaformen (unter anderem am Beispiel der „Maulwürfe“ des in seiner NS-Vergangenheit umstrittenen Günter Eich) helfen könnten. Seine zweite Vorlesung überschrieb Hildesheimer mit „Das absurde Ich“: „Das absurde Ich konstatiert die greifbaren Dinge in seiner Welt, es stellt Überlegungen an über ihre oft rätselvolle Funktion und definiert das eigene Verhältnis zu ihnen.“

Ein Gedicht wie „Todesfuge“ von Paul Celan, vielleicht das bekannteste Gedicht zur Shoah in deutscher Sprache überhaupt, lässt diesen Gedanken vertiefen. Eine „Fuge“ verbindet als Musikstück wie als Bauelement Unverbundenes, verschachtelt es, kittet, aber in der Verbindung mit dem „Tod“ mahnt sie als „Todesfuge“ an den Zivilisationsbruch der Shoah (Dan Diner), mit der die Welt wohl für immer aus den Fugen geraten ist. Provokativ gefragt: Gäbe es eine Zukunft für Hamlet?

Nicht nur für Hamlet. Das Volk der Êzîd:innen erlitt 74 Genozide. Ronya Othman sucht in ihrer Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Êzîd:innen in ihren Romanen und in ihren Gedichten einen geeigneten Modus und findet Hybride von Roman, Geschichtsbuch, Reportage und Autobiographie. Diese Mischung spiegelt die Unsicherheit, die geeignete literarische Gattung zu finden. Im Zentrum landet immer wieder das „Ich“. Es ist und bleibt in höchstem Maße persönlich. Lena Gorelik formulierte diesen Gedanken in ihrer Poetikvorlesung „Ich schreibe weil ich glaube ich bin“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2024): „So wie alles, was ich schreibe, ein Text ist und es andere sind, die eine Gattung darüber legen, Roman, autofiktionaler Roman oder autobiographischer Roman, als könne man den fiktionalen Anteil mit einem Lineal vermessen, Essay, Geschichte, aber ich, ich warte einfach, bis ich diese Stimme hören kann, die Melodie. Bis ich nur noch zu tippen brauche, was die Stimme diktiert, Worte, Töne, Zwischentöne, Pausen, Lücken, den Text.“ Überleben in der Literatur, im literarischen, im poetischen Schaffen?

Aber was kann die Kunst, was darf sie, was soll sie leisten? Peter E. Gordon stellte im New York Review of Books vom 17. Oktober 2024 in dem Essay „Music and Memory” ein Buch von Jeremy Eichler vor: „The Second World War, the Holocaust, and the Music of Remembrance” (Knopf, 2024). Gegenstand des Buches sind unter anderem „Ein Überlebender von Warschau“ von Arnold Schoenberg, die „Metamorphosen“ von Richard Strauss, das „War Requiem“ von Benjamin Britten und der erste Satz der 13. Symphonie in B-Moll op. 113 von Dmitri Schostakowitsch, der mit einem Chor beginnt, der auf einem Gedicht von Yevgeny Yevtuschenko über die Ermordung von über 33.000 Jüdinnen und Juden durch Wehrmacht und SS am 29. und 30. September 1941 in Babyn Yar beruht. Paul Celan hat dieses Gedicht ins Deutsche übersetzt: „Über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk. Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.” (zitiert nach Natan Sznaider, Erst wurden die Opfer ermordet, dann die Erinnerung – Über das Gedenken an die jüdischen Opfer in Babi Jar, in: Jüdische Allgemeine 7. Oktober 2016.)

Peter E. Gordon schreibt: „No historical interpretation, no matter how elaborate, will succeed in nailing down its meaning once and for all.” Natan Sznaider stellt fest, dass Juden in der sowjetischen Erinnerung keinen Platz hatten. Katja Makhotina und Franziska Davies nannten dies eine der „Offenen Wunden Osteuropas“, denen sie in ihrem gleichnamigen Buch nachgingen (Darmstadt, WBG Theiss, 2022). Peter E. Gordon nennt das Zeitfenster, das Dmitri Schostakowitsch im Jahr 1962 nutzen konnte, in seiner Symphonie zugleich an die von den Nazis ermordeten Juden zu erinnern und an das sowjetische Vergessen. Aber die Aussage Adornos bleibt auf der Tagesordnung und muss stets von Neuem erörtert werden: „But we must ask: Are there any limits to what art can tell? Are some events simply too gruesome for aesthetic transfiguration? Is writing music after Auschwitz ‚barbaraic’, as Adorno famously said about poetry.” Und was bleibt von Czernowitz? Czernowitz liegt heute im Westen der Ukraine. Es gibt eine höchst aktive Germanistik in der Ukraine, die nicht nur an die deutsche Sprache erinnert, sondern auch an die in der Region mit ihr verbundene jüdische Kultur. Das österreichische Außenministerium fördert diese Erinnerung, in Deutschland weiß man davon nur unter Spezialist:innen.

Die Shoah ist die Shoah ist die Shoah

Metaphern, Bilder, Allegorien – all dies sollen Schüler:innen im Deutschunterricht analysieren, aber damit landen sie in einer literarischen Sackgasse. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich im Deutschunterricht zu Beginn der 1970er Jahre, als Gymnasiast in der Oberstufe, ein Gedicht, das ein Autor geschrieben hatte, von dem meine Mitschüler und ich damals nicht mehr wussten als dass er dieses Gedicht geschrieben hatte, auf Metaphern untersuchen sollte, es war „Todesfuge“ von Paul Celan. Was hat es auf sich mit „schwarze Milch“, „Meister aus Deutschland“, „Grab in den Lüften“, „dein aschenes Haar, Sulamith“?

In meiner Schulzeit kamen Auschwitz, die Zeit des Nationalsozialismus, im Übrigen nicht vor. Dass Walter Scheel zum 30. Jahrestag des 8. Mai 1945 von „Befreiung“ sprach, merkte kaum jemand. Erst zehn Jahre später platzierte Richard von Weizsäcker den Begriff der „Befreiung“ erfolgreich in der deutschen Erinnerungskultur, allerdings noch ohne das Bekenntnis, wie viele Deutsche die Nazis bei ihrem Vernichtungswerk unterstützten. Ob mein Deutschlehrer wusste, was es mit „Todesfuge“ auf sich hatte, weiß ich nicht. Ich vermute, eher nein, oder vielleicht wollte er es als Schüler des erst spät wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittenen Bonner Germanisten Benno von Wiese auch nicht wissen. Das Gedicht stand eben im Lesebuch, ebenso wie andere Lesebuchgedichte, die Autor oder Autorin verschwinden ließen (das Schicksal von Ingeborg Bachmanns „Reklame“ ließe sich als weiteres Beispiel nennen, auch dies ein Gedicht, in dem Schüler:innen viel zu oft etwas such(t)en, was es darin gar nicht gibt, und darüber das Eigentliche verpassen). Erst mit der Zeit wurde mir klar, dass es in „Todesfuge“ keine einzige Metapher gibt, keine Allegorien. Alles ist real. Was tranken die in Auschwitz eingesperrten Menschen? Was geschah mit den Ermordeten? Wie nannten sich die SS-Aufseher? Und die „Asche“?

Die Edition Noack & Bock in der Frank & Timme GmbH hat – wie auch mit anderen ihrer Publikationen – den Mut, ein Buch zu veröffentlichen, das mit den vielen mysteriösen Versuchen der Interpretation von Literatur aufräumt. Sie hatte den Mut, das von Norbert Gutenberg herausgegebene Buch „Celan und die Anderen – Eine Anthologie zur Todesfuge“ zu veröffentlichen. Das Buch bietet viel mehr als der bescheidene Titel vermuten lässt. Norbert Gutenberg war Professor für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung an der Universität des Saarlandes. Er hat eine Einführung geschrieben, die im Titel die Begriffe „Metaphern- und Sprachengeflechte“ nennt, die er auch in der Literatur über das Gedicht vorfand. Woher diese beiden Begriffe stammen, lässt sich – so scheint es – nicht mehr im Detail ermitteln.

Letztlich erinnert mich das Vorgehen von Norbert Gutenberg an Susan Sontags Essay „Against Interpretation“ sowie ihre Plädoyers, dass Krankheiten keine „Metaphern“ sind. Krankheiten sind Krankheiten sind Krankheiten – so ließe sich vielleicht in Anlehnung an Gertrude Steins Rose sagen. Oder: Die Shoah ist die Shoah ist die Shoah. Susan Sontag schrieb: „Wirkliche Kunst hat die Eigenschaft, uns nervös zu machen. Indem man das Kunstwerk auf seinen Inhalt reduziert und diesen dann interpretiert, zähmt man es. Die Interpretation macht die Kunst manipulierbar, bequem.“ (Zitiert nach der Übersetzung von Mark W. Rien, in: Susan Sontag, Kunst und Antikunst – 24 literarische Analysen, Fischer Taschenbuch Verlag, 1982.) Worte verlieren Klarheit, Prägnanz, Wirklichkeit, wenn sie nur als Metaphern gelesen werden.

Die Singularität von „Todesfuge“

Norbert Gutenberg geht noch einen Schritt weiter. Er versteht „Todesfuge“ nicht nur als Gedicht, sondern – unter Bezug auf die Pittsburgher Komparatistin Amy-Diana Colin – auch als Kaddisch, in der Melodie erinnere „Todesfuge“ an einen Tango. Das Gedicht ermöglicht somit ein synästhetisches Erlebnis des Sprechens und Singens über die Shoah, sei aber von dem mittelalterlichen Genre des „Totentanzes“ abzugrenzen. „Todesfuge“ und andere Gedichte Celans verbänden sich im „Bezug zur Mutter Celans“: „Die Todesfuge war für Celan das einzige Grabmal für seine Mutter!“

„Todesfuge“ ist – so führt Gutenberg seinen Gedankengang fort – einzigartig im Werk Celans wie im Werk zeitgenössischer Autor:innen, die sich in ihren Texten ebenfalls mit der Shoah auseinandersetzten. Gutenberg belegt die herausgehobene Stellung von „Todesfuge“ (nicht nur) im Werk von Paul Celan, indem er versucht, solche Parallelen in Gedichten von Paul Celan selbst sowie von 13 anderen internationalen Autor:innen in Tanach und Siddur zu suchen. So fand er einen anonymen Text in deutscher, englischer und französischer Sprache („Das Todestango“, „Le Tango de la Mort“, „The Deathtango“), der zwar nicht aus Auschwitz, sondern aus dem Lager Janowska bei Lemberg stammt und möglicherweise Celan inspiriert haben könnte. Nachweisbar ist dies nicht, aber plausibel. In seiner Einleitung kommentiert Gutenberg mögliche Vergleiche. Ein Beispiel: „‚O die Schornsteine‘ von Nelly Sachs ist ein schlagender Beweis für die These, dass identische Erfahrungen zu zumindest ähnlichen sprachlichen Verarbeitungen führen.“

Gutenberg teilt die Auffassung mehrerer Interpret:innen, „die Shoah-Gedichte wörtlich zu nehmen: aus der gleichen Erfahrung resultieren gleiche oder ähnliche Sprachbilder.“ Allerdings versteht er dies nicht als Argument gegen die Singularität von „Todesfuge, die Gutenberg mehrfach hervorhebt: „Die zentralen Motive der Todesfuge kommen in keinem anderen Gedicht vor: die schwarze Milch, das Grab in den Lüften (nur einmal heißt es ‚das Grab in den Wolken‘), der Mann, der mit den Schlangen spielt, der Tod, der ein Meister aus Deutschland ist, Margarete mit dem goldenen und Sulamith mit dem aschenen Haar.“

Drei Überschriften verwenden den Begriff „Metapherngeflecht“: „Das bukowinische Metapherngeflecht“, „Das außerbukowinische Metapherngeflecht“ und „Das (nicht nur) bukowinische Sprachgeflecht“, dieses mit neun Übersetzungen ins Rumänische, Ukrainische, Jiddische, Französische, Russische, Englische, Iwrit, Italienische, Portugiesische. Eine Literaturliste und Kurzbiografien der vorgestellten Autor:innen runden den inhaltlichen Teil ab.

Liest man „Todesfuge“ als religiösen Text, wie Gutenberg mit Amy-Diana Colin sagt, als Kaddisch, liegt auch der musikalische Gedanke nicht fern, zumindest im zu wählenden Vortragsstil, auch in der Prosodie. Diesen findet er in weiteren Texten, zum Beispiel „Die Blutfuge“ von Moses Rosenkranz, der „Todesreigen“ von Immanuel Weißglas“ oder auch Paul Celans Gedicht „An den Wassern Babels (Chanson juive)“. Das Musikalische ist ein Modus des Sprechens, des Vortrags, es ist kein Bild, keine Metapher und schon gar keine Allegorie. Es ist kein Verweis auf die Praxis in einer Synagoge oder bei einem jüdischen Begräbnis, es ist was es ist: Ein Epitaph für sechs Millionen ermordete Juden, wie meines Erachtens sonst nur noch in Elfriede Jelineks grandios-gigantischem Roman „Die Kinder der Toten“ gibt oder in Schostakowitschs 13. Symphonie.

Der Klang der Sprache: Eine Besonderheit, die Gutenbergs Buch ein Alleinstellungsmerkmal gibt, sind die Tonaufnahmen, die über QR-Codes abgerufen werden können. Auch die Links sind gelistet. Das Buch profitiert von Gutenbergs Expertise als Sprechwissenschaftler und Sprecherzieher. Mit dieser Expertise eröffnet Gutenberg einen völlig neuen Blick auf das Gedicht, denn er weiß zu vermitteln, was es bedeutet, ein solches Gedicht zu hören und wie schwer es sein mag, es überhaupt zu sprechen. Er unterscheidet den Vortrag eines Gedichtes vom Vortrag eines Theaterschauspielers. Ihm ist es gelungen, unter diesem Kriterium ausgezeichnete Sprecher:innen zu gewinnen, auch für die Übersetzungen.

Mit Recht kritisiert Gutenberg die Ansicht von Günter Grass, als dieser den Vortrag von Paul Celan in der Gruppe 47 im Jahr 1952 in Niendorf nicht verstand oder vielleicht auch nicht verstehen wollte. „Grass erzählt von ‚priesterlicher‘ Stilisierung durch Kerzenanzünden beim Vorlesen.“ Ein Teilnehmer soll sogar gesagt haben, Celan lese wie Goebbels und alle hätten gelacht. Ob das stimmt, lässt sich nicht mehr überprüfen, aber die Anekdote belegt selbst wenn sie nur erfunden ist immerhin, wie Unverständnis die Gedichte Paul Celans begleitete und auch heute noch begleitet. Paul Celan war ein Außenseiter. Dass in der Gruppe 47 Menschen, die im Exil überlebt hatten, nicht sonderlich geschätzt wurden, hat Nicole Seifert in ihrem Buch „… und einige Herren sagten etwas dazu“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2024), belegt.

Über Celans Vortragsstil schreibt Gutenberg: „Diese Formhöhe der Sprache verlangt einen Sprechstil der gleichen Kategorie. Dass Celan darüber hinaus auch noch sich als Dichterorakel zelebrierte, seine Gedichte wohl auch selbst als auratisch empfand und sich gerne George-haft inszenierte, muss einen wie Grass natürlich befremdet haben. Dass er nicht versteht, dass die Celan’schen Gedichte nicht einfach sachlich abgelesen werden dürfen, sondern den hohen Ton brauchen, das ist schon irritierend. Dass aber Grass von Pathos nichts versteht, das sieht man an seiner hohlen Hymne ‚Ich singe dich, Espede.‘ Celan wäre das nicht passiert.“

Mit den letzten beiden Sätzen sind wir allerdings auch bei einem kleinen Problem des Buches. Norbert Gutenberg formuliert mitunter recht polemisch, man merkt seiner Sprache an, dass er sich über manche Einlassungen sehr geärgert haben muss. Mit Recht. Das Unverständnis und der Unwille zahlreicher Autoren der Gruppe 47 ist bekannt. Mit Autor:innen, die sich mit der Shoah auseinandersetzten oder diese gar im Exil überlebt hatten, konnten Hans-Werner Richter und Kollegen nicht viel anfangen. Deshalb sind die harten Formulierungen Norbert Gutenbergs auch angemessen. „Celans Gedichte vertragen keinen sachlichen, unterkühlten, reduzierten Sprechstil; so etwas ist ihnen völlig unangemessen. Es muss nicht, z.B. bei der Todesfuge, die Art sein, wie Celan das Hymnische realisiert, aber der Klagehymnus muss erklingen.“

Ich empfehle, sich das Buch zu Hause an einen Ort zu legen, an dem man immer schnell zugreifen kann, um die darin enthaltenen Texte zu lesen und – das gehört dazu – zu hören! Dies wird den Zugang zu Paul Celans Gedicht erleichtern, nicht zuletzt auch zu ihm als Autor. „Todesfuge“ ist kein „Theater“, auch wenn – so Gutenberg – Schauspieler:innen beim Vorlesen von Gedichten gerne Theater spielen. „Celans Stil hat damit nichts zu tun! Er mimt überhaupt nichts. Mag sein, er klingt für Heutige zu sakral, aber die Formhöhe ist für die Texte unentbehrlich. Wie gesagt: „What Art Can Tell!” Peter E. Gordon: „We are strange creatures gifted with two kinds of inventiveness for killing and for creating. Our capacity for violence seems boundless, but so too our capacity for art.” Realismus pur!

Chasak – Sei stark

Im Falle von Paul Celan stand ein einziger Text im Vordergrund, im Fall von Selma Meerbaum-Eisinger stellt Norbert Gutenberg alle Gedichte der Autorin vor. Auch dieses Buch verdient zu Hause einen herausgehobenen Platz. Die Ausgabe der Gedichte soll an den 100. Geburtstag der Autorin erinnern. Das Cover ziert die Skulptur von Selma Meerbaum-Eisinger von Wolodymyr Cisaryk, die am 7. Mai 2023 in Czernowitz enthüllt wurde. Wir sehen eine junge Frau, die ein Buch umarmt, an dem sie sich vielleicht sogar festhält, vielleicht ein Zeichen für ihr Überleben in der Literatur.

Gutenberg beschreibt die Unterschiede zu anderen Ausgaben. Grundlage sei für ihn das auf der Plattform von Jad Vashem vorhandene digitalisierte Original gewesen, das über einen QR-Code auch im Buch verfügbar wird. Gutenbergs Ausgabe trägt den Titel „Blütenlese – Gilu! – Alle Gedichte“. Auch in diesem Band kann man die Gedichte hören und man sollte diese Gelegenheit nutzen. Sie werden von Anabel Möbius vorgetragen, sie sich auch an dem Celan-Band beteiligt hatte. Jedem Gedicht folgt ein QR-Code.

Norbert Gutenberg befasst sich mit der literarischen und musikalischen Qualität der Gedichte, thematisiert aber auch den politischen Hintergrund des nationalsozialistischen Terrors. Gleich in der Einführung verweist er auf inhaltliche Diskrepanzen, die die die Gedichte Lesenden und Hörenden irritieren könnten. Es geht um das einfach klingende Wort „Weh“. „Natürlich hat Selma mit ‚Weh‘ nicht die Shoah gemeint, sondern ihren Liebesschmerz. Aber nach ihrem eigenen Schicksal als Opfer in der Shoah kann man die Zeile nicht mehr lesen, ohne an das große jüdische Weh zu denken, und im Klang ihres Liedes hört man die Klage darüber mit.“ Wir wissen natürlich nicht, ob Selma Meerbaum-Eisinger in diesem Begriff nicht doch auch mehr sah als nur die Gefühle der jungen Frau, die sie nun einmal war, als sie das Gedicht schrieb. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass individuelle und über-individuelle Gefühle sich nicht miteinander vermischen. Damit ist noch nichts darüber gesagt, was die junge Dichterin empfand, als sie die Gedichte schrieb.

Liest man das mit „Wiegenlied“ überschriebene Gedicht, wird der mehrfache Schriftsinn in den Gedichten sehr deutlich. Dieses Gedicht ist höchst aktuell, es ließe sich auch als ein Kommentar zum 7. Oktober lesen (und war Gegenstand einer unter anderem vom Rezensenten mitgestalteten literarischen und musikalischen szenischen Collage zum 7. Oktober, die von der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten gefördert wurde). Norbert Gutenberg kommentiert: „Besonders das ‚Wiegenlied‘ ist erstaunlich, weil es ein völlig unromantisches Verständnis von Alija und zionistischer Siedlung dokumentiert.“ Obwohl Selma Meerbaum-Eisinger wohl in ihrem Leben nie einen Araber gesehen hat, war ihr klar, dass die Jüdinnen und Juden, die nach Palästina ausgewandert waren, dort nicht in Frieden lebten. Von den Pogromen des Jahres 1936 muss sie gewusst haben. Die vierte Strophe dieses Gedichtes lautet: „Sieh die Araber in weißem Gewand / sie schleichen von hinten sich an. / Bald steht das Zelt, bald die Wiege in Brand. / bald schreien Kranke im Wahn.“ Im Gedicht folgen Widerstand und Hoffnung: „Doch nein. Dein Vater und viele mit ihm, / sie hüten dein Glück. / Sie geben für dich ihr Leben hin / und ihren letzten Blick.“ In der letzten Strophe lassen der „Pflug in der Hand“ und die nächtliche „Wacht“ ein gutes Ende erhoffen, ein Ende, das Selma Meerbaum-Eisinger selbst nicht erlebte.

Den Anspruch der zionistischen Bewegung, etwas Neues aufzubauen, sodass Jüdinnen und Juden in Sicherheit leben konnten, lässt sich in dem aus dem Lager Michailowka erhalten Brief Selma Meerbaum-Eisingers an ihre Freundin Renée Abramovici finden, der mit dem Wort „Chasak“ endet, in deutscher Übersetzung „Sei stark“. Dies war – wie Amy-Diana Colin in ihrem programmatisch mit „Chasak“ überschriebenen Beitrag ausführt – der „Gruß der zionistischen Bewegung“. An dem Gymnasium, das Selma Meerbaum-Eisinger besuchte, befand sich auch „der Sitz des jiddischen sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungsvereins ‚Morgenroit‘“. Sie „war auch Mitglied der zionistischen Jugendorganisation ‚Haschomer-Hazair‘“.

Märchen, Gedichte und die Fantasie

Amy-Diana Colin zitiert Jürgen Serke, dessen Sammlung im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen zu sehen ist und der Selma Meerbaum-Eisinger, Rose Ausländer und Paul Celan zum „literarischen Dreigestirn der Stadt Czernowitz“ zählte. Sie referiert die mit dem grundlegenden Artikel von Jürgen Serke vom 8. Mai 1980 im „Stern“ beginnende deutsche Editionsgeschichte, das große Interesse auf der einen Seite, die Probleme, einen Verlag zu finden, auf der anderen Seite. Jürgen Serke finanzierte „auf eigene Kosten einen Privatdruck in 400 Exemplaren“. Nicht zuletzt sorgten mit der Zeit „theatralische Aufführungen“ und Lesungen, vor allem von Iris Berben, eine der besten Sprecherinnen deutscher Literatur, dafür, dass die Gedichte in Deutschland immer bekannter wurden.

Die Editionsgeschichte der Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers hat eine Vorgeschichte. Es gibt eine geradezu abenteuerliche Überlieferungsgeschichte, die Amy-Diana Colin detailliert beschreibt und in der Freundinnen eine Rolle spielten, die die Shoah überlebten, Else Schächter und Renée Abramavoci, sowie ihr Lehrer Hersch Segal, der auch der erste Herausgeber ihrer Gedichte war. Amy-Diana Colin nennt einige der Fragen, die Hersch Segal beschäftigten: „Wieso schrieb eine junge jüdische Lyrikerin, die in Rumänien zur Welt gekommen war, deutsche Gedichte? Welche Rolle spielte die Dichtung und insbesondere das Schreiben deutschsprachiger Gedichte in ihrem Leben? Warum schrieb sie überhaupt deutsche Gedichte zu einer Zeit, da deutsche Nazis und rumänische Faschisten im Zuge der Besetzung ihrer Geburtsstadt fast dreitausend Juden ermordet hatten und die Überlebenden in ein Ghetto trieben, um sie von dort in die Vernichtungslager in Transnistrien zu verschleppen?“ Diese Fragen wären auch genau die Fragen, die sich Historiker:innen, Literaturwissenschaftler:innen, auch Künstler:innen eigentlich automatisch stellen dürften, wenn sie die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger lesen. Es geht letztlich immer um die Frage der Durchdringung des Coming of Age einer jungen Frau in einer aus den Fugen gebrachten Welt.

Selma Meerbaum-Eisinger war nicht einsam mit ihrem Schreiben. Der an der Universität Czernowitz lehrende Literaturwissenschaftler Petro Rychlo beschreibt in seinem Beitrag den „Czernowitzer Dichterkreis“, in dem sie verkehrte. Es handelte sich nicht um eine fest gefügte Organisation, sondern eher um eine informelle Form, sich untereinander auszutauschen. Es trafen sich fast ausschließlich Mädchen, aber auch Paul Antschel spielte eine tragende Rolle. Man las Gedichte, Szenen aus Dramen, trug eigene Gedichte vor. Petro Rychlo vergleicht in seiner Analyse die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger, Rose Ausländer und Paul Celan. Journalismus und Wissenschaft befassten sich nach dem erwähnten Artikel von Jürgen Serke mit Selma Meerbaum-Eisinger, wenn auch zunächst „zögerlich“. Immer wieder „wird vor allem die frappierende Schicksalsähnlichkeit mit Anne Frank betont, aber auch Versuche unternommen, Selmas Gedichte aus dem ästhetischen und poetologischen Standpunkt her zu charakterisieren.“

Gleichviel, ob man nun Anne Frank oder Selma Meerbaum-Eisinger in den Vordergrund einer literarisch motivierten Erinnerung an die Shoah stellen mag, so bleibt auch die Frage, was mit Texten vieler anderer Frauen und Männer geschah, die nicht über die bekannten Zufälle der Nachwelt überliefert wurden. Insofern werden Anne Frank und Selma Meerbaum-Eisinger auch zu Stellvertreterinnen und Botinnen all derjenigen, die von den Nazis und ihren Helfershelfern ermordet wurden. Bei Selma Meerbaum-Eisinger kommt – wie auch bei Paul Celan – hinzu, dass sie Bot:innen einer untergegangenen Kultur sind, der Kultur jüdischer Autor:innen und Künstler:innen deutscher Sprache in der Bukowina.

Vielleicht passt das Gedicht „Märchen“ mit seiner zweiten Strophe am besten zu diesem Gedanken: „So geht wohl jedes Märchen aus. / denn sonst – ist es nicht wahr: / Einer allein in den Wind hinaus / und die Nacht ist sein Altar.“ Lebte sie ein Märchen? Hoffte sie auf ein Märchen? Das Märchen, das Theodor Herzl versprach, wenn Jüdinnen und Juden nur wollten, hat viele Formen, Wirklichkeit zu werden, nicht zuletzt in der Literatur. Norbert Gutenberg lässt diesen Gedanken anklingen, wenn er den wesentlichen Unterschied seiner Ausgabe zu anderen Ausgaben benennt. Amy-Diana Colin habe ihn inspiriert, „Selmas Originaltitel mit dem Titel ihres chronologisch ersten Gedichts zu kombinieren: ‚Gilu‘. Das Wort bedeutet ‚Freut euch‘ und bezeichnet einen Tanz, den Selma in ihrem Text beschreibt.“ Eben diese Freude war vielleicht die Hoffnung, die Selma hatte, als sie ihr Manuskript bei der Deportation ihrem Freund Lejser Fichmann zusteckte.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2025, Internetzugriffe zuletzt am 20. Juni 2025. Das Titelbild zeigt die Universität Czernowitz in der Zwischenkriegszeit, unbekannter Fotograf. Wikimedia Commons.)