Zeitzeugen der medizinischen Forschung

51 (nicht nur) jüdische Biographien und der 7. April 1933

„Es ist kein Wunder, dass mein Vater, der zusammen mit den anderen elf wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem RKI entlassen wurde, nie ein Wort über sein Leben in Berlin, seine frühe Forschungsarbeit und seine Hoffnungen und Träume für seine berufliche Zukunft sprach.“ (Susan Loewenthal Lourenço in ihrem „Geleitwort“ zum Band „Erinnerungszeichen – Remembering“, Museum im Robert-Koch-Institut)

Das Schweigen über erlittenes Leid ist nichts Ungewöhnliches und Gegenstand der Biografieforschung. Thema sind unter anderem Trauma und Traumatransfer, ein eigener Bereich ist die Displaced-Persons-Forschung. Doch wie gelingt es, die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache zu bringen? Manchmal sind es Gegenstände, die die Geschichte erahnen lassen. Susan Loewenthal Lourenço erwähnt ein Mikroskop, das ihr Vater im Londoner Exil, das zum Zuhause wurde, regelmäßig benutzte. Das Mikroskop steht jetzt im Science Museum in London, das Doktordiplom schenkte Susan dem Robert-Koch-Institut (RKI): „Aber über sein Leben in Berlin und seine Zeit in Würzburg, wo er im Fach Zoologie promoviert hatte, hat er nie gesprochen – ebenso wenig über seine zahlreichen Veröffentlichungen, die er vor der Emigration publiziert hatte.“ Wer solche Gegenstände sammelt, nicht unbedingt materiell, sondern virtuell über Gespräche, Reisen, Lektüren, setzt ein Gesamtbild einer Zeit zusammen, sodass die Hoffnungen, der Terror, das Leid, die Bedingungen, unter denen Menschen lebten und handelten, sichtbar werden.

Benjamin Kuntz, Historiker am RKI, sammelt für Biografien, eine akribische Arbeit, vergleichbar der Suche nach vermissten Puzzle-Stücken oder Mosaik-Steinen. Jede einzelne Biografie ergibt das Bild eines Menschen, die Gesamtheit der Biografien ergibt das Bild ihrer Zeit. Zuletzt gestaltete Benjamin Kuntz gemeinsam mit Harro Jenss, Sabine Hock, Antje Buchwald und Annette Hinz-Wessels zwei Sammelbände mit insgesamt 51 Biografien für den Bereich der Medizin und das Schlüsseljahr 1933. Der Band „Erinnerungszeichen“ dokumentiert das Leben der zwölf jüdischen Wissenschaftler:innen am Robert-Koch-Institut, neun Männer und drei Frauen, die die Nazis 1933 aus dem Institut vertrieben. Unter den 39 in den Jahren 2020 und 2021 porträtierten „Charakterköpfen“, alles Männer, waren nicht nur Opfer des nationalsozialistischen Terrors, einige trugen maßgeblich dazu bei, dass ihre jüdischen Kollegen entlassen wurden.

Das RKI und der Nationalsozialismus

Stelen in der Eingangshalle des RKI. © Robert-Koch-Institut.

Benjamin Kuntz gestaltete im Verlauf des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ in der Reihe des Museums im Robert-Koch-Institut den Band „Erinnerungszeichen – Remembering“, wie auf der Titelseite zu lesen ist: „Im Gedenken an die zwölf jüdischen Mitarbeitenden, die 1933 das Robert-Koch-Institut verlassen mussten“. Der Band ist in einer zweisprachigen deutsch-englischen Ausgabe verfügbar. Zu jeder Biografie gibt es auf der Seite des Museums einen Podcast. Jede Biografie schließt mit einem Hinweis auf die genutzten Quellen. Im Eingangsbereich des RKI erinnert eine Gedenkstele, die aus zwei Teilen besteht, die rechts und links vom zentralen Treppenaufgang positioniert sind.

Annette Hinz-Wessels, Autorin von Büchern zur Medizingeschichte in der NS-Zeit, beispielsweise zur Tiergartenstraße 4, zur Zwangssterilisation und zu den NS-Erbgesundheitsgerichten, beschreibt in einem kurzen Beitrag die Geschichte des RKI in der Zeit vor dem und im Nationalsozialismus, die auch Gegenstand ihres im Jahr 2008 im Berliner Kulturverlag Kadmos erschienenen Buches ist. Ein Schwerpunkt ihres Beitrags sind „Humanexperimente“, Versuche an Menschen, „die der Erforschung des eugenisch-rassenhygienischen Grundkonzeptes dienten, auf das sich die nationalsozialistische Ideologie gründete.“ Einer der verantwortlichen Mediziner war der damalige Präsident, Eugen Gildemeister, der am 8. Mai 1945 unter nicht geklärten Umständen sein Leben verlor. Einer der Täter wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Andere Beteiligte wurden zum Teil zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, unter anderem im „Nürnberger Ärzteprozess“, kamen aber im Jahr 1955 wieder frei. Manche nahmen ihre Tätigkeit im RKI wieder auf. Während der Prozesse und in der Haft genossen die Täter die Solidarität ihrer Kollegen.

Der Band „Erinnerungszeichen“ enthält Vorworte von Lothar H. Wieler, dem ehemaligen Chef des RKI, und Susan Loewenthal Lourenço, Tochter von Hans Loewenthal. An dieser Stelle sollten die Namen der von den Nazis Vertriebenen genannt werden: Georg Blumenthal, Liesbeth Lenneberg, Ulrich Friedemann, Fritz Kauffmann, Alfred Cohn, Hans Munter, Lucie Adelsberger, Hans Loewenthal, Walter Levinthal, Werner Silberstein, Rochla Etinger-Tulczynska, Ludwig Kleeberg. Der einzige Grund der Vertreibung: sie waren Juden und Jüdinnen. Rechtsgrundlage war das am 7. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Annette Hinz-Wessels berichtet: „Protestbekundungen von nichtjüdischen Institutskollegen oder Vorgesetzten gegen das staatliche Vorgehen sind nicht dokumentiert. Die Mehrzahl der Wissenschaftler am RKI, die vielfach ihre berufliche Laufbahn als kaiserliche Kolonial- und Militärärzte begonnen hatte, war deutschnational eingestellt.“ Verbunden mit den Entlassungen waren eine Umstrukturierung des Instituts und die Installierung NS-loyaler Führungspersonen.

Benjamin Kuntz beendet jedes Portrait mit einem Hinweis auf die Verdienste der vertriebenen Wissenschaftler:innen im Exil. In Berlin blieben nur zwei der zwölf Vertriebenen. Hans Munter starb im Jahr 1935 an einem Magengeschwür. Georg Blumenthal war kurze Zeit noch als „Frontkämpfer“ – eine Ausnahme, die Reichspräsident Hindenburg durchsetzte – und durch seine Ehe mit der „Nichtjüdin Agnes Heinrich“ geschützt. Er überlebte in Berlin im Untergrund. Georg und Agnes Blumenthal gründeten eine nach ihnen benannte Stiftung, „aus deren Mitteln bis heute die serologische Forschung am RKI gefördert wird.“ 1956 erhielt Georg Blumenthal das Große Verdienstkreuz zum Bundesverdienstorden.

Nicht allen gelang unmittelbar nach ihrer Entlassung die Flucht, Lucie Adelsberger blieb bei ihrer Mutter. Sie wurde im Mai 1943 deportiert und „zur Arbeit als Häftlingsärztin im ‚Zigeuner- und Frauenlager‘ von Birkenau‘ gezwungen“. Benjamin Kuntz empfiehlt ihre von Eduard Seidler herausgegebenen Erinnerungen an Auschwitz, „ein bewegendes Dokument des Holocaust“, das 2001 in Bonn im (leider 2022 liquidierten) Bouvier-Verlag erschien. Er selbst widmete ihr eine der im Verlag Hentrich & Hentrich erschienenen „Jüdischen Miniaturen“.

Alle anderen blieben im Exil, in den USA, im Vereinigten Königreich, in Dänemark, in Israel und in einem Fall in Rom. Nur Liesbeth Lenneberg arbeitete nach ihrer Heirat in Italien nicht mehr in ihrem ursprünglichen Beruf. Möglicherweise halfen manchen Wissenschaftler:innen ihre Forschungskontakte, das Deutsche Reich rechtzeitig zu verlassen. Ulrich Friedemann arbeitete als leitender Bakteriologe am Brooklyn Jewish Hospital. Ebenfalls in New York City tätig war Alfred Cohn als Leiter des bakteriologischen Labors im New Yorker Montefiore Hospital. Der dritte Wissenschaftler, der nach einem Zwischenspiel in den Niederlanden seinen Weg nach New York fand, war Ludwig Kleeberg. Er arbeitete am New York Post-Graduate Medical School and Hospital. Fritz Kauffmann wurde der Namensgeber eines bedeutenden Preises der dänischen Mikrobiologie. Hans Loewenthal war eines der Gründungsmitglieder des britischen Royal College of Pathologists. Walter Levinthal arbeitete in Edinburgh im Labor des Royal College of Physicians. Werner Silberstein „bekleidete hohe Position innerhalb des israelischen Gesundheitssystems“ und trug zum Aufbau der Zentrallabore in Israel bei. Er wurde Ehrenbürger Jerusalems und starb im Alter von 101 Jahren. Rochla Etinger-Tulczynska emigrierte über Italien nach Palästina, war zunächst als Bakteriologin tätig und hatte „eine Arztpraxis mit angeschlossenem Privatlabor“, dessen Ergebnisse sie auch „in internationalen Fachzeitschriften“ veröffentlichte.

Jüdische Biografien im Verlag Hentrich & Hentrich

Der Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich nennt sich mit Recht „Der Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte“ (Hervorhebung: NR). Inhaberin ist Nora Pester. Der Verlag hat inzwischen weit über 300 Bände in der von Heinrich Simon eingerichteten Reihe der „Jüdischen Miniaturen“ herausgegeben, schmale Bände von in der Regel etwa 100 Seiten, mit einer sehr anschaulich gestalteten Bebilderung, aufschlussreiche und gut lesbare Biografien von Jüdinnen und Juden, die als Künstler:innen, als Wissenschaftler:innen, als Politiker:innen wirkten, darunter viele, an die sich leider heutzutage ausschließlich Fachleute erinnern.

Benjamin Kuntz ist einer der Autoren der „Jüdischen Miniaturen“. Er hat bereits sieben Bände der Reihe gestaltet, die Biografien von Lucie Adelsberger, Walter Blumenfeld (mit Andreas Jüttemann), Kurt Huldschinsky, Julius Morgenroth (mit Harro Jenss), Georg Peritz (mit Hans Michael Straßburg), Lydia Rabinowitsch-Kempner (mit Katharina Graffmann-Weschke) und Gustav Tugendreich. Gemeinsam mit Harro Jenss veröffentlichte er in einem etwas größeren Format den Band „Frankfurter Charakterköpfe“, der 39 Biografien anhand der Scherenschnitte von Rose Hölscher enthält. Fünf Biografien schrieb Sabine Hock. Das Buch besteht aus drei Teilen, einer Einführung in das Leben von Rose Hölscher (1897-1965), die Kurzbiografien, die jeweils die von den Porträtierten signierten Scherenschnitte zeigen. Die Erstausgabe der Scherenschnitte erschien 1921 mit dem Titel „Frankfurter Charakterköpfe / Aus der medizinischen Fakultät“.

Exkurs: Eine kurze Geschichte des Scherenschnitts

Der dritte Teil der „Frankfurter Charakterköpfe“ ist ein Beitrag der Kunsthistorikerin Antje Buchwald, mit dem Titel: „Von Scherenschnitten, Schattenrissen und Physiognomik: Der kunsthistorische Kontext“. Sie bietet eine kurze Geschichte des Scherenschnitts, eine heute weitgehend ausgestorbene Kunstsparte. Sie war lange Jahre Vorsitzende des Deutschen Scherenschnittvereins, der sich im Januar 2019 jedoch auflöste, weil niemand mehr bereit war, für den Vorstand zu kandidieren.

Cover der Originalausgabe 1921. © Universitätsbibliothek Frankfurt.

Scherenschnitte sind mehr als eine Kunstsparte, sie haben auch etwas mit Psychologie zu tun, indem sie mit Hilfe der Physiognomie einen Menschen erkunden. Einer der Väter dieser physiognomisch-psychologischen Erkundungen war der Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801). Eine etwas andere Motivation trieb den Marquis Etienne de Silhouette (1709-1767): „Der ehemalige Finanzminister zog sich auf sein Schloss in Bry-sur-Marne zurück und dekorierte wohl dessen Wände mit selbst ausgeschnittenen Schattenrissen.“

Scherenschnitte waren schon im 18. Jahrhundert und auch danach etwa das, was im 19. und im 20. Jahrhundert Fotografien wurden. Höchste Präzision ist erforderlich, auch im Unterschied zur Fotografie, die sich wiederholen oder auch inzwischen bearbeiten wenn nicht verfälschen lässt, sodass die Fotografierten sich so zeigen können, wie sie selbst gesehen werden möchten oder wie die Fotografierenden sie präsentieren wollen. Verwandte als wissenschaftlich ausgegebene Disziplinen waren die „Kranioskopie (‚Lehre von der Schädelvermessung‘) beziehungsweise Phrenologie (‚Seelenlehre‘)“. Diese „unterstellte einen Zusammenhang zwischen Schädel- und Gehirnform sowie Charakter- und Geistesanlagen; beide ‚Lehren‘ wurden Anfang des 20. Jahrhunderts zu rassistischen Theorien pervertierte, wie auch die Physiognomik.“

Rose Hölscher. Scherenschnitt von Lotte Cracknell. © Zeitschrift des Deutschen Scherenschnittvereins 3.V. Nr. 8 (Mai 1998).

Rose Susanna Hölscher – dies erfahren wir aus dem einleitenden biographischen Text des Buches – besuchte Schulen in Montabaur, in Straßburg und in Frankfurt am Main, dort das erste Mädchengymnasium der Stadt. Sie studierte in Bonn Medizin, anschließend in Tübingen und in Frankfurt. Sie wurde mit einer Arbeit zum Thema „Klink und Pathologie des Melanosarkoms“ promoviert, lebte später in Hamburg, wo sie ihren Mann, den habilitierten Internisten Ernst Friedrich Müller kennenlernte. Die beiden heirateten 1929 in Chicago, kehrten aber nach Hamburg zurück. Nach dem 7. April 1933 verlor Ernst Friedrich Müller als Jude seine Arbeitsstelle. Es gelang dem Ehepaar, nach New York zu flüchten. Die Technik des Scherenschnittes erlernte Rose Hölscher in den Jahren 1919 bis 1921 bei Lotte Cracknell (1898-1951). Antje Buchwald beschreibt Cracknells Technik „ohne Vorlage und Vorzeichnung. Die Schere fest in der rechten Hand haltend, hielt sie das Papier in der linken gegen die Schere. Es ist anzunehmen, dass Rose Hölscher ähnlich verfuhr.“

Rose Hölscher „fertigte nicht nur Scherenschnitte an, sondern auch Federzeichnungen, die als Postkarten in den Handel kamen. Beide Techniken erfordern ein Höchstmaß an Konzentration und künstlerischem Geschick. Denn weder Schere noch Feder und Tinte erlauben Korrekturen.“ Antje Buchwald bezeichnet das Buch – sie spricht von einem „Büchlein“ – von Rose Hölscher als „ein bibliophiles Rarissimum“ und ein „Zeugnis Frankfurter Medizingeschichte und jüdischen Geisteslebens.“ Die Scherenschnitte entstanden – so sagt die Künstlerin – eher zufällig, „ohne besondere Absicht“, sie sind alle mit Autogramm der Portraitierten versehen.

Dokument der Zeitgeschichte

Die 39 Biografien stellen die portraitierte Person vor, ergänzen in einem Kasten Informationen zur Familie und benennen die Quellen. Jede Biografie beschreibt detailliert wissenschaftlichen Werdegang und Verdienste der Portraitierten. Im Mittelpunkt steht jedoch das Jahr 1933, das jüdischen Wissenschaftlern jede Existenzgrundlage nahm, während die nichtjüdischen Wissenschaftler zum Teil profitierten, zum Teil aber auch unauffällig weiterlebten.

In ihrer Gesamtheit ergeben die Biografien ein authentisches Bild des Wissenschaftsbetriebs – wenn man ihn so nennen möchte – in den 1920er und 1930er Jahren und der Verquickung mit dem nationalsozialistischen Terror. Ich wage den Versuch, aus meiner sicherlich subjektiv geprägten Lektüre der Biografien ein Panorama der Zeit rund um das Jahr 1933 abzuleiten, das anregen soll, sich intensiver mit dem Buch und vielleicht sogar mancher der Biografien zu befassen.

Nicht alle waren 1933 noch im Amt. Gustav Spieß war bereits seit 1929 emeritiert. Eine Besonderheit in seiner Biografie war die 1903 erfolgreiche Operation Kaiser Wilhelms II. an den Stimmbändern. Heinrich Gebb wurde bereits 1923 wegen falscher Abrechnungen seines Amtes enthoben.

Unter den Portraitierten finden sich gleichermaßen Wissenschaftler, die die NS-Herrschaft unterstützten und solche, die dies nicht taten, die drangsaliert und vertrieben wurden. Gustav von Bergmann wirkte bei den Entlassungen seiner jüdischen Kollegen mit. In seinen Memoiren fand er „keine Worte einer kritischen Reflexion“ seines damaligen Verhaltens. Eine zwielichtige Rolle dürfte Bernhard Fischer-Wasels gespielt haben. „Auch wenn Bernhard Fischer-Wasels kein Mitglied der NSDAP war, so zeigte er in seinen Äußerungen (…) eine ‚autoritär-elitäre und antidemokratische Haltung‘ sowie ‚Affinitäten zur nationalsozialistischen Ideologie‘.“ Zwei seiner Mitarbeiter, Edgar Goldschmid und Philipp Schwartz „mussten im Frühjahr 1933 auf Grundlage der NS-Rassenideologie als ‚Nichtarier‘ die Universität Frankfurt verlassen.“ Rudolf Hahn war ebenfalls nicht Mitglied der NSDAP, beteiligte sich aber aktiv an der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, ebenso wie Gerhard Katsch. Ambivalent verhielt sich offenbar Karl Kleist, der offenbar die Umsetzung dieses Gesetzes zum Teil „unterlaufen hat“. Otto Goetze ist ein Beispiel für jemanden, der die NSDAP „unaufgefordert“ unterstützte. In Heidelberg erinnert eine Straße an ihn. „Die Vereinigung der Bayerischen Chirurgen, der er eine Zeit lang vorstand, verleiht seit 1971 den Otto-Goetze-Preis für Nachwuchsforscherinnen und Nachwuchsforscher im Fachgebiet der Chirurgie.“ Eine nach Viktor Schmieden, ebenfalls ein begeisterter NS-Anhänger, benannte Straße wurde 1994 umbenannt. Walter Alwens und Kurt Eckelt überlebten die NS-Zeit unauffällig, wie es aussieht ohne Bezüge zur NSDAP.

Karl Herxheimer. Quelle: Rose Hölscher 1921.

Karl Altmann und Gustav Embden mussten Demütigungen über sich ergehen lassen: „Es wird berichtet, dass Embden im April 1933 von Studierenden aus seinem Institut verschleppt und mit einem Schild, auf dem ‚Ich bin ein Jude‘ stand, durch die Stadt getrieben wurde.“ Im Juli 1933 starb er an einer Lungenembolie. Hans Bluntschli wurde 1933 aus dem Amt gemobbt: „Mit kritischen Äußerungen hatte er sich bei nationalsozialistisch gesinnten Studierenden schon früh verhasst gemacht.“ Albrecht Bethe war im Jahr 1933 bereits 65 Jahre alt, er verfiel der Damnatio Memoriae, indem sein Name aus Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität gestrichen wurde. Ebenso gestrichen wurden Heinrich von Mettenheim und Karl Ludloff, der den geforderten „Ariernachweis“ nicht erbringen konnte. Maximilian Neisser bat um seine Emeritierung. Nicht alle Entlassungen verliefen reibungslos. Eine Odyssee durch verschiedene Institute erlebte Otto Riesser, bis er nach dem Novemberpogrom 1938 verhaftet, dann doch wieder mit der Auflage entlassen wurde, „‚so schnell wie möglich‘ das Land zu verlassen“, was er 1939 auch tat, aber in den Niederlanden erneut bedroht wurde und untertauchen musste. Karl Herxheimer starb 1942 in Theresienstadt. Vor seiner ehemaligen Wohnung in der Frankfurter Westendstraße 92 liegt ein Stolperstein.

Rudolf Jaffé gelang die Flucht nach Venezuela, Simon Isaac nach Großbritannien, Ernst Nathan, der sich zunächst mit einer Privatpraxis noch über Wasser halten konnte, 1939 ebenfalls nach England, von dort in die USA. Walter Veit Simon fand in Chile Zuflucht. Nach dem Novemberpogrom war er acht Tage im KZ Buchenwald interniert. Am 30. November 2017 wurde für ihn vor dem Haupteingang des Leipziger Universitätsklinikums ein Stolperstein verlegt, gemeinsam „mit 35 weiteren Stolpersteinen für ehemalige Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU)“. Hugo Braun, Friedrich Dessauer und Georg Ludwig Dreyfus gelang die Flucht in die Türkei beziehungsweise die Schweiz. Friedrich Dessauer wurde jedoch zuvor verhaftet und mit einer „konstruierten Anklage“ konfrontiert, hatte aber Glück, dass er nicht verurteilt wurde. Verhaftet und im Berliner SA-Gefängnis Papestraße inhaftiert wurde Kurt Goldstein. Er wurde nach kurzer Zeit aufgrund der Kontakte seiner Assistentin und späteren Ehefrau zu einem Cousin von Hermann Göring wieder entlassen und konnte in die Schweiz flüchten, über die er schließlich in die USA gelangte. Am Gebäude des ehemaligen Krankenhauses Moabit erinnert eine Gedenktafel an ihn und die „nach 1933 entlassenen jüdischen Klinikmitarbeitenden“. Interniert wurde auch Rudolf Hess, der als „Jüdischer Mischling I. Grades“ galt. Ihn rettete im Herbst 1944 der Vermerk „nicht einsatzfähig für körperliche Arbeit“, er wurde entlassen und überlebte in einem Versteck. Neben der Entlassung gab es weitere Schikanen. Julius Strasburger war „gezwungen, den sogenannten Arier-Nachweis zu führen. Verschärft wurde seine Situation durch strukturelle Maßnahmen mit einer deutlichen Reduktion der Bettenzahl der Medizinischen Poliklinik sowie eine Denunziation.“ Bei der Entlassung von Richard Nikolaus Wegner „spielten wohl keine politischen Gründe eine Rolle, vielmehr bot sich der Fakultät durch das neue Gesetz die Möglichkeit, sich von einem zumindest eigensinnigen und unangepassten Wissenschaftler zu trennen.“

Wenige der Täter und Unterstützer des NS-Regimes in der Medizin beziehungsweise der medizinischen Forschung wurden nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen. Ein Beispiel ist Heinrich Klose, der zwar kurze Zeit in russischer Gefangenschaft war, aber nach wenigen Wochen die Leitung der chirurgischen Abteilung des Berliner Hufeland-Krankenhaus übernahm und maßgeblich am Aufbau der DDR beteiligt war, die ihn schon 1949 als „Verdienter Arzt des Volkes“ auszeichnete. Es war nicht seine letzte Auszeichnung.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2023, Internetzugriffe zuletzt am 20. Dezember 2023. Alle Illustrationen dieses Beitrags wurden freundlicherweise vom Verlag Hentrich & Hentrich sowie vom RKI zur Verfügung gestellt. Das Titelbild zeigt das von der Berliner Künstlerin Heike Ponwitz entworfene „Erinnerungszeichen“, das im Buch wie folgt vorgestellt wird: „Es erinnert sowohl an die vertriebenen jüdischen Mitarbeitenden als auch an die verbrecherischen Versuche in Heilanstalten und Konzentrationslagern, an denen sich Wissenschaftler des RKI beteiligten.“)