Gestern, vorgestern – Erinnerungskultur(en) in der Demokratie
Bildungspartnerschaften in Nordrhein-Westfalen
Seit 2005 inspiriert, unterstützt und fördert Bildungspartner NRW die Zusammenarbeit von Schulen mit Bildungs- und Kultureinrichtungen in Städten und Gemeinden. Mehr als 1300 Schulen und über 400 außerschulische Partner sind bereits Bildungspartner NRW, Tendenz steigend. Wer mitmacht, profitiert von Kongressen und Fachveranstaltungen, Planungshilfen und Beratungsangeboten, Öffentlichkeitsarbeit und dem Wettbewerb „Kooperation. Konkret.“
Kernidee ist die Zusammenarbeit von Schulen und außerschulischen Einrichtungen auf der Grundlage eines Vertrags über eine Bildungspartnerschaft. Die Geschäftsstelle ist im LVR-Zentrum für Medien und Bildung in Düsseldorf angesiedelt und gleichermaßen für den Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe sowie für das Schulministerium NRW tätig. Als Grundlage der Arbeit haben die kommunalen Spitzenverbände und das Schulministerium sowie weitere Landesministerien zuletzt Ziele vereinbart, die sie bis 2025 erreichen wollen.
Norbert Reichel: Bildungspartner NRW genießt in vielen Städten und Gemeinden hohes Ansehen. Was verbindet die verschiedenen Bildungspartnerschaften miteinander?
Andreas Weinhold: Es gibt Bildungspartnerschaften mit Museen, Archiven, Bibliotheken, Volkshochschulen, Gedenkstätten, Musikschulen, Sportvereinen. Neu sind die Bildungspartnerschaften Bühne und Schule, mit Schauspiel-, Tanz- und Konzerthäusern sowie Musiktheatern, und die Bildungspartnerschaft Natur und Schule mit Einrichtungen der Natur- und Umweltbildung sowie der naturwissenschaftlich-technischen Bildung.
Gemeinsam ist den Bildungspartnern, dass es sich um Einrichtungen in Trägerschaft der Kommunen oder zumindest in enger Anbindung an die jeweilige Kommune handelt. Ziel der Bildungspartnerschaften ist eine enge Anbindung der Lernangebote auch an die Lehrpläne und eine vor- und nachbereitende Ausgestaltung des Fachunterrichts, nach Möglichkeit auch fächerverbindend und fächerübergreifend.
In einigen Bereichen wirkt Bildungspartner NRW bei den Angeboten der Lehrerfortbildung mit, z. B. in der historisch-politischen Bildung und der Leseförderung, jeweils in Zusammenarbeit mit den Bezirksregierungen und einschlägigen Partnern. Wir begleiten die Moderator*innen der Lehrerfortbildung. Auf unserer Internetseite gibt es eine Fülle erfolgreicher Beispiele aus der Schulpraxis, die sicherlich andere Projekte anregen können.
Norbert Reichel: Du betreust seit längerer Zeit intensiv die Bildungspartnerschaften zur Erinnerungskultur.
Andreas Weinhold: Seit etwa sechs Jahren. Ein wichtiger Anlass für die Ausgestaltung dieser Bildungspartnerschaften war die 2014 unter der Präsidentschaft von Sylvia Löhrmann verabschiedete KMK-Empfehlung “Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung“. Unsere Partner sind Gedenkstätten, von denen viele in Nordrhein-Westfalen im Arbeitskreis Gedenkstätten zusammenarbeiten, aber auch Museen und Archive.
Wir unterstützen seit etwa zwei Jahren schulische Gedenkstättenfahrten, die seitdem auf der Grundlage einer gemeinsamen Initiative der vier demokratischen Parteien im Landtag mit Landesmitteln – etatisiert im Haushalt des Schulministeriums – gefördert werden. Schulen können sich an uns wenden, wenn sie didaktischen Rat bei Vor- und Nachbereitung suchen oder auch einfach Ansprechpersonen, mit denen sie sich über eine solche Fahrt austauschen können. Näheres in unserem Internetauftritt.
Historische und politische Bildung gehören zusammen
Norbert Reichel: Ich darf Aleida Assmann zitieren: „Grundsätzlich ist zu sagen, dass sich Erinnerungskultur und Historisierung, Zukunft und Vergangenheit nicht gegenseitig ausschließen, sondern zwei legitime und komplementäre Formen des Vergangenheitsbezugs sind.“ (Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur – Eine Intervention, München, C.H. Beck, 2013). Geschichte und Politik, historische und politische Bildung gehören untrennbar zusammen. In der Praxis und auch in Äußerungen der jeweiligen Verbände stelle ich immer wieder fest, dass manche beides eher voneinander abgrenzen möchten. Warum?
Andreas Weinhold: Erinnerungskultur, wissenschaftliche Geschichtsschreibung und politische Bildung vollziehen sich immer in der Gegenwart. Ob es ihren Akteuren passt oder nicht, ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit steht unter dem Einfluss von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Das macht jede historische Bildung zu einer politischen. Die Kritiker einer politischen Erinnerungskultur wie etwa der Leiter der NS-Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, beanstanden daher auch nicht grundsätzlich, dass Jugendliche aus der nationalsozialistischen Geschichte lernen, wie wichtig es ist, für den Erhalt demokratischer Verhältnisse einzutreten. Sie kritisieren eine Erinnerungskultur, in der formelhafte Demokratiepädagogik an die Stelle kritischer und selbstreflexiver Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tritt.
Und tatsächlich, wann immer Schüler*innen an Gedenk- und Erinnerungsorten von ihren Lehrkräften lediglich zur Ausrichtung von Gedenkritualen angehalten werden, in denen sie im Namen der Opfer den Erhalt der Demokratie beschwören, kann weder von einem ernsthaften historischen noch von einem engagierten politischen Lernen die Rede sein. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Geschichtskultur autoritärer Staaten, in der das Lernen über die Vergangenheit für die Legitimierung des bestehenden politischen Systems missbraucht wird. Historisch-politisches Lernen braucht beides: eine offene, von historischer Neugier geprägte Rekonstruktion der Vergangenheit und die ebenfalls ergebnisoffene Frage, was die Vorgeschichte unserer Demokratie mit der Gegenwart und Zukunft der Lernenden zu tun hat.
Norbert Reichel: Elisabeth Kagermeier und Marcel Laskus haben in der ZEIT vom 27. Juni 2019 berichtet, dass Gedenkstätten zunehmend über rechtsextreme Übergriffe berichten. Ich darf zitieren: „Im Jahr 2018 haben sich etwa 20 Zwischenfälle mit rechtsextremem Hintergrund auf ihrem Gelände ereignet, gab die Gedenkstätte Buchenwals vor Kurzem bekannt. Das waren doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Hakenkreuze auf Geländemauern, Aufkleber mit Zitaten der verurteilten Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck, Hitlergrüße auf dem KZ-Gelände. (…) In Flossenbürg standen Sätze wie ‚Ehre die SS‘ in den Gästebüchern, die Mitarbeiter haben die Seiten herausgerissen. In der Gedenkstätte Gardelegen in Sachsen-Anhalt wurden Grabkreuze von ermordeten KZ-Häftlingen aus der Erde gerissen und zu einem Hakenkreuz drapiert.“ Verantwortlich für diese Übergriffe sind in der Regel nicht Schüler*innen. Vielleicht im ein oder anderen Fall. Aber von welcher Stimmung muss ich in Schulen ausgehen? Was bekommen Schulen von solchen Angriffen mit?
Andreas Weinhold: Das dürfte vor allem davon abhängen, in welchem Maß solche Angriffe auf die demokratische Erinnerungskultur in den Schulen thematisiert werden. Sofern Schüler*innen erkennbar damit sympathisieren oder sich sogar selbst an der Verbreitung antisemitischer Hassbotschaften beteiligen, müssen solche Angriffe in unterrichtlichen oder außerschulischen Lernprozessen thematisiert werden. Die Schule kann und darf sich ihnen gegenüber nicht stillschweigend oder neutral verhalten. Aber auch, wenn in der Schulgemeinde niemand durch derartiges Handeln auffällt, sollte die aktuelle Gefährdung der Erinnerungskultur im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Verbrechen der Vergangenheit in der Schule ein Thema sein, z. B. im Rahmen eines Gedenkstättenbesuches. Jeder Angriff auf die demokratische Erinnerungskultur ist zugleich ein Angriff auf die demokratische Gesellschaft.
Erinnerungskultur ist international und dynamisch
Norbert Reichel: In Deutschland leben viele Menschen mit einer internationalen Familiengeschichte. Wir sprechen von „Ein- und Zuwanderungs-“ oder von „Migrationsgesellschaft“. Was bedeutet dies für die historisch-politische Bildung, insbesondere für die Erinnerungskultur?
Andreas Weinhold: Als wir unsere Veranstaltungsreihe „Erinnern in der Migrationsgesellschaft“ konzipierten, war ich zunächst der Meinung, es gelte, Anschlussfähigkeit durch speziell darauf ausgerichtete Lernangebote herzustellen. Menschen mit internationaler Familiengeschichte sollten das, was in Deutschland geschehen war, nachvollziehen können. Ich habe jedoch sehr schnell meine Meinung geändert. Wenn wir uns auf das Ziel der Anschlussfähigkeit beschränkten, würde Erinnerungskultur zu einer Art Sonderpädagogik für Schüler*innen mit Zuwanderungsgeschichte. Wir würden Jugendlichen türkischer, arabischer oder osteuropäischer Herkunft signalisieren, dass sie nicht innerhalb unserer Geschichts- und Erinnerungskultur stehen, sondern gegenüber dem kollektiven Gedächtnis dieser Gesellschaft einen je eigenen, externen Standpunkt zugewiesen bekommen. Dafür gibt es überhaupt keinen Anlass. Im Gegenteil, in den Klassen stelle ich bei allen Schüler*innen gleichermaßen hohes Interesse an den Themen der Erinnerungskultur fest, unabhängig von ihrer Familiengeschichte.
Norbert Reichel: Das bedeutet aber auch, dass wir die von Schüler*innen mit internationaler Familiengeschichte mitgebrachten „Erinnerungen“ thematisieren müssen, auch all das, was in den Familien tradiert wird.
Andreas Weinhold: Zur Erinnerungskultur gehört auch die Geschichte der Ein- und Zuwanderung selbst. Wir arbeiten hier unter anderem mit dem im Aufbau befindlichen Migrationsmuseum DOMiD in Köln zusammen. Auch Organisationen zur Unterstützung von Geflüchteten sind interessante Partner.
Wir müssen uns aber immer wieder vor Augen halten, dass das, was wir als Erinnerungen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wahrnehmen, oft nur eine Zuschreibung ist, manchmal eine Zuschreibung auch von Lehrkräften. Ein türkeigeschichtliches Angebot kann sehr schnell falsch verstanden werden. Ein solches Angebot ist eben nicht nur für die jungen Menschen, die selbst bzw. deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei in Deutschland eingewandert sind, von Interesse, sondern für alle Schüler*innen, gerade heute in einer Welt, in der die Entwicklungen in den Ländern dieses Planeten immer augenscheinlicher miteinander zusammenhängen. Das Thema Türkei – um bei diesem Beispiel zu bleiben – ist kein Sonderthema. Geschichtsunterricht und Erinnerungskultur müssen der internationalen Verflochtenheit historischer Entwicklungen Rechnung tragen.
Norbert Reichel: Damit verändert sich Erinnerungskultur ständig. Ich denke beispielsweise an die Zuwanderung der letzten fünf Jahre, in denen wir in Deutschland Menschen begegneten und begegnen, die aus Ländern kommen, mit denen wir bisher kaum Berührungspunkte haben. Gängig ist heute in den Medien das pauschale Urteil, dass vor allem die aus dem arabischen Raum zugewanderten Menschen antisemitische Einstellungen mitgebracht hätten.
Andreas Weinhold: Ich orientiere mich an Aleida Assmann, die Erinnerungskultur als etwas Dynamisches, sich ständig neu Formendes versteht. Dazu gehören dann auch Aushandlungsprozesse im Klassenraum. Ich muss mir sehr genau überlegen, wie ich beispielsweise mit antisemitischen Äußerungen umgehe, die bei jungen (und natürlich auch erwachsenen) Menschen nicht selten aus den Deutungsmustern ihrer jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft resultieren.
Es nützt nichts, mit einer normativen Keule gegen solche Äußerungen vorzugehen, Schüler*innen sozusagen mit der ganzen Wucht meines Lehramtes zu maßregeln. Sicher, ich muss eine klare Position beziehen. Als Lehrer*in muss ich deutlich machen, dass ich ganz anderer Meinung bin und bestimmte Äußerungen scharf ablehne. Dann wissen wir alle, woran wir sind, und können darüber diskutieren, wie wer zu seiner Auffassung kommt und dann eröffnet sich die Möglichkeit, eine menschenfeindliche Auffassung auf der Basis historischer Fakten zu dekonstruieren und sie schließlich zu verändern.
Dass es sich nicht anordnen lässt, ist zugleich Bedingung, Vorzug und Herausforderung eines kritischen, demokratischen Geschichtslernens. Wie jeder andere Lerngegenstand auch muss das Vergangene von allen Lernenden letztlich selbst angeeignet werden. Wenn mir zu einer antisemitischen Äußerung als Lehrkraft nur deren autoritäre Zurückweisung einfällt, anstelle der Vorbereitung eines dazu passenden Lernangebotes, wird die Reaktion des Schülers oder der Schülerin nicht eine Abkehr von den dahinter liegenden Haltungen sein, sondern bestenfalls ein geschärftes Bewusstsein davon, wann man was in der Schule sagen oder besser für sich behalten sollte.
Norbert Reichel: Bei einem verfestigten rechtsextremen oder islamistischen Weltbild, auch bei manchen linken Vertreter*innen sogenannter „Israelkritik“ dürfte das schwierig werden.
Andreas Weinhold: Ich habe nicht gesagt, dass das leicht ist, aber es wäre schon viel erreicht, wenn klar würde, dass das mit der Nakba verbundene Leid oder die Perspektivlosigkeit in den seit Generationen bestehenden palästinensischen Flüchtlingslagern keine historische Berechtigung dafür liefern, eine Kritik an der israelischen Regierungspolitik antisemitisch aufzuladen.
Um dies leisten zu können, ist es natürlich erforderlich, dass Lehrer*innen – oder in der Erwachsenenbildung tätige Dozent*innen – z. B. über die Hintergründe des Nahost-Konfliktes besser informiert sind als das zurzeit häufig der Fall zu sein scheint. Das gilt genauso für andere Zusammenhänge, beispielsweise die Massenverbrechen an der armenischen Bevölkerung im osmanischen Reich, den sogenannten „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei nach dem Vertrag von Lausanne im Jahr 1923 und viele andere vergleichbare historische Konstellationen.
Ich habe hier nur Fallkonstellationen genannt, die etwas mit der Türkei zu tun haben. Dasselbe gilt für die unter der europäischen Kolonialpolitik verübten Verbrechen auf dem afrikanischen Kontinent und die damit verwobene Migrations- und Gewaltgeschichte vieler afrikanischer Länder. Deutungen der europäisch-afrikanischen Verflechtungsgeschichte sind in den Herkunftsnarrationen vieler Schüler*innen enthalten, deren Familien in den letzten Jahrzehnten aus Afrika nach Europa geflüchtet sind.
Norbert Reichel: Ich kann mir vorstellen, dass Schüler*innen sich zu Wort melden und sagen, dass das, was in der NS-Zeit in Deutschland geschah, auch in dem Land, aus dem sie geflohen, zugewandert sind, in Ruanda, in Eritrea, im Kongo geschehen ist und auch heute noch geschieht.
Andreas Weinhold: Grundsätzlich spricht ja überhaupt nichts dagegen, historische Phänomene miteinander zu vergleichen. Nicht umsonst gehört der historische Vergleich zu den grundlegenden Methoden und Aufgaben der Geschichte. Allerdings muss dabei ganz deutlich werden, was genau man da miteinander vergleicht – und was sich einem Vergleich entzieht. So lassen sich etwa Formen der Machtausausübung im Nationalsozialismus und in anderen Diktaturen in einem historischen Längsschnitt sehr gut miteinander vergleichen. Dann zeigen sich neben auffälligen Analogien immer auch wesentliche Unterschiede, die es herauszuarbeiten gilt. Schüler*innen sollten dabei aber auch lernen, dass sich manche Dinge einfach nicht miteinander vergleichen lassen. Wie sollte man das Leid der in der Shoa gequälten und ermordeten jüdischen Menschen mit den in anderen Genoziden erlittenen Qualen vergleichen? Welche Gleichung sollte dabei herauskommen? Dass ein Massenmord „genauso schrecklich“ ist wie ein anderer? Allen Lernenden sollte bewusst werden, welche geschichtspolitischen Intentionen hinter solchen Vergleichen stecken. Oft geht es um Opferkonkurrenzen, in denen vergangene Leiden einer Bevölkerungsminderheit als Rechtfertigung für gegenwärtige politische Anliegen einer anderen benutzt werden. Von einem legitimen historischen Vergleich kann dabei überhaupt keine Rede sein. Die Einsicht, dass die Instrumentalisierung des Vergangenen zwar sehr verbreitet, aber aus ethischen Gründen meist völlig inakzeptabel ist, gehört zum Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins.
Störungen haben Vorrang
Norbert Reichel: Zum Thema Antisemitismus wird immer wieder vorgeschlagen, Gedenkstättenbesuche zur Pflicht zu machen.
Andreas Weinhold: So pauschal liefe das auf eine Art Imprägnierungspädagogik hinaus. Es gibt keinen Automatismus, dass allein der Besuch einer Gedenkstätte dazu beitrüge, dass alle menschenfeindlichen, insbesondere antisemitischen oder Sinti und Roma abwertenden Ansichten mit einem solchen Besuch sozusagen auf Knopfdruck verschwänden. Entscheidend ist die Frage: Was wollen wir eigentlich mit dem Besuch einer Gedenkstätte erreichen, was ist die didaktische Intention?
Wer meint, eine dialogische Führung in einer Gedenkstätte könne der Austreibung menschenfeindlicher Haltungen dienen, überfordert damit das gedenkstättenpädagogische Lernangebot. Dieses kann ein wichtiger Baustein in einem auf Intervention oder Prävention gegenüber antisemitischen oder antiziganistischen Haltungen ausgerichteten Lernprozess sein.
Die Folgen von Antisemitismus und Antiziganismus sind aber nicht nur Phänomene der Vergangenheit. Sie ereignen sich heute, mitten unter uns. Begegnungen mit gegenwärtigem jüdischen Leben oder den vielen in unserer Mitte lebenden Sinti und Roma sollten ebenso in Betracht gezogen werden. Und wann immer in der Schulgemeinschaft rassistische Vorfälle bekannt werden, empfiehlt sich umgehend die Kontaktaufnahme mit Stellen wie dem örtlichen schulpsychologischen Krisenmanagement, SABRA oder den mobilen Beratungen.
Norbert Reichel: Du kennst den Film „Am Ende kommen Touristen“ von Robert Thalheim aus dem Jahr 2007 (als DVD erhältlich). Ich denke an die Schlussszene, in der die Hauptperson, der Zivildienstleistende Sven, der ohne es zu wollen dem Begegnungszentrum in Auschwitz zugewiesen wurde, bei seiner Abfahrt, die man auch durchaus eine Flucht nennen könnte, am Krakauer Bahnhof eine Gruppe unbeteiligt wirkender Schüler*innen aus Deutschland trifft, deren Lehrer in höchsten Tönen das Engagement des jungen Zivildienstleistenden lobt. Bezeichnend ist auch der respektlose Umgang der Verantwortlichen eines deutschen Unternehmens mit dem (fiktiven) KZ-Überlebenden Stanisław Krzemiński. Sie lassen ihn im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen, genau an der Stelle, an der er im Lager im Regen ausharren musste, sowie die Teilnahmslosigkeit von Auszubildenden, die im Auftrag dieses Unternehmens ein Mahnmal herrichten sollen.
Andreas Weinhold: Der Film zeigt sehr deutlich, was schief gehen kann, wenn jede Vorbereitung fehlt. In diesem Fall haben wir es mit Bagatellisierungsprozessen zu tun. Wir müssen vor einem Besuch in einer Gedenkstätte klären, warum die Schüler*innen dahin fahren. Und das muss ich mit ihnen besprechen, ihre Vorbehalte, ihre Ängste, ihre Vorurteile thematisieren. Wer Empathie fördern und entwickeln möchte, muss auch die vorhandenen Ängste und Vorbehalte ernst nehmen.
Nur mit einer guten Vorbereitung kann ich sicherstellen, dass ein Besuch nicht unverbindlich versandet, oder das Risiko minimieren, dass jemand – gleichgültig, ob aus bloßem Protest gegen schulische Pflichten oder ob aus woher auch immer herbeigeholter Überzeugung – versucht, sich mit antisemitischen Sprüchen zu profilieren. Die Schüler*innen müssen lernen, sich an den Orten unserer Erinnerungskultur orientieren, d. h. auch sich dort angemessen verhalten zu können und was es bedeutet, wenn solche Sprüche geäußert werden. Sie müssen lernen können, was es bedeutet, wenn ein Herr Höcke und andere Gedenkstättenbesuche abwerten, von einem „Denkmal der Schande“ sprechen und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern. Haltungen kann niemand vorschreiben, aber ich kann als Lehrer*in dazu beitragen, Haltungen zu hinterfragen und zu dekonstruieren.
Norbert Reichel: Ich hörte vor einiger Zeit von einem Studenten, der in Izmir einen türkischen Sprachkurs absolvierte, er sei dort mit einem Pärchen tauchen gegangen und habe dann von seinem türkischen Studienkollegen hören müssen, dass nach seiner Auffassung die türkische Regierung „das, was Hitler mit den Juden gemacht habe, mit den Kurden machen sollte“.
Andreas Weinhold: Ich habe das noch nicht erlebt, aber das kann einem durchaus auch im Klassenzimmer passieren. Es gibt zwei Fehler, die Lehrkräften dann unterlaufen könnten: zum einen das schon beschriebene Überreagieren mit der Moralkeule, zum anderen das Ignorieren solcher Vorkommnisse. Sie müssen Anlass für einen Lernprozess werden. Lehrkräfte haben einen klaren, unmissverständlichen Auftrag, nicht neutral oder gleichgültig zu sein, wann immer sie Antisemitismus oder anderen demokratie- oder menschenfeindlichen Positionen begegnen.
Norbert Reichel: Das ist Verfassungsauftrag. Verfassungsauftrag ist, das hat Andreas Voßkuhle zuletzt in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ deutlich gemacht, die Bildung und Erziehung zur Demokratie. So steht es im Grundgesetz.
Andreas Weinhold: Es gibt den Grundsatz: „Störungen haben Vorrang“. Und menschenfeindliche Äußerungen sind eine erhebliche Störung. Der dann erforderliche Lernprozess braucht natürlich Zeit, aber diese Zeit hat man in der Schule, auch wenn viele anderes behaupten.
Historisch-politischer Unterricht ist auch nicht an einzelne Fächer gebunden, und man hat mehrere Schuljahre Zeit. Wichtig ist, dass zunächst die Schüler*innen merken, dass es hier ein sehr ernstzunehmendes Problem gibt, dem sie durch eigenes Fragen, Recherchieren und Urteilen auf den Grund gehen könnten.
Geschichte selbst entdecken – selbst Autor*in werden
Norbert Reichel: Am besten wäre es, wenn die jungen Menschen in der Schule erfahren, dass und wie dem, was in der Wissenschaft „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ genannt wird, begegnet werden könnte. Aber wie könnten junge Menschen Erinnerungskultur, Geschichte für sich selbst entdecken?
Andreas Weinhold: Zunächst ist mir wichtig, dass wir Erinnerungskultur und Geschichtsunterricht nicht auf die Zeit von 1933 bis 1945 beschränken. Sylvia Löhrmann hat bei der Vorstellung der KMK-Empfehlung von 2014 gesagt, dass die Shoah „Dreh- und Angelpunkt der Erinnerungskultur in Deutschland“ ist. Das ist die eine Seite.
Die andere lässt sich aus der auch von ihr mit ihren damaligen Kolleg*innen angeregten gemeinsamen Erklärung der KMK und des Zentralrats der Juden ableiten. Diese benennt im Titel ausdrücklich „Geschichte, Religion und Kultur“. KMK und Zentralrat haben sehr deutlich formuliert, dass Jüdinnen und Juden im Unterricht nicht nur als Opfer erscheinen dürfen. Das alltägliche jüdische Leben in Deutschland, in anderen Ländern, die reiche Geschichte und Kultur, all das gehört genauso dazu. Hierzu gibt die gemeinsame Erklärung eine Fülle von Anregungen.
Norbert Reichel: Materialien bietet die von Zentralrat und KMK betreute und kommentierte Sammlung. Hilfreich sind auch konkrete Begegnungen, wie sie Likrat und Rent a Jew organisieren (Anmerkung: beide Begegnungsprojekte wurden inzwischen zu dem Projekt Meet a Jew zusammengeführt.
Andreas Weinhold: Urteilsfähigkeit entsteht nur und erst, wenn Standpunkte in der offenen Auseinandersetzung ausgetauscht und mit Bezug auf die eigene Geschichte und Gegenwart untersucht werden. Zum reflektierten Geschichtslernen gehört eben auch die Frage, wie sich Einstellungen, Haltungen, die Wahrnehmung von Fakten bilden.
Dazu kann durchaus auch die Arbeit mit dem Schulbuch oder die Recherche auf seriösen Internetportalen beitragen. Aufgrund ihrer unmittelbaren lebensweltlichen Relevanz ist es aber ungleich wirksamer, wenn Schüler*innen an den Orten der Geschichts- und Erinnerungskultur selbst recherchieren und agieren, in Archiven, Gedenkstätten oder auf Kriegsgräberstätten. Und daraus können neue Spuren im kollektiven Gedächtnis einer Kommune werden.
In Remscheid etwa hat die Initiative der Geschichts-AG des Arndt-Gymnasiums 2018 zur Errichtung einer neuen Gedenk- und Bildungsstätte geführt. Die Schüler*innen erfuhren bei einer Führung entlang der Remscheider Stolpersteine, dass der ehemalige Pferdestall der in der Nähe der Schule gelegenen Polizeiinspektion während der Nazi-Herrschaft ein Verbrechensort war. Für Deportationen vorgesehene Opfer der Vernichtungspolitik des NS-Staates waren hier in den letzten Tagen vor dem Transport in die Konzentrations- und Vernichtungslager zusammengepfercht worden. Aus der anfänglichen Enttäuschung darüber, dass es in ihrer Stadt keinen Ort gab, der über dieses Stück negativer Lokalgeschichte informiert, wurde in kluger Kooperation mit der Kommune und diversen zivilgesellschaftlichen Akteuren geschichtspolitisches Handeln.
Wie viele andere Jugendliche, die sich an ihrem Heimatort intensiv mit dem Handeln und Leiden ehemaliger Mitbürger auseinandersetzen, haben sich die Remscheider Schüler*innen nicht nur wichtiges historisch-politisches Wissen angeeignet. Sie haben auch ihre Fähigkeit zur Empathie entwickelt. Das Wissen über die Vorgeschichte unserer Demokratie ist nur eine, wenn auch wesentliche, Voraussetzung für deren Erhalt und Weiterentwicklung. Aber dieses Wissen allein schützt nicht vor Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer. Es immunisiert nicht gegen Überzeugungen, wonach eigene Herkunft, Hautfarbe, Religion oder sexuelle Orientierung dazu berechtigen, andere für minderwertig zu erklären.
Kurz: historisches Wissen ist kein Garant für demokratisches Denken und Handeln. Eine demokratische Gesellschaft braucht empathische Menschen. Mir ist klar, dass man Empathiefähigkeit nicht umstandslos zum Lernziel erheben kann. Klar ist aber auch: die in Archiven, Museen und Gedenkstätten ermöglichte Auseinandersetzung mit den Biografien von Tätern, Opfern oder Mitläufern kann Empathie fördern. „Why should I care about a stranger, a person who is no kin to me, a person whose habits I find disgusting?”, so fragte Richard Rorty einmal in einer Vorlesung über die Verteidigung der Menschrechte. Die Antwort sind Geschichten, die über die Jahrhunderte immer wieder neu variiert und erzählt werden. Sie beginnen mit Sätzen wie: „Because this is what it is like to be in her situation – to be far from home, among strangers” oder “Because she might become your daughter-in-law” oder “Because her mother would grieve for her”. (Richard Rorty, Human Rights, Rationality, and Sentimentality, in: Steven Shute, Susan Hurley [Hg.], On Human Rights: The Oxford Amnesty Lectures, New York, 1993.)
Norbert Reichel: In meiner Zeit als Lehrer habe ich immer gefragt: Woher weißt du das? Wo steht das? Mit der Zeit hatten sich die Schüler*innen abgewöhnt, nur das nachzuplappern, was sie irgendwo einmal aufgeschnappt hatten, oder einfach auch nur alles zu glauben, was sie irgendwo gelesen oder gehört hatten.
Andreas Weinhold: Mit der Erörterung solcher Fragen entstehen partizipatorische Lernprozesse. Schüler*innen werden zu Autor*innen von Geschichte. Sie erzählen auf der Basis ihrer Recherchen Geschichten aus ihrer Gemeinde, ihres Stadtteils und lernen, diese im Kontext überregionaler Ereignisse und Strukturen zu bewerten. Die Recherche ist ein ganz zentraler Bestandteil des Demokratielernens. Wer richtig zu recherchieren gelernt hat, wird nicht mehr so schnell auf bloße Behauptungen hereinfallen. Dasselbe gilt für das Erzählen. Zu lernen, dass man selbst zum*r Autor*in von Geschichten über die Vergangenheit werden kann, ist eine der wichtigsten demokratischen Erfahrungen überhaupt. Die Freiheit, aus den eigenen Fragen an die Vergangenheit und den darauf gefundenen Antworten eigene historische Narrationen machen zu können, unterscheidet demokratische von direktiven, undemokratischen Erinnerungskulturen.
Norbert Reichel: Adriana Altaras hat in ihrer bekannt deutlichen Art einmal vorgeschlagen, dass wir am 27. Januar, dem traditionellen Gedenktag des NS-Völkermords im Deutschen Bundestag, nicht darauf warten sollten, bis „der letzte dreijährige Überlebende“ gesprochen hat, sondern dass Schüler*innen den Auftrag erhalten sollten, diese Gedenkstunde zu gestalten. Das kann ich mir genauso für örtliche Gedenkveranstaltungen vorstellen.
Andreas Weinhold: Das wäre genau der partizipatorische Ansatz, für den wir bei Bildungspartner NRW und in unseren Lehrer*innenfortbildungen werben. In allen Lernbereichen sollten Schüler*innen möglichst viele Gelegenheiten bekommen, jenseits des Schonraums der Schule aktiv zu werden, d. h. politische und kulturelle Teilhabe nicht nur zu simulieren, sondern unter realen Bedingungen zu erproben. Allerdings gehört dazu auch eine gewisse Risikobereitschaft. So kann es durchaus sein, dass die von den Schüler*innen entwickelten Ideen für ein öffentliches Gedenken die Konventionen solcher Veranstaltungen sprengen.
Das kann der örtlichen Erinnerungskultur neues Leben einhauchen; es kann aber auch unangemessene Formen annehmen und für Verwunderung oder gar Empörung sorgen. Um solche Risiken zu minimieren, bedarf es einer gründlichen Vorbereitung solcher Veranstaltungen im öffentlichen Raum, in der die Frage nach möglichen unerwünschten Wirkungen im Mittelpunkt steht. Denn natürlich dürfen Lehrkräfte ihre Schüler*innen nicht um des partizipatorischen Prinzips willen ins offene Messer laufen lassen.
Grundsätzlich empfiehlt es sich, im Vorfeld öffentlicher Gedenkveranstaltungen Vertreter*innen der Gruppen, an deren Opfer erinnert werden soll, in die Planungen einzubeziehen. Der offene Austausch über die Angemessenheit erinnerungskultureller Formen etwa mit der jüdischen Gemeinde oder am Ort lebenden Sinti oder Roma schwächt den partizipatorischen Ansatz nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, es stärkt ihn.
Das Elend der Schulbücher
Norbert Reichel: Ein ganz schwieriges Thema sind die Schulbücher. Sie sind ein geeignetes Instrument für Geschichtspolitik und so ist es nicht verwunderlich, dass Regierungen, die ein bestimmtes Bild ihrer Geschichte durchsetzen wollen, sehr schnell Lehrpläne und Schulbücher überarbeiten lassen. Aber auch in Deutschland wimmelt es in ihnen meines Erachtens von Klischees und Fehlern. Dies ist nach meinen Erfahrungen ständiger Gegenstand der Beratungen in der KMK, sei es zum Themenbereich Integration, sei es zu Fragen von Erinnerungskultur und historisch-politischer Bildung. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass die sachgerechte Gestaltung von Schulbüchern ein Kampf gegen Windmühlen ist, vor allem auch, weil es – im Unterschied zu vergangenen Zeiten – in den Ländern kaum noch wirksame Kontrollen für das gibt, was die Verlage anbieten. Hier wurde am falschen Ende gespart. Eine Ausnahme scheint Bayern zu sein. Die Schulbücher, die bei der deutsch-israelischen Schulbuchkommission zuletzt gut abschnitten, kamen alle aus Bayern.
Andreas Weinhold: Es sind tatsächlich so manche Schulbücher in Umlauf, denen man keine Leser*innen wünschen möchte, weil sie noch immer Zerrbilder historischer oder gegenwärtiger Bevölkerungsminderheiten verbreiten.
Wer sich Schulbuchkapitel zur Geschichte des europäischen Judentums ansieht, begegnet darin Jüdinnen und Juden oft ausschließlich als Opfern antisemitischer Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung. Die Darstellung jüdischen Lebens vor und nach der Shoah sucht man häufig vergebens. Auch während der Nazi-Herrschaft waren Jüdinnen und Juden nicht unentwegt passive Opfer eines menschenverachtenden Systems. Sie waren auch Handelnde, die sich aktiv zu den sich verschärfenden Drangsalierungen durch Staat und Gesellschaft verhalten, die sich arrangiert, solidarisiert und Widerstand geleistet haben. Der Blick auf handelnde Menschen, die ein Leben vor der Verfolgung hatten und selbst unter furchtbarsten Bedingungen Denkende, Wahrnehmende und Handelnde blieben, ist von enormer Bedeutung. Denn wenn keine Selbstzeugnisse der Betroffenen präsentiert werden oder ausschließlich Fotos jüdischer Menschen in Situationen der Demütigung oder erzwungener Verwahrlosung zu finden sind, bleibt bei Schüler*innen das statische Bild einer historischen Opfergruppe haften.
Ähnliches gilt für die Darstellung der Sinti und Roma in Schulbüchern. Anstatt den noch immer weit verbreiteten antiziganistischen Stereotypen entgegenzuwirken, scheinen manche Lernmittel sie eher zu zementieren. Für die Lernenden nicht durchschaubar, zitieren sie die damals wie heute herrschenden Ressentiments gegenüber der Minderheit oder zeigen Fotos aus dem Bildbestand der sogenannten „Rassehygienischen Forschungsstelle“. Einen kritisch-dekonstruierenden Lernprozess vorausgesetzt, in dem z. B. fehlende oder vereinseitigende Darstellungen problematisiert werden, können auch schlechte Schulbücher gute Lernmittel sein.
Erich Kästner hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition.“ (Erich Kästner, Gesammelte Schriften für Erwachsene. Bd. 7., München, Droemer/Knaur, 1969)
Norbert Reichel: Schüler*innen müssen sozusagen ihre eigenen Bücher schreiben. Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, dass Graphic Novels ein guter Zugang zu Themen der Erinnerungskultur sind. Das Haus der Wannseekonferenz in Berlin verzeichnet in der Bibliothek mehrere Hundert von Beispielen. Art Spiegelmanns „Maus“ ist nur das bekannteste dieser Werke. Eindrucksvoll sind auch die Bücher von Jacques Tardi über den Ersten Weltkrieg sowie über das Lager, in dem sein Vater im Zweiten Weltkrieg eingesperrt war.
Andreas Weinhold: In Dülmen haben Schüler*innen einer Realschule eine eigene Graphic Novel erstellt. Das Buch erzählt die wahre Geschichte eines jüdischen Mädchens im westfälischen Dülmen während der Jahre 1928 bis 1938 und der anschließenden Zeit in ihrem Versteck in Rotterdam. Die Schule ist nach dem Vater des Mädchens, Hermann Leeser, benannt. Im Stadtarchiv recherchierten die Schüler*innen über die Kindheit und Jugend Helga Becker-Leesers, nahmen Kontakt mit ihr auf und schufen mit Unterstützung eines Grafikers ein ganz einzigartiges Stück westfälischer Erinnerungskultur. Helga Becker-Leeser, die nie nach Deutschland zurückkehren wollte, kam nach Dülmen, steuerte alte Familienfotos zu dem Buchprojekt bei und war Ehrengast bei der feierlichen Veröffentlichung der Graphic Novel. Mit dieser großartigen Idee haben die Schüler*innen übrigens unseren Bildungspartner-Wettbewerb Kooperation. Konkret gewonnen.
Kritische oder heroische Erinnerungskultur?
Norbert Reichel: Bei Gedenkstättenfahrten ins Ausland erleben Lehrkräfte und Schüler*innen oft ganz andere Ansätze der Erinnerungskultur als in Deutschland gewohnt. Romani Rose hat mir einmal gesagt, dass wir in Deutschland in gewisser Weise davon profitiert hätten, dass alle Welt darauf schaute, wie wir mit unserer Vergangenheit umgingen. Das ist sicher ein Grund für die Intensität der Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland. Schon in Österreich sieht dies anders aus.
Andreas Weinhold: Wir haben in Deutschland eine kritische Erinnerungskultur, die seit den siebziger Jahren – zunächst gegen den Widerstand vieler Kommunen – vor allem von zivilgesellschaftlichen Akteuren aufgebaut wurde. In anderen Ländern dominiert nach wie vor eine heroische, zum Teil sogar eine staatlich verordnete Erinnerungskultur, in der die vermeintlichen Helden und Glanztaten der jeweiligen Nationalgeschichte besungen werden. Im Sinne eines transnationalen erinnerungskulturellen Lernens kann ich gar nicht genug dafür werben, sich auch mit heroischen Formen des kollektiven Erinnerns auseinanderzusetzen. Der Besuch nationaler Erinnerungsorte in Polen, Belgien, Frankreich oder den Niederlanden weitet zum einen den Blick für die Vielfalt und die unterschiedlichen geschichtspolitischen Prägungen erinnerungskultureller Formen. Zum anderen relativiert sich dadurch die Sicht auf die eigenen Haltungen gegenüber der gemeinsamen europäischen Vergangenheit. Machen wir uns nichts vor – auch in unseren Städten finden sich haufenweise Überreste heroischer Erinnerungskulturen, die in Gestalt unappetitlicher Straßennamen oder Denkmäler z. B. das fragwürdige Vermächtnis der Hohenzollern glorifizieren.
Norbert Reichel: In diesem Zusammenhang könnte man in der Tat über Straßennamen und Schulnamen nachdenken. Ich finde es skandalös, dass Schulen heute noch nach Ernst Moritz Arndt benannt sind oder Straßen nach Carl Peters und Paul Lettow-Vorbeck. Über Kasernen will ich gar nicht reden. Ich darf noch einmal Aleida Assmann zitieren: „Europäische Dialogfähigkeit steht und fällt mit dem Wissen um den eigenen Anteil an den Traumata der Anderen. Während die Bombardierung Dresdens inzwischen fest im deutschen nationalen Gedächtnis verankert ist, weiß man hierzulande kaum etwas von der Zerstörung Warschaus durch die Deutschen als Vergeltung für den Warschauer Aufstand (1944), der meist mit dem durch Brandts Kniefall berühmt gewordenen Ghetto-Aufstand (1943) verwechselt wird. Auch die Leningrader Blockade von 1941 – 1944 durch die Wehrmacht, eine der längsten und destruktivsten ‚Belagerungen‘ der neueren Geschichte, bei der annähernd eine Million Russen verhungerten, hat keinen Platz im deutschen historischen Gedächtnis. Warum (…) sollte man sich an all das erinnern? (…) Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Solange diejenigen, denen diese traumatische Gewalt angetan wurde, diese Ereignisse nicht vergessen, sondern im Gegenteil zu einem festen Bezugspunkt in ihrem nationalen Gedächtnis gemacht haben, kann dieses Leid nicht einfach durch ein einseitiges Vergessen auf Täterseite aus der Welt geschafft werden.“ (in: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur). Ist eine umfassende historisch-politische Bildung in diesem Sinne überhaupt leistbar?
Andreas Weinhold: Wir können sicherlich nicht erwarten, dass sich Lehrkräfte oder Dozent*innen in der Erwachsenenbildung von einem auf den anderen Tag mit der jeweiligen Geschichte auskennen. Das würde jedes Fortbildungsangebot überfordern. Wir können aber verlangen, dass ein Bewusstsein davon entsteht, wie komplex Geschichte ist, im Kontext der deutschen Vergangenheit, erst recht im internationalen Kontext. Lehrer*innen müssen ein Gefühl dafür entwickeln können, mit welchen erinnerungspolitischen Reflexen sie rechnen müssten und sollten.
Norbert Reichel: Wenn man die Folgen des sogenannten Hitler-Stalin-Pakts und der damit verbundenen Molotow-Ribbentrop-Linie, die heute noch die Ostgrenzen Polens bestimmt und Ursache der Vertreibungen von Pol*innen aus Gebieten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs war, nicht kennt, bleiben polnische Geschichte und polnische Politik unverständlich. Ähnliches gilt für die wechselvolle Geschichte der baltischen Staaten und der Ukraine. Aus meiner Sicht sollte ein Buch wie Timothy Snyders „Bloodlands“ zur Standardlektüre historisch-politischer Bildung gehören, in Auszügen auch in der Schule. Zu Frankreich empfehle ich gerne das Buch von Géraldine Schwartz „Les amnésiques“, das in deutscher Übersetzung für wenig Geld bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich ist.
Andreas Weinhold: Was wie erinnert, aber auch was vergessen wird, ist in hohem Maße geformt, von staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren organisiert und immer wieder aufs Neue Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die oft mehr mit der Gegenwart als mit der Vergangenheit zu tun haben. Die Rückkehr zu einer heroischen Erinnerungskultur etwa, für die sich die Herren Gauland und Höcke stark machen, wenn sie in ihren Reden die Nazi-Jahre zu einem „Vogelschiss“ komprimieren oder eine erinnerungspolitische Wende fordern, entspricht der Sehnsucht ihrer Anhänger nach einer heilen Welt, die ihnen eine Auseinandersetzung mit Zumutungen der Gegenwart erspart. Statt die mit Globalisierung und Migration einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen als Herausforderung betrachten zu können, die nicht nur Bedrohliches, sondern auch Entwicklungsmöglichkeiten für das eigene Leben beinhaltet, reagieren sie auf diese Veränderungen mit der Beschwörung einer idealisierten Vergangenheit, in der alles seine Ordnung hatte.
Psychoanalytisch könnte man von einer regressiven Erinnerungskultur sprechen, wenn den angstmachenden Veränderungen der Gegenwart eine heroische Vergangenheit gegenübergestellt wird, in der das Handeln der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern ausschließlich positiv gesehen wird.
Norbert Reichel: Eine heroische Erinnerungskultur ist durchaus auch Gegenstand mancher Communities ein- und zugewanderter Menschen, mitunter auch als Verklärung gegenüber unerfreulichen Erfahrungen hier in Deutschland.
Andreas Weinhold: Auch hier hilft pauschale maßregelnde Ablehnung nicht weiter. Klarer Standpunkt ja, aber wir müssen akzeptieren, dass es Erinnerungsgemeinschaften gibt, in denen ein heroisches Bild der Vergangenheit ein tradiertes Bedürfnis ist. Erst wenn ich dies anerkenne, habe ich eine Chance, national-populistische Geschichtsbilder ab- und ein kritisches Verhältnis zur Vergangenheit aufzubauen. Ich kann nicht permanent Menschen mit türkischer Familiengeschichte erzählen, sie sollten „ihren eigenen“ Völkermord an den Armenier*innen aufarbeiten. Dies wird erst einmal als nationale Demütigung gedeutet und ist oft auch genauso gemeint. Und dann muss ich mich nicht wundern, dass selbst links oder säkular orientierte Türk*innen bzw. Menschen mit türkischer Familiengeschichte sich mit der Geschichtspolitik der türkischen Regierung solidarisieren und die Massaker an den Armenier*innen leugnen oder herunterspielen.
Norbert Reichel: In Berlin habe ich einen Schulleiter mit türkischer Familiengeschichte erlebt, der berichtete, dass er zunächst den Eindruck hatte, dass die Deutschen ihr eigenes Land immer nur schlecht machten, wenn sie über seine Geschichte sprachen. Das wäre in der Türkei nicht denkbar gewesen. Erst später habe er gelernt, dass gerade die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Stärke sei. Diese Stärke wünsche er sich jetzt auch für die Türkei.
Andreas Weinhold: Eine postheroische, kritische Erinnerungskultur ist nur einer unter vielen möglichen Zugängen zur Vergangenheit. Wir werden einstweilen damit leben müssen, dass ein Großteil der Erinnerungsgemeinschaften auf dieser Welt eher heroisch ausgerichtet ist. Die bei uns vorherrschende kritische Erinnerungskultur ist ja auch kein Selbstzweck, den man für den Rest der Welt zur Norm erheben könnte. Sie ist das Ergebnis einer sich demokratisierenden Gesellschaft, in der ein Teil der Zivilgesellschaft – nicht der Staat – die Bereitschaft aufbrachte, sich rückhaltlos mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und an die Leiden der Opfer zu erinnern. Ob auch kommende Generationen an dieser kritischen Funktion des kollektiven Erinnerns festhalten werden, ist offen. Erinnerungskulturen sind Spiegelbilder der Gesellschaft. Sie sind immer nur so kritisch und demokratisch wie die Menschen, die sich darin engagieren.
Andreas Weinhold ist ausgebildeter Lehrer für Geschichte und Englisch. Er hat lange in mehreren Gesamtschulen, zuletzt in Krefeld, gearbeitet und ist seit etwa zehn Jahren bei Bildungspartner NRW tätig. Dort ist er vor allem für die Zusammenarbeit von Schulen, Gedenkstätten und Archiven zuständig.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft, Fotos alle (c) Andreas Weinhold. Eine Literaturliste findet sich an Schluss des Interviews mit Sylvia Löhrmann.)