Gute Orte und die Lust zu streiten

Ein Gespräch mit dem Autor Jürgen Wiebicke über demokratische Tugenden

„Demokratische Politik hat nicht die Aufgabe, Bürgern möglichst konfliktarme Lösungen anzubieten, sondern auch zu erwartende Probleme zu antizipieren und so darzustellen, dass man sich auf Schwierigkeiten und/oder Konflikte vorbereiten und einstellen kann. Letztendlich lässt sich solchen Ängsten nur über Transparenz und Problembenennung der Boden entziehen – auch wenn das für manche Politiker vielleicht unangenehm klingt.“ (Rainer Kilb, Von anderen Milieus abgekoppelt, in: Tagesspiegel 23. November 2023)

Im November 2023 erschien Jürgen Wiebickes neues Buch: „Emotionale Gleichgewichtsstörung – Kleine Philosophie für verrückte Zeiten“. Der Titel ließe sich durchaus doppeldeutig interpretieren. Da wurde etwas „verrückt“, von seinem angestammten Platz verschoben, da ist etwas „verrückt“, nicht mehr so ganz bei Verstand. Jürgen Wiebicke versucht in seinen Büchern, die er mit Understatement gerne „Büchlein“ nennt, sich dieser „verrückten“ Wirklichkeit zu nähern. Er hat Germanistik und Philosophie studiert, aber – wie in seinem Wikipedia-Eintrag zu lesen – auch am Fließband gearbeitet und LKW gefahren. Flaggschiff seiner journalistischen Tätigkeit ist das auf WDR 5 regelmäßig zu hörende „Philosophische Radio“ , in dem er sich mit unterschiedlichen Zeitgefährt:innen über die Dinge unserer Welt und unserer Zeit unterhält. Er beteiligt sich an der Gestaltung des Festivals phil.cologne. Ein wichtiges Anliegen ist ihm die philosophische Debatte mit Kindern, schon in der Schule.

Jürgen Wiebicke, Köln (im Hintergrund die Rheinpromenade in der Nähe der Kranhäuser und die Rodenkirchener Eisenbahnbrücke), 13.08.2020, Foto: privat

Jürgen Wiebickes Bücher reflektieren unseren gesellschaftlichen (und politischen) Alltag mit philosophischen Annäherungen, immer gut lesbar, immer nahe an den Realitäten, wie wir sie alle erleben (könnten, wenn wir nur wollten). Er fragt in seinen Büchern nach den Perspektiven der Evolution des Menschen, wie in „Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen – eine philosophische Intervention“ (2014), er begibt sich auf Reisen in den Alltag von Menschen, denen wir nicht unbedingt begegnen, auch zu Fuß, wie in „Zu Fuß durch ein nervöses Land – Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält“ (2016), er formulierte und begründete „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“ (2017), er erforschte die eigene Familiengeschichte in „Sieben Heringe – Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben“ (2021). In seinem aktuellen Buch, das Anlass des hier dokumentierten Gesprächs war, setzt er sich mit der aktuellen gesellschaftlichen (und politischen) Gefühlslage auseinander. Alle Bücher von Jürgen Wiebicke sind in Köln bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Gegen das Babylon-Berlin-Gefühl

Norbert Reichel: Im Jahr 2017 haben Sie das Buch „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“ veröffentlicht. Die Welt hat sich seit dem Erscheinen des Buches erheblich verändert. Manches zeichnete sich ab, aber so manche Politiker:innen, auch Journalist:innen ignorierten die Zeichen der Zeit. Ich denke an den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, den Überfall Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 und die permanente sogenannte „Migrationskrise“, deren politisches und mediales Framing die Wahlergebnisse der letzten Monate in Bayern, Hessen, der Slowakei und den Niederlanden beeinflusste. Die polnischen Wahlen vom 15. Oktober 2023 waren ein Lichtblick in dieser Reihe, im nächsten Jahr werden das Europaparlament und die Landtage in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. Würden Sie dieses Buch nach den aktuell wirkenden Ereignissen neu schreiben?

Jürgen Wiebicke: Definitiv hat sich die Grundkonstellation geändert. Wenn ich heute über die Inhalte des Büchleins spreche, muss ich mich nicht mehr für einen solchen Titel rechtfertigen. In der damaligen Stimmungslage hielten viele das Buch für zu sehr auf die Sahne gehauen, für alarmistisch. Ich habe immer gehofft, dass ich der Übertreiber wäre und mich die Realität Lügen strafe. Manchen Satz würde ich heute vielleicht etwas anders schreiben, aber in der Grundkonstellation finde ich das Buch noch einigermaßen frisch.

Norbert Reichel: Wer waren damals Ihre Kritiker?

Jürgen Wiebicke: Namentlich kann ich das nicht sagen. Das Büchlein versucht überparteilich für Demokratie zu argumentieren. Ich habe es – wie auch alle anderen – geschrieben, um Gesprächsanlässe zu schaffen. Ich möchte in Verbindung kommen. Es ist ein bisschen taktisch gedachtes Schreiben. Ich möchte eingeladen werden. Das Gute bei diesem Büchlein war, dass ich in den Folgejahren bis zu Corona in sehr verschiedenen Lebenswelten eingeladen war, mit ganz unterschiedlichen Menschen, sowohl was soziale Kontexte als auch was politische Farben angeht. So kam ich in unterschiedliche Milieus und da habe ich viel gelernt. Ich kann daher nicht mehr auf Ort und Personen zurückführen, wann und wo der Einwand kam, den ich nannte. Aber der Einwand kam regelmäßig.

Heute muss man geradezu umgekehrt argumentieren. Wir haben es mit einem ziemlich tiefsitzenden Babylon-Berlin-Gefühl zu tun. So erkläre ich mir auch den Erfolg der Serie. Diese Unheilserwartung, dass Demokratie vor die Hunde geht, hat sich so tief eingefressen, dass ich meine Aufgabe heute eher darin sehe, die Seite der Zuversicht und der Hoffnung zu stärken, dass es eben nicht so kommt wie seinerzeit in Babylon Berlin.

Norbert Reichel: Ich kenne die Serie selbst nicht im Detail, wohl aber die Vorlage, die Bücher von Volker Kutscher, die ich alle gelesen habe. Zwischen Serie und Romanen gibt es zwar wesentliche Unterschiede, die aber für uns jetzt nicht von Relevanz sind. Der erste Roman „Der nasse Fisch“, der im Jahr 1929 spielt, erschien im Jahr 2007. Ein zentrales Ereignis ist der sogenannte „Blutmai“, als der sozialdemokratische Polizeipräsident Karl Zörgiebel die am 1. Mai trotz Verbot demonstrierenden Kommunisten niederschießen ließ. Der neunte Roman „Transatlantik“ erschien im Jahr 2022 und die Geschichte spielt im Jahr 1937. Die Romane sind hervorragend recherchiert, die realen Personen, die dort erscheinen, lassen nachvollziehen, was sich in den Jahren ab 1929 und danach in Berlin und in Deutschland abspielte. In allen Romanen gibt es eine Person, die Hoffnung macht, Charlotte Ritter, die in der Serie von Liv Lisa Fries gespielt wird. Sie erscheint mir für das gesamte Konzept noch viel wichtiger als Gereon Rath. Eine Gelegenheitsprostituierte wie in der Serie war sie in den Romanen jedoch nicht. In den Romanen ab 1933 arbeitet sie heimlich im Widerstand gegen die Nazis, während Gereon Rath immer wieder versucht, sich durchzumogeln, obwohl auch er die Nazis ablehnt.

Jürgen Wiebicke: Sie ist in der Serie fabelhaft besetzt. Wir schauen auf die Serie und wissen, es wird nicht besser. Die Ereignisse laufen auf das Jahr 1933 zu. Eine prominente Rolle nimmt der Polizeipräsident ein, der sich für die Demokratie einsetzt und gegen die NSDAP. Wir wissen, dass er diesen Kampf verlieren wird. Davon dürfen wir uns aber nicht beeindrucken lassen.

Norbert Reichel: Es gibt diesen berühmten Satz „Bonn ist nicht Weimar“. Nun sind wir nicht mehr in Bonn, sondern in Berlin. Wir hatten den Putschversuch Hitlers vom 9. November 1923, neun Jahre und etwas weniger als drei Monate später war Hitler Reichskanzler. Im Dezember 2022 wurde eine „Reichsbürger“-Gruppe ausgehoben, die einen Putsch vorbereitete. Die Verschwörer sitzen in Untersuchungshaft. Bei dieser Konstellation kann man schon auf unangenehme Gedanken kommen. Aber wie kann man erreichen, dass man nicht auf diese Gedanken kommt?

Jürgen Wiebicke: Ich setzte darauf, dass eine ausreichende Anzahl von Menschen – ich weiß nicht, ob kritische Masse der richtige Begriff ist – eine ausreichende Anzahl von Menschen begreift, worin ihre eigentliche Macht besteht. Diese Macht wird chronisch unterschätzt. Ich denke, das, was wir jetzt erleben, hat vieles in unserem Denken durcheinandergewürfelt. Wir sind alle in einer gewissen Grundorientierungslosigkeit. Ich glaube, dass das im guten Sinne auch ein Weckruf sein kann, dass man die Beobachterlage verlässt und sich klarmacht, was es eigentlich heißt, Aktivbürger in dieser Gesellschaft zu sein. Wir lassen etwas hinter uns, was auch gar nicht funktioniert hätte, dass Demokratie ganz von allein funktioniert, dass alles geklärt wäre, der Staat, die Gesellschaft, alles so orientiert wäre, dass es – ich meine das im nicht-juristischen Sinne – eine Ewigkeitsgarantie hat. Diese Illusion ist zerplatzt. Nun haben Menschen die Wahl. Wollen sie Aktivbürger sein oder wollen sie Babylon Berlin gucken und sehen, wie das Verhängnis in der Wirklichkeit seinen Lauf nimmt?    

Wir brauchen Streitbereitschaft – das ist Demokratie!

Norbert Reichel: Vielleicht schauen wir uns einmal an, warum manche nur zuschauen und ertragen. Ich habe mir bei den Wahlergebnissen der letzten Monate und Jahre die Wahlbeteiligungen angeschaut. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Stadtteilen und Regionen. In Stadtteilen, in denen früher die SPD Ergebnisse über 60 oder gar 70 Prozent einfuhr, liegt die Wahlbeteiligung inzwischen bei etwa 30 Prozent, manchmal auch darunter. Entsprechend schwach sind die Ergebnisse der SPD. Das betrifft den Norden des Ruhrgebiets, Städte wie Duisburg, aber auch Stadtteile wie den Kölner Norden oder Bonn-Tannenbusch. Das Desaster der nordrhein-westfälischen SPD ei der letzten Landtagswahl ist das Desaster der SPD in diesen Stadtteilen. Die Menschen, die dort leben, sehen offenbar niemanden, der ihre Interessen vertritt. Ein anderes Beispiel aus Ostdeutschland. Ein Zukunftsforscher, mit dem ich gerne zusammenarbeite, Karlheinz Steinmüller, erzählte mir, dass beispielsweise in Thüringen viele Menschen der Meinung wären, die Regierung tauge ohnehin nichts, sie selbst hätten keinerlei Einfluss, da wähle man eben die Partei, über die sich die regierenden Parteien am meisten ärgern. Im Osten wird dann AfD gewählt, im Westen wurde bisher gar nicht gewählt, aber auch das ändert sich inzwischen, wie wir in Bayern und Hessen erlebten.

Jürgen Wiebicke: An diesen beiden Beispielen gefällt mir, dass wir diejenigen, die in die Wahlenthaltung flüchten oder die AfD wählen, nicht von vornherein als aussichtslose Fälle betrachten, als festgefügt in einem rechtsextremen Denken. Ich halte es für gefährlich, wenn man gar nicht mehr versucht, Menschen zu adressieren. Und wenn Sie sich dem Phänomen einer labilen Demokratie in der Weise nähern, dass Sie auf die genannten Stadtteile und Regionen schauen, wissen Sie, dass es um konkrete Nöte geht und nicht um von vornherein feststehende rechtsradikale Verblendung.

Ich habe in den vergangenen Jahren einige Erfahrungen damit gemacht, was in Sälen geschieht, wenn dort gestritten wird, in Versammlungen, wenn sich populistische Töne breitmachen. Ich fand diese Momente immer sehr interessant, weil ich gemerkt habe, dass die Klischees, die wir „rechts“ nennen, so nicht stimmen. Menschen artikulieren sich oft aus sehr gemischten Motiven. Dass am Ende die AfD eine Adresse wird, um eine Grundunzufriedenheit zu artikulieren, kann nicht heißen, dass wir den Kontakt abbrechen.

Norbert Reichel: Was erleben Sie in diesen Sälen und Versammlungen konkret?

Jürgen Wiebicke: Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus Westfalen. Ich trage in diesen Versammlungen über Demokratie vor und schaue, was passiert. Da sind ungefähr 200 Menschen, wir diskutieren über die Verfasstheit der Gesellschaft und über Demokratie. Da steht jemand auf und sagt, er sei der Kreisvorsitzende der AfD. Alle atmen tief durch, alle denken, was wird jetzt Schlimmes passieren? Man kann zuschauen, wie der Angstschweiß ausbricht. Dann fängt der AfD-Kreisvorsitzende an zu sprechen und er tut das, was viele Menschen tun, die nicht allzu geübt sind, sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Er verwickelt sich in Widersprüche. Wir haben miteinander gerungen. Ich habe versucht, ihn einerseits ernst zu nehmen, andererseits mit Argumenten zu kontern. Für mich ist das Entscheidende, was hinterher geschah. Viele kamen auf mich zu und sagten, ich bin froh über diesen Moment, weil auf einmal ein politisches Phänomen aus der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit tritt. Wir wissen gar nicht, wer in dieser Stadt in der Nacht die Plakate möglichst hoch an die Laternenpfähle hängt. Jetzt wissen wir es.

Der Effekt war für mich, dass sich die Angst gelöst hatte. Angst lähmt und macht unfrei, gerade in politischen Diskussionen. In dem Moment, in dem jemand sagt, ich bin von der AfD und ich sage jetzt meine Meinung, haben wir die Sorge, dass ein ganzer Saal schlagartig seine Meinung ändert und umkippt wie schlechtes Bier. Diese Sorge ist von der Realität nicht gedeckt. Es ist genau umgekehrt. Es gibt ein demokratisches gemeinsames kollektives Gefühl, dass bestimmte Positionen nicht geteilt werden. Das ist meine Erfahrung mit bestimmten Positionen von Rechtspopulismus. Die Menschen sagen nicht, der Mann hat recht. Sie sagen, ich habe es mir angehört, ich habe es geprüft und es kommt für mich nicht in Frage.

Wir dürfen nicht verwechseln, dass es ein Unterschied ist, ob man es im Privaten mit einem rechtsextremen Onkel zu tun hat, bei dem man darüber nachdenkt, ob man mit dem Kontakt haben möchte oder nicht. In der öffentlichen Sphäre herrscht eine andere Logik. Da muss etwas ausgetragen werden. Da ist zu viel Angst im Raum, zu viel eigene Schonhaltung, dass man sich eine Auseinandersetzung mit Menschen, die eine andere Meinung haben, nicht mehr zutraut. Wir brauchen mehr Streitbereitschaft.

Norbert Reichel: Sie haben ein Beispiel genannt, in dem sich der Rechtspopulist im Grunde selbst demontierte. Ein anderer Punkt ist meines Erachtens die Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit von Abgeordneten. Ich habe im Sommer 2023 einen jungen Mann interviewt, Sepp Müller, Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag. Sepp Müller hat zwei Mal hintereinander das Direktmandat im Wahlkreis Dessau-Wittenberg gewonnen. Er hat bei der letzten für die CDU desaströsen Bundestagswahl sein Erststimmenergebnis halten können. Die AfD hat er auf Platz 3 verwiesen. Sein Erfolgsgeheimnis: Er ist ständig in seinem Wahlkreis präsent. Er spricht mit den Menschen, er bringt Menschen zusammen wie beispielsweise Förster und Engagierte von Fridays for Future, die dann merken, dass die anderen gar nicht so schlimm sind. Entstanden ist eine Baumpflanzaktion. In der Lausitz gibt es eine SPD-Abgeordnete, Maja Wallstein, die ähnlich agiert. Stefan Willeke portraitierte Maja Wallstein in der ZEIT. Sie fährt mit einem Bollerwagen durch die Region und spricht mit allen Menschen, die sie zufällig trifft. Im Grunde macht sie etwas Ähnliches wie Sie in der Recherche für Ihr Buch „Zu Fuß durch ein nervöses Land“.

Ich nenne als Gegenbild noch einmal die Menschen, die sagen, wir können eh nichts ändern, also wählen wir gar nicht oder die AfD, demnächst vielleicht das Bündnis von Sahra Wagenknecht. Da ist gefühlte Ohnmacht im Spiel. Auch hierzu ein Beispiel: Wir haben in Deutschland etwa 16 Millionen Einfamilienhäuser. In manchen Regionen, so auch in Ostdeutschland, ist das Eigenheim der einzige Besitz der Familie. Wenn dann die Heizung von einem auf den anderen Tag umgebaut werden soll, befürchten diese Menschen nicht ganz zu Unrecht, wir werden ruiniert und wählen diejenigen, die alles, was mit Klima zu tun hat, leugnen und jede das Klima schützende Maßnahme abschaffen wollen.

Jürgen Wiebicke: Ich nenne ein anderes Beispiel aus den Erfahrungen im Zuge meines Demokratiebüchleins. Irgendwann meldete sich bei mir der Landessportbund Thüringen. Die sagten, sie hätten noch nie etwas Politisches gemacht, hätten aber jetzt das Gefühl, dass da etwas wegbricht, dass wir etwas tun müssen, und schauen, was macht der Sport. Können Sie sich vorstellen, in die Provinz zu gehen? Dann bin ich in die Provinz gegangen. Es war eine unglaublich interessante Versammlung, ich glaube, es war in Schmalkalden. Ein Saal voller Schützen, Freiwillige Feuerwehr und wer sich alles ehrenamtlich engagiert. Das war kein Heimspiel. Der Vorbehalt gegenüber der Demokratie als Lebensform ist so groß, dass man sich schon sehr anstrengen muss, um argumentativ durchzudringen. Ich bin trotzdem mit einem guten Gefühl weggegangen, weil ich gemerkt habe, die Leute wollten die Auseinandersetzung, sie wollten sprechen, sie wollten gehört werden.

Ich habe in dieser Veranstaltung verstanden, warum es gerade in den ostdeutschen Bundesländern schwierig ist, Zustimmung für unsere Form der Demokratie zu finden. Das hat mit den Erfahrungen nach dem Fall der Mauer zu tun. Zwei Dinge werden ständig miteinander verwechselt: Demokratie und Kapitalismus. Es sind in Ostdeutschland Formen von Umwälzungen in der Gesellschaft geschehen, die man der Demokratie zuschreibt, die aber von einem ökonomischen Gesellschaftssystem verursacht wurden. Das ist nicht das Gleiche. Der Gedanke, dass in unserer Gesellschaftsform darüber nachgedacht werden kann, Dinge anders zu gestalten, liegt erst einmal nicht so nahe. Deshalb bin ich dankbar, dass Sie auf sozial prekäre Verhältnisse hinweisen, weil dort die Zustimmung besonders gering ist. Das heißt aber, wir müssen an diese Probleme heran. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Zustimmung zu unserer Gesellschaftsform wächst, wenn gleichzeitig die Ungleichheit immerzu wächst.

Norbert Reichel: Es gibt aber auch so eine biedere Gleichgültigkeit. Diese beschreiben Sie ebenfalls in Ihrem Buch „Emotionale Gleichgewichtsstörung“. Den gleichen Gedanken formulierte Michel Friedman in seinem Buch „Schlaraffenland abgebrannt: Von der Angst vor einer neuen Zeit“, das kurze Zeit vor Ihrem Buch im Berlin Verlag erschien. Viele Leute schauen einfach nur zu. Dabei gibt es die Leute, die ohnehin in ihrer prekären Lage nicht wissen, wie sie ihr Leben bewältigen sollen. Und es gibt die Leute, die jede Sozialleistung als Anregung zur Faulheit diffamieren. Das sind nicht nur die Reichen, die so denken. In der neuen Studie von Steffen Mau, die bei Suhrkamp unter dem Titel „Triggerpunkte“ erschien, erfahren wir, dass diejenigen, die besonders heftig gegen Sozialleistungen argumentieren, Menschen sind, die selbst nicht viel haben und befürchten, dass andere ohne Arbeit bessergestellt würden als sie mit ihrer Arbeit. Die Konstellationen, in denen das zutritt, sind nicht an den Haaren herbeigezogen. Anfang Dezember erschien eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie, die zeigte, dass unser Sozialsystem in Teilen Menschen bestraft, wenn sie eine besser bezahlte Arbeit aufnehmen.

Jürgen Wiebicke: Wissen Sie, wir befinden uns schon in einer Denkfalle. Wir reden über Demokratie und beschäftigen uns nur mit Rechtspopulismus. Damit zieht sich die Schlinge immer enger. Ich finde, man muss anders herum argumentieren. Ich war immer dankbar, wenn es mir gelang, über Demokratie zu reden, ohne dass jemand sagte: aber die AfD! Wenn man eine Stunde schafft oder eine Stunde 15 Minuten, das Phantom des Rechtsextremismus nicht in den Mittelpunkt zu stellen, ist das viel. Wir müssen uns fragen, was ist eigentlich mein Anteil, was sind in einer freiheitlichen Gesellschaft die Quellen der Moral. Wir dürfen nicht immer in Erstarrung wie das Kaninchen vor der Schlange verharren. Wir müssen uns unserer Ressourcen vergewissern. Und wenn wir beide eine Stunde nur über Rechtspopulismus sprächen, hätte ich am Ende dann das Gefühl, den Kopf in den Sand zu stecken, obwohl ich eigentlich das Gegenteil möchte.

Perspektivwechsel: Menschen sind helfensbedürftig (Klaus Dörner)

Norbert Reichel: Dann drehen wir das Thema in diese Richtung. Ich denke an meine beiden Gespräche mit Marina Weisband. Ein zentrales Thema war erlebte Selbstwirksamkeit. Wir haben unter anderem über ihr aula-Projekt gesprochen, das im Frühjahr 2024 in einem Buch vorgestellt wird. Marina Weisband berichtete von ihrer Unterstützung des Bürgerhaushalts in Münster, vor etwa zehn Jahren. Sie hätte sich gefragt, warum das Projekt von so wenigen Menschen unterstützt wurde. Die Antwort lautete, die Vorschläge der Bürger:innen bleiben unverbindlich, der Rat muss ihnen nicht folgen. Das ist das Gegenteil von Selbstwirksamkeit. Aber wie könnte Selbstwirksamkeit entstehen, wie könnten Menschen merken, Demokratie ist gut für mich?

Jürgen Wiebicke: Meine Antwort ist ein bisschen klassisch, nämlich aristotelisch. Ich glaube, dass die allermeisten Menschen sich als selbstwirksam spüren möchten. Ihnen ist nur der Weg nicht bekannt. Ob die Beteiligung an einem Bürgerhaushalt der erste Schritt dahin ist, lasse ich einmal dahingestellt. So weit ist das aber eher eine technische Frage.

Eher muss man zugrunde legen, dass wir etwas haben, das Zustimmung verdient, weil eine freiheitliche Gesellschaft uns mehr Entwicklungsmöglichkeiten gibt und uns bereichert, jeden von uns. Die Frage lautet: Wie kommt das denn zum Tragen? In diesem Kontext interessiert mich die Logik von guten Orten. Was geschieht mit Menschen, die einen solchen Ort gefunden haben, die Aktivbürger geworden sind? Und was unterschiedet diese Menschen von denen, die nur murren? Wir müssen auf diejenigen schauen, die sich engagieren und schauen, warum die das tun, anstatt uns in dem Blick auf die Mürrischen zu verlieren, die das noch nicht erreicht haben. Wir müssen uns die Frage stellen, wie können wir Zugangsschwellen so senken, dass möglichst viele Menschen Zutritt zu Erfahrungsräumen erhalten? In denen sie plötzlich feststellen, es macht einen Unterschied, ob ich dabei bin, es macht einen Unterschied, ob ich komme oder nicht!

Sie haben es ja gelesen, mein Leitsatz stammt von dem Psychologen und Psychiater Klaus Dörner: Menschen sind nicht hilfsbedürftig, sondern helfensbedürftig. In dem Moment, in dem wir uns in einer anderen Rolle wahrnehmen und Teil eines gelingenden Gemeinwesens sind, geschieht auch etwas mit uns. Das ist aristotelisch gedacht. Das ist die Frage nach dem, was in dem Paradoxon von Böckenförde steckt: Wie kann eine freiheitliche Gesellschaft auf Dauer überleben, wenn man einerseits auf Menschen angewiesen, die etwas tun, man diese Menschen zu diesem Tun aber nicht verpflichten kann? Dann muss man überlegen, was ist es denn? Daher sage ich, wir brauchen eine Debatte über unser Bild vom Menschen. Es ist doch so, dass wir uns selber entwickeln, indem wir teilhaben.

Norbert Reichel: Da wäre doch die Kommunalpolitik der Schlüssel. Dort kann ich die Teilhabe am sichtbarsten machen.

Jürgen Wiebicke: Ja. Aber das wäre schon der zweite Schritt, der Schritt in die Kommunalpolitik. Wenn Sie meinen, dass man nach Mandaten strebt…. Wichtig ist erst einmal das, was davor passiert. Das sind die Erfahrungsräume, in denen Menschen erst einmal aktiv werden, im Bereich des Lokalen. Deshalb setze ich auf gute Orte, dass Menschen sich einbringen und merken, dass man einen Stadtteil von vielleicht 15.000 Menschen verändern kann, wenn sich 100 Menschen einbringen. Das ist doch irre, dass man so einen Stadtteil verändern kann.

Norbert Reichel: Eine Variante der Ein-Prozent-These.

Jürgen Wiebicke: Das gibt es natürlich im Guten wie im Schlechten. Man kann auf diese Art die Leute auch verrückt machen. Aber erst einmal im Guten! Das ist doch eine großartige Erfahrung, das beginnt häufig damit, dass Menschen merken, oh, Hässliches kann man in Schönes verwandeln. Dann haben wir auf einmal Orte, an denen man sich gerne aufhält. So etwas interessiert mich.

Norbert Reichel: Es gibt leider auch die Gegenbeispiele: Menschen pflegen einen Baum oder ein Beet vor ihrer Haustür und dann kommt die Stadtverwaltung und verbietet ihnen das. Leider kein Einzelfall. Gute Orte müssen meines Erachtens auch politisch gewollt und wertgeschätzt werden.

Jürgen Wiebicke: Trotzdem geht es erst einmal darum, dass wir uns den Grundgedanken nicht gefallen lassen, man könne doch nichts machen. Das schaffen wir nicht, indem wir nur noch Angstgespräche miteinander führen.

Norbert Reichel: In Ihrem Buch „Zu Fuß durch ein nervöses Land“ haben Sie Orte besucht, in die eigentlich niemand hinwill, aber Sie haben festgestellt, die Menschen sind stolz auf ihren Ort, ihre Heimat, auch im Norden des Ruhrgebiets, im Kölner Norden und im Osten, in abgelegenen Landstrichen. Die sagen nicht, in Köln-Chorweiler ist alles furchtbar, das sagen nur die Leute in Köln-Lindenthal oder in Köln-Hahnwald.

Jürgen Wiebicke: Der Perspektivwechsel ist total wichtig. Man muss sich klarmachen, dass unsere herrschende Politik durch und durch von einer bürgerlichen Perspektive beherrscht ist. Das findet sich nicht nur in den Mandaten wieder. Das dekliniert sich durch unsere ganze Kultur, die Medien. Die bürgerliche Perspektive ist prägend und andere fallen durchs Raster. Ich nenne ein Beispiel: Meine Stadt Köln hat als immer noch vorherrschendes Leitmedium den Kölner Stadtanzeiger. Irgendwann hat der Kölner Stadtanzeiger die sogenannten zehn schönsten Jogging-Strecken ins Blatt gebracht. Dann sehe ich die Landkarte und sage, das kann doch nicht wahr sein, was ihr da ins Blatt bringt. Neun von zehn dieser Jogging-Strecken befinden sich im Linksrheinischen, die einzige im Rechtsrheinischen führt am Rhein entlang. Das heißt, die Bezirke im Osten der Stadt, Kalk, Vingst, Höhenberg, Finkenberg, in denen die sozialen Probleme geballt sind, kommen im bürgerlichen Bewusstsein gar nicht vor, weil der Blickwinkel so bürgerlich ist, dass man das gar nicht mehr wahrnimmt. Das finden wir in der Politik ohne Ende. Das ist ein Unterschied, in welchem Zustand die Straßen hier sind und wie sie dort sind. Wir haben eine Form von bürgerlicher Arroganz in der Politik und in der Gesellschaft entwickelt, dass die Haltung entsteht, man kann ja eh nichts machen, für uns interessiert sich niemand. Man muss mühsam verstehen, dass an einem solchen Lebensgefühl etwas dran ist und dass dies mühsam aufgelöst werden muss. 

Wahrheit und Lüge – der Wille zur Wahrhaftigkeit

Norbert Reichel: Das ist ja nicht so einfach. Wenn ich mir die Rezeption grundlegender Studien anschaue wie die Bielefelder Mitte-Studie oder die Leipziger Autoritarismus-Studie, drängt sich der Eindruck auf, alles gehe zugrunde. Ein anderes Phänomen: Regierungsparteien können machen was sie wollen, die Oppositionsparteien werden alles schlecht machen, werfen der Regierung Unvermögen, mitunter auch bösen Willen vor, weil sie alles, was wichtig wäre, verbieten wollten und es einfach nicht draufhätten. Konstruktive Vorschläge gibt es entweder nicht oder sie schaffen es nicht in die Medien. Eine Art der Lust am Dooming? Ich könnte mit Erich Kästner fragen, wo bleibt das Positive? Das Gute?

Jürgen Wiebicke: Das Gute lässt sich auch nicht so leicht erzählen. Das beginnt schon mit Homer und zieht sich durch die ganze Kulturgeschichte durch, dass wir das Böse, das Furchtbare doch viel interessanter finden und es daher auch eine größere Aufmerksamkeit generiert. Aber in einer solchen Situation, in der wir gerade sind, müssen alle, auch wir beide, überlegen, wie kann man eigentlich der Dominanz von Negativität begegnen, wie sie zurzeit herrscht? Wir müssen auch feststellen, dass Emotionen in der Politik, ob einem das gefällt oder nicht, wichtiger werden. Leute wie wir haben lange Zeit auf dieses Habermas’sche Ideal gesetzt, dass alles was wir tun, auf der Basis von Rationalität, guten Argumenten, herrschaftsfreier Kommunikation beruht. Und jetzt stellen wir fest, dass Emotionalität eine größere Rolle spielt. Deshalb mache ich mir zu allererst Gedanken darüber, wie bekommen wir diese geballte Negativität im Bereich der Emotionen, Apathie, Verzweiflung, Angst, wie bekommen wir das aufgelöst?

Norbert Reichel: So einfach ist das ja nicht. Dazu passt vielleicht eine Anmerkung von Mario Basler, die Dietrich Schulze-Marmeling in seinem Buch über Mesut Özil (Der Fall Özil, Göttingen, Die Werkstatt, 2018) zitiert: „Ich brauche keine Fakten, ich habe eine Meinung.“ Das Wort von den „alternativen Fakten“ schwingt mit und damit sind wir auch schnell bei Kulturkämpfen. Ein Mesut Özil wurde Erdoǧan geradezu in die Arme getrieben.

Jürgen Wiebicke: Das ist schwierig, ich habe auch nicht auf alles eine Antwort. Natürlich gibt es Manipulation von Fakten, aber ich glaube, dass es zum Menschen gehört, dass man wahrhaftig leben, Wahrheit und Täuschung voneinander unterscheiden möchte. Die wenigsten Menschen greifen bewusst nach der Lüge. Das klingt vielleicht banal: es geht darum, dass wir uns nicht in einem so verfinsterten Bild vom Menschen einrichten. Ich glaube, Menschen wollen etwas anderes. Was Menschen wollen können, das ist eine Perspektive für mich. Die meisten Menschen wollen gesehen werden, sie wollen zu einem guten Ganzen beitragen. Die meisten Menschen wollen genau das.

Norbert Reichel: Sie wollen auch, dass es ihren Kindern gut geht.

Jürgen Wiebicke: So ist es. Aber das hat schon Weiterungen, je nachdem wie misstrauisch die Perspektive auf die Welt ist. Da muss man sich auch selbst korrigieren und sich nicht vollpumpen mit Negativität und Unheilserwartungen. Dann tritt genau das ein: Wir bestätigen uns selber in Fatalismus.

Norbert Reichel: Man kann sich die Welt natürlich auch schönreden. Mir ist bei meiner Lektüre von Presseerklärungen aus dem Bundestag aufgefallen, wie sich die Presseerklärungen der Grünen verändert haben. Als Oppositionspartei waren sie – wie das bei Oppositionsparteien so ist – kritisch, nicht pauschalisierend, durchaus differenzierend, auch in Punkten, in denen sie der Regierung sogar zustimmten. Jetzt macht nach den Ansagen ihrer Presseerklärungen die Regierung im Grunde alles richtig. Sie verkaufen alles, was die Bundesregierung beschließt, vor allem, wenn es ihrem Parteiprogramm entspricht, als Erfolg. Selbst die kleinsten Schritte. Die Kindergrundsicherung braucht nach Berechnungen der Diakonie oder von Christoph Butterwegge etwa 20 Mrd. EUR, jetzt werden 2,4 Mrd. EUR als Erfolg verkauft und alles wird besser. Das entspricht durchaus den Üblichkeiten von Regierungen und ihren Presseabteilungen. Aber wenn nach Auffassung der Regierungen alles gut ist, geht das an der Lebenswirklichkeit der Betroffenen vorbei. Wahrheit und Lüge bekommen dann eine ganz andere Bedeutung.

Jürgen Wiebicke: Die Wahrheit liegt im Moment auf der Straße. Menschen sehen, dass die Infrastruktur bröckelt. Wir haben keine Lehrer, keine Erzieherinnen. Was kann eigentlich Politik Glaubwürdigkeit verschaffen? Indem man die Wahrheit sagt! Ich glaube nicht, dass es sich auf lange Sicht politisch rentiert, schönfärberische Presseerklärungen zu verfassen. Ich verstehe, warum man das tut, aber das ist Old School. Ich glaube nicht, dass man so die Ernte in die Scheune fährt.       

Wo fängt Veränderung an?

Norbert Reichel: Als wir uns vor etwa zehn Jahren das erste Mal trafen, ging es um das Thema „Philosophieren mit Kindern“. Es ist mir in meiner ministerialen Zeit leider nicht gelungen, dieses Fach in den Grundschulen zu implementieren. 2010 stand es noch mit Finanzierung im Koalitionsvertrag, 2012 schon nicht mehr. Nach 2017 wurde es dann auf „Ethik“ reduziert, mit dem merkwürdigen Beigeschmack, als ginge es bei einem „Ersatzfach“ – auch so ein merkwürdiger Begriff – zum Religionsunterricht eben um den Anteil des Religionsunterrichts, der auch ohne Transzendenz auskäme. Ich nenne das unterkomplex gedacht. Es wäre doch eine Perspektive schon für Kinder, über Selbstwirksamkeit und Teilhabe nachzudenken, auch über all die Fragen, die diese behindern wie die, die diese befördern.

Jürgen Wiebicke: Bei der phil.cologne bieten wir schon seit längerer Zeit Veranstaltungen für Schulklassen an. Für mich ist das abseits von Glanz und Glamour im Abendprogramm immer der Höhepunkt, wenn in wenigen Tagen einige Tausend Kinder und Jugendliche zu uns kommen. Ich kann das jetzt nicht so ins Programmheft schreiben, aber es kommt gar nicht darauf an, welches konkrete Thema, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, man wählt. Das Entscheidende ist für mich, dass junge Leute so früh wie möglich die Erfahrung des Sprechens im öffentlichen Raum machen und feststellen, dass es nicht reicht, eine Meinung zu haben, sondern dass man gute Gründe anführen muss und dass es dazugehört, Contra zu bekommen.

Dieser eigentliche Sprechakt, das ist dann nicht nur Philosophieren, sondern Einüben in demokratische Praxis. Wie können wir es miteinander aushalten auf der Basis von Verschiedenheit? Wir stellen jetzt fest, dass dieses Demokratieprojekt deutlich anspruchsvoller ist als wir gedacht haben, das ist überhaupt nicht bequem. Und dass Kinder frühzeitig die Kulturtechniken erlernen sollten, die man braucht, um ein guter Bürger zu werden. Dazu gehören auch Tugenden. Diesen Gedanken verfehlt man, wenn man sich nur als Konsumenten von Politik versteht oder als Besitzer von Ansprüchen.

Norbert Reichel: Das halte ich ohnehin für ein großes Problem. Viele konsumieren Politik, sie betrachten die von ihnen gewählten Regierungen wie einen Handwerksbetrieb. Wenn der nicht liefert, was man möchte, sucht man sich eben einen anderen. Im Grunde eine Entpolitisierung. Woher kommt das?

Jürgen Wiebicke: Bildungspolitisch von der Reduzierung auf bestimmte PISA-Fächer und einer gleichzeitigen Entwertung von all dem, das wir jetzt hier besprechen. Schule ist eben auch ein Ort von Demokratie, in dem man Praktiken einübt, das Rüstzeug bekommen kann, um Gesellschaft zu verstehen.

Norbert Reichel: PISA ist inzwischen auch durchaus umstritten, weil die Kontexte nicht stimmen. Der Bildungsforscher Heiner Barz kritisierte am 8. Dezember 2023 in einem Gespräch mit Farangies Ghafoor, dass beispielsweise bei der Lesefähigkeit eher das Lesen von Fahrplänen, nicht aber die Interpretation komplexer Texte abgefragt würde. Andreas Voßkuhle hat 2019 zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Volkshochschulverbandes gesagt, dass der Auftrag des Grundgesetzes laute, junge Menschen für die Demokratie heranzubilden. Im Grundgesetz steht nichts davon, dass bestimmte Fächer Vorrang hätten. Der KMK-Beschluss zur Demokratiebildung von 2018, an dem ich mitarbeiten konnte, ist da ebenfalls sehr deutlich, wird aber leider von denen, die die Stundentafeln und die Lehrpläne machen, wie auch manch andere KMK-Beschlüsse weitestgehend ignoriert. Die Kultusminister und -ministerinnen verhalten sich im Übrigen bei solchen Fragen auch sehr inkonsistent.

Jürgen Wiebicke: Wir müssen das Menschenbild hinter dem Grundgesetz verstehen. Das ist nicht das Menschenbild des Konsumbürgers, der nur nimmt. Es ist letztlich ein Produkt von Neoliberalismus, dass man Menschen nur als rationale auf ihren eigenen Nutzen fixierte Konsumbürger versteht. Unsere andere Seite, sich nicht nur um eigene Verhältnisse zu kümmern, sondern bestrebt zu sein, sich in ein gelingendes Ganzes einzufädeln, wie gesagt „helfensbedürftig“, kommt dabei nicht zum Tragen. Wir müssen uns vom Weltbild des Neoliberalismus trennen. Das ist noch sehr tief verankert.

Norbert Reichel: Aber er wackelt gewaltig!

Jürgen Wiebicke: Ich bin davon überzeugt, dass Neoliberalismus im Grunde eine Religion ist, an die niemand mehr glaubt, aber trotzdem sind natürlich die Machtverhältnisse noch da. Aber mit dem Glaubensverlust fängt ja Veränderung an.

Demokratie ist immer liberal, sonst ist sie keine

Norbert Reichel: Ich denke immer öfter, dass Demokratie eine philosophisch-praktische Frage ist. Ich sage bewusst philosophisch praktisch, damit das nicht mit dem Fach „Praktische Philosophie“ in nordrhein-westfälischen weiterführenden Schulen verwechselt wird. Demokratie ist Diskurs, Demokratie ist liberal, Demokratie ist Streit, das ist der philosophische Ansatz, und sie bewährt sich in der Praxis – oder auch nicht – und so habe ich neuerlichen Anlass, philosophisch zu reflektieren. Fast schon ein dialektisches Modell. Viele glauben hingegen, dass Demokratie hieße, das, was die von mir vermutete oder behauptete Mehrheit denkt, eins zu eins durchzusetzen, ohne Rücksicht auf Andersdenkende. Das wäre eine „illiberale Demokratie“, aber dieser Begriff ist schon ein Widerspruch in sich.

Jürgen Wiebicke: Das eine ist, man muss etwas wissen über das Wesen des Kompromisses. Wer Kompromisse immer als „faul“ bezeichnet, verfehlt die Wirklichkeit. Wir könnten jetzt lange über die Politikfähigkeit des Journalismus sprechen (lacht). Der Kern ist, dass man nie völlig verwirklichen kann, was man gerne möchte. Das ist eine so einfache Grundregel, aber offenbar nicht so sehr zustimmungsfähig.

Norbert Reichel: Wann wäre denn Journalismus politikfähig, wann nicht?

Jürgen Wiebicke: Jetzt habe ich mir selber die Falle aufgestellt, als ob es den Journalismus gäbe. Es geht eigentlich darum, dass man genügend über den Maschinenraum der Politik weiß, was Menschen tun, wenn sie ein Mandat haben, was Verwaltungen tun, wie sie arbeiten. Diese Kenntnis kann man nicht unbedingt voraussetzen. Aber das wäre noch einmal ein anderes Thema.

Bei dem, was Sie gesagt haben, finde ich aber auch noch Folgendes wichtig: die Bereitschaft etwas aushalten zu können. Deshalb habe ich auch eben etwas altmodisch von Tugenden gesprochen. Das ist etwas, das man sich selber abfordern muss, dass andere Menschen ganz anders auf die Welt gucken können. Das scheint mir gerade zu erodieren, die Bereitschaft, diese Eigenschaft an sich selber zu kultivieren.

Es gibt ja inzwischen die gerade bei jüngeren Leuten sehr ausgeprägte Kultur der Empfindsamkeit, dass man eigene Verletzbarkeit als Argument betrachtet, um etwas nicht mehr aushalten zu müssen. Wenn wir das pflegen und dafür sorgen, dass niemand mehr jemand anderen durch politische Rede verletzen kann, wird uns platt gesagt die Robustheit fehlen, die Kämpfe zu führen, die wir kämpfen müssen. Man muss einstecken können, wenn man in die Arena geht. Zu viel Empfindsamkeit halte ich für einen Irrweg.

Norbert Reichel: Spricht das für den Boxkampf als Metapher?

Jürgen Wiebicke: Ein Boxkampf, der den Gegner nicht zur Strecke bringen möchte. Man muss das Bild schon sehr genau anschauen. Eigentlich wollen wir uns nicht ins Gesicht schlagen, wenn wir uns streiten. Aber es gibt Gegnerschaft und es gibt etwas auszutragen. Es geht dabei auch nicht darum, dem anderen seine Meinung aufzuzwingen, sondern man will die Zustimmung des Publikums. Das wird auch oft verwechselt.

Man verwechselt oft auch private und öffentliche Sphäre. Es ist nicht so, dass man das, was man im privaten Raum anwendet, auch im politischen Raum anwenden kann. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie im Privaten mit jemandem umgehen möchten, dessen Gesinnung Sie abscheulich finden. Das ist etwas Anderes im öffentlichen Raum. Da geht es nicht darum, dass ich den Nazi-Onkel zum Besseren bekehre. Da geht es darum, dass ich die Zustimmung der Arena bekomme. Ich muss die besseren Argumente haben. Dazu muss ich kampfbereit sein und mich streiten. Wenn ich in der Pose der Empfindsamkeit auflaufe, werde ich verlieren.

Norbert Reichel: Man begibt sich in „Die Falle der Safe Spaces“, in denen man dann nur noch unter sich bleibt und alle ausschließt, die auch nur irgendeine andere Perspektive einbringen könnten, weil diese nur noch als Gefährdung betrachtet wird. Das ist eine hochgefährliche Entpolitisierung von Politik.

Jürgen Wiebicke: Es gab mal einen ausgesprochen interessanten Text dazu, den Claus Leggewie in der FAZ geschrieben hat. Er hat an eine historische Debatte aus den frühen 1960er Jahren zwischen dem Nobelpreisträger James Baldwin und William Buckley Jr., dem Protagonisten der damaligen neuen Rechten, erinnert. Er macht darauf aufmerksam, dass man sich eine solche Debatte heute nicht mehr vorstellen könnte, weil beide Seiten wahrscheinlich keine Lust mehr hätten, öffentlich miteinander zu streiten. Natürlich muss man sich fragen, wo die Grenze verläuft. Aber das politische Klima hat sich so sehr verändert, dass wir manche Menschen nicht mehr gemeinsam einladen können, damit diese sich öffentlich streiten. Ich finde, das ist ein trauriger Befund. Im Hinblick auf unsere derzeitige Debattenkultur.

Norbert Reichel: Ich habe eben schon einmal die „Triggerpunkte“ von Steffen Mau erwähnt. Er wies bei einer Präsentation bei der Stiftung Mercator in Berlin darauf hin, dass es inzwischen Gruppen gibt, die nur noch untereinander kommunizieren, aber nicht mehr mit anderen. Am stärksten wäre dies bei der AfD und bei den Grünen ausgeprägt. Wer sich so verhält, kann sich die Lebenswirklichkeit anderer Menschen nicht mehr vorstellen. Rainer Kilb schrieb Ende November 2023 im Tagesspiegel darüber. Er verwies auf eine Studie des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt: „Während bei der ebenfalls sehr homogenen AfD-Wählerschaft 50 Prozent innerhalb ihrer Netzwerke verbleiben, sind es bei potenziellen Grünen-Wähler und Wählerinnen immerhin 62 Prozent.“ Er zitierte auch Georg Simmel, der 1912 die Bedeutung der „Einblicke in andere soziale Klassen, Schichten, Lebensweisen und Kulturen einer Gesellschaft“ betont habe. Wenn das nicht geschieht, verschwindet eben das Politische.

Jürgen Wiebicke: Mindestens die Grünen müssten wir dafür am Wickel packen, damit sie darüber nachdenken, welche Form moralischer Arroganz dahintersteckt, wenn man meint, sich nicht mehr miteinander auseinandersetzen zu müssen. Das ist ein ausgewachsenes lebensweltliches Problem der fehlenden sozialen Kontakte und der Kontakte in die Gesellschaft hinein.

Norbert Reichel: So ist das auch mit der Forderung nach mehr Lastenrädern. Wer in einer Mietwohnung wohnt, hat überhaupt keinen Platz, wo er das unterstellt. Und billig ist die Anschaffung eines solchen Rades auch nicht. Ein anderes Beispiel: Wer jemandem in einem kleinen Dorf Car-Sharing empfiehlt, weiß offenbar nicht, dass man dort ein Auto braucht, um überhaupt die nächste Car-Sharing-Station zu erreichen. Das sind nur zwei kleine Beispiele, aber das zieht sich durch, wie die von Ihnen genannten Joggingstrecken.

Jürgen Wiebicke: So ist es. Man muss es kartographieren, um es als Phänomen zu verstehen. Und wir müssen überlegen, was tritt an die Stelle des Politischen? An die Stelle des Politischen tritt das Moralische, der Fingerzeig, der Verweis darauf, dass der andere noch nicht das richtige Leben führt. Das ist der Grund, warum die Grünen zurzeit – vielleicht ein bisschen zu ungerecht – bestraft werden. Aber nachzudenken über eigene moralische Arroganz hielte ich für sinnvoll. Ich glaube, dass man das an lebensweltlichen Beispielen gut klarmachen kann. Die Joggingstrecken sind nur ein Beispiel. Aber man kann sich auch anschauen: Wo werden die Radwege gebaut, wo werden sie nicht gebaut?

Ich will ja das Bürgerliche nicht verdammen. Bürgerliche Tugenden können wir gut gebrauchen. Daher setze ich auch auf bürgerliche Selbstkritik.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2023, Internetzugriffe zuletzt am 8. Dezember 2023.)