Lost Country?
Eine fast schon surreale Reise mit Ines Geipel ins „Fabelland“
„Aber wie hatte man sich das auch vorgestellt? Dass Millionen Deutsche nach vierzig geteilten Jahren aus dem Zeittunnel auftauchten und den vielen Anderen von der anderen Seite entzückt zuriefen: Was seid ihr denn Schönes?“ (Ines Geipel, Fabelland, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2024)
Zu Beginn hätte man tatsächlich diesen Eindruck haben können: Schön, dass es euch gibt! Guten Morgen, ihr Schönen! Man muss sich nur die Gesichter der Menschen anschauen, die auf den großen Tafeln zur Erinnerung an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 am damaligen Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin zu sehen sind. Was aus diesen fröhlichen Menschen wurde, was sie mit der neu gewonnenen Freiheit anfingen, wissen wir nicht. Auf jeden Fall wäre es falsch, die Antwort auf eine Parole zu reduzieren, die im Dezember 1989 auf einem der Transparente während der Demonstrationen zu lesen war: „Helmut, nimm uns an die Hand und führe uns ins Wirtschaftswunderland.“ Eben diese Reduzierung verselbständigte sich jedoch sehr schnell und im Westen sprachen bald viele nach einer kurzen Gefühlsaufwallung nicht mehr sonderlich freundlich von den Menschen im Osten, bezichtigten sie sogar, sie wären einfach nie zufrieden. Es gab zwar eine Art Revival der Festival-Stimmung elf Monate später am 3. Oktober 1990, aber dieses konnte nicht verdecken, dass schon damals viele Menschen nicht mehr die Freude über den Erfolg der Friedlichen Revolution teilten, in West und Ost. Und so entstanden zahlreiche Legenden und Mythen, die sich bis heute um die deutsche Geschichte der vergangenen 80 Jahre ranken.
Es waren einmal zwei Königskinder
Eigentlich gäbe es nach 35 Jahren Anlass und Gelegenheit genug, um sich nicht ständig, geradezu zwanghaft mit dem Ost und West Trennendem, sondern mit dem Verbindendem zu befassen. Vielleicht hatte Willy Brandt doch recht und es wuchs etwas zusammen, das zusammengehört? Aber das Trennende verkauft sich einfach besser und so werden viele deutsche Medien nicht müde, von einer „Ostidentität“ zu sprechen, der wohl auch so etwas wie eine „Westidentität“ entsprechen müsste, obwohl niemand einen solchen Begriff verwendet. Außerdem wird der Begriff der „Ostidentität“ je nach Blickrichtung unterschiedlich belegt. So oder so wird ein Bild von einem einheitlichen, geradezu monolithischen „Osten“ konstruiert, nicht zuletzt mit Blick auf jüngste Wahlergebnisse. Man könnte unken, die Festschreibung einer unverrückbaren „Ostidentität“ habe schon etwas von einer Self-Fulfilling Prophecy. Ines Geipel stellt nüchtern fest: „Die Sache mit dem Nullpunkt. Es gab ihn nie. Aber es gibt echte Anfänge. Und Darmstadt war einer.“
Diese Sätze lesen wir in dem Unterkapitel „Zeitschwebe“ des ersten großen Kapitels von „Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2024). Sie beziehen sich auf die erste Station von Ines Geipel nach ihrer Flucht aus der DDR im Sommer 1989. Neues Land, neues Leben? Immerhin: „Anfang ist Anfang“?!
Die allgemeine Verunsicherung, was und wie der „Osten“ eigentlich gewesen wäre und sei, ist inzwischen Gegenstand einer Fülle von Veröffentlichungen, von Büchern, Interviews, Essays und Reportagen in Zeitungen und Zeitschriften oder Auftritten in Talk-Shows und sozialen Netzwerken. Durchweg herrscht ein schräger Diskurs, der mitunter an den Rosenkrieg zwischen zwei Liebenden erinnern mag, die sich nach langer Trennung wiederbegegneten und feststellen mussten, dass der andere doch ganz anders war und ist als man es sich vorgestellt und gewünscht hatte. Niemand weiß, was aus den beiden Königskindern des Volkslieds geworden wäre, wenn sie überlebt hätten. Die Königskinder aus dem Westen und dem Osten haben aber nun einmal überlebt. Das Wasser im Märchen war zwar zu tief, aber die reale Mauer war auf Dauer nicht zu hoch. Sie hielt gerade einmal 28 Jahre. Doch an der Stelle trauten Glücks erleben wir heftige Beschimpfungen, eine Gewalt in der Sprache, die auch in körperliche Gewalt umschlägt. Es entstehen Mythen und Opfererzählungen, durchaus generationenspezifisch. Ines Geipel hält fest: „Gerade für die Kriegskindgeneration wurde das große Glück von 1989 zu einer Geschichte ohne Abschied. Anders als der Generation im Westen war es im Osten nicht möglich, sich auf die Siegerseite der Geschichte hinüberzuerzählen, da diese Generation schlicht zu viel Geschichte in den Knochen hatte.“
Über die Erfahrungen mit den wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen hinweg, für die die Treuhand als fest gefügte Metapher stehen mag, ergab sich „eine neuartige Form der Propaganda in der deutschen Politik“. Ines Geipel zitiert in „Fabelland“ mit diesem Satz Johannes Hillje (nach einem Beitrag in den Blättern für deutsche und internationale Politik vom Oktober 2017): „Es gehe darum, eine kollektive Identität bzw. Parallelgesellschaft zu kreieren und den öffentlichen Diskurs gezielt zu polarisieren.“
Dieser Diskurs hat sich in den letzten acht Jahren aus unterschiedlichen Gründen verschärft. Das hatte nicht nur mit dem hoffentlich nicht unaufhaltsamen Aufstieg einer inzwischen vom Verfassungsschutz bundesweit – ungeachtet der juristisch bedingten vorläufigen Zurückstellung des Ergebnisses – als „rechtsextremistisch“ diagnostizierten Partei zu tun, sondern auch der Art und Weise, wie man eher übereinander, seltener miteinander sprach.
Unterschiedliche Meinungen, zur Händelung der Pandemie, zum Krieg Russlands gegen die Ukraine waren nicht mehr nur unterschiedliche Meinungen. Sie wurden zu quasi-religiösen Glaubensformeln. Ines Geipel fragt: „Was bedeutet der Versuch, wenn sich der Osten über Erlösungsformeln derart verfehlt und sich zunehmend in einem abwegigen Selbstbild mit Destruktionswünschen gegenüber dem Westen und prekärer Russlandliebe einrichtet?“ Ein Leuchtturm dieses Diskurses war der Streik der Kalikumpel 1993 in Bischofferode gegen die Schließung des dortigen Kaliwerks: „In diesem Radikalumbruch wurde der kleine Ort Bischofferode im katholischen Thüringer Eichsfeld zum Mythos, zum Sinnbild für den rüden Ausverkauf des Ostens, aber auch einer besonders zähen Protestkultur.“
Vielleicht erinnern sich im Westen nur noch wenige an dieses Ereignis, im Osten ist diese Erinnerung nach wie vor präsent, aber der Diskurs hat sich inzwischen verselbstständigt und radikalisiert. Neben der „Treuhand“ ist auch „Bischofferode“ zu einer der Metaphern dieser Stimmung geworden, die sich mit der Zeit zu einer beschönigenden Sicht der DDR-Vergangenheit verfestigte. „Je weiter der Befragungszeitpunkt vom eigentlichen Ereignis entfernt sei, desto diktaturfreundlicher falle die Erinnerung aus. Dies, so halten die Forscher fest, sei erklärungsbedürftig, jedoch nicht allein den Gesetzen der Erinnerung geschuldet. Der Einfluss medialer Diskurse über die Ostdeutschen sei dabei nicht zu unterschätzen.“ In der Psychologie würde man vielleicht von Priming sprechen, mit beängstigenden Ergebnissen: „Zur AfD-Erfolgsgeschichte gehört auch der ausgeraubte öffentliche Raum zum Ende der DDR. Eine zurechtgestutzte Bürgerlichkeit, eine entkernte Kirche, eine ausgenommene Gesellschaft, eine weithin geflohene oder ins Aus gesetzte Intelligenz. Ein planes Feld, das neu überplant werden konnte, nicht nur symbolisch gesehen.“
Doch wie kann man den Osten erzählen? Kann man ihn überhaupt erzählen ohne auch den Westen, ohne auch internationale Verflechtungen zu erzählen? „Polarisierung“ ist eine Variante, aber vielleicht sollte man an Stelle von „Polarisierung“ von einer fast schon manichäistischen Binärisierung sprechen, hier die Guten, da die Bösen. Diese Frage stellt sich für manche Bücher und Aufsätze, in denen eine „Übernahme“ des Ostens durch den Westen beklagt wird (Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme, München, C.H. Beck, 2019) oder die Schicksale der ostdeutschen Bevölkerung mit denen von Migranten verglichen werden (Naika Foroutan, Jana Hensel, Die Gesellschaft der Anderen, Berlin, Aufbau Verlag, 2020). Auch wenn das jeweilige Buch eine differenzierte Botschaft enthielt, setzten die Verlage auf skandalisierende Titel, so beispielsweise bei Detlef Pollacks Buch „Das unzufriedene Volk“ (Bielefeld, transcript, 2020). Hohe Auflagen verzeichnen schließlich Bücher, in denen der Osten in eine Art Märchenland verwandelt wird, an das man sich doch so gerne erinnern möchte, wenn man nur vom Westen in Ruhe gelassen würde (prominent: Dirk Oschmann, Der Osten – Eine westdeutsche Erfindung, Berlin, Ullstein, 2023, oder Katja Hoyer, Diesseits der Mauer, Hamburg, Hoffmann & Campe, 2023). Bei manchen Büchern kommt es weniger auf tiefergehende Recherche an als auf die Gefühle, die sie mit mitunter scheinbar plausibel klingenden Analogien bedienen. Katja Hoyer ist – so Ines Geipel – beispielsweise „ohne jede Archiv-Recherche“ ausgekommen. Dirk Oschmann verglich den Blick des Westens auf den Osten mit dem von Edward Said entwickelten Begriff des „Orientalismus“, eine schöne Analogie, aber eben unpräzise wie das bei allen Analogien so ist.
Tobias Adler-Bartels hat in der Märzausgabe 2025 des Merkur die vorherrschenden Frames rund um den Osten in einem Essay mit dem vieldeutigen Titel „Nach der Ko(h)lonisation“ zugespitzt. Die Annahme, der Westen habe den Osten kolonisiert, sei „durchaus anschlussfähig an das Kolonialismus-Verständnis des verordneten Marxismus-Leninismus der DDR“. Das Ergebnis sei ein klassischer Täter-Opfer-Diskurs: „Die Erzählungen vom westdeutschen Kolonialismus und der Kolonisierung der DDR konstruieren so eine klare Unterscheidung von Tätern (Westdeutsche, Treuhand) und Opfern (das ominöse Kollektiv der Ostdeutschen) und sind daher bis in die Gegenwart ein beliebtes Sujet sowohl von westdeutschen Altlinken als auch von DDR-Revisionisten – etwa im Umfeld des Vereins ‚Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden‘.“
Etwas Messianisches lag in der Luft
Ach wäre es doch so einfach. Von all den pauschalisierenden, die hohe Komplexität von Ost-West-Entwicklungen vereinfachenden Ost-West- oder West-Ost-Erzählungen heben sich die Bücher von Ines Geipel deutlich ab. Das gilt nicht zuletzt für ihre (nicht nur) literaturwissenschaftlichen Studien über die „Dritte Literatur des Ostens“, über all diejenigen, die in der DDR Gedichte, Romane, Essays schrieben, dafür aber vom SED-Staat drangsaliert, eingesperrt, in den Westen abgeschoben oder gar in den Tod getrieben wurden. Gemeinsam mit Joachim Walther gab sie die in zehn Bänden erschienene „Verschwiegene Bibliothek“ mit unveröffentlichten Texten von Autorinnen und Autoren aus der DDR heraus. Der dokumentarische Band „Gesperrte Ablage“ erschien 2024 im Düsseldorfer Lilienfeldverlag in einer erweiterten Neuauflage. In diesen Büchern gibt Ines Geipel Literatinnen und Literaten eine Stimme, die diese weder in der DDR noch in der Bundesrepublik hatten, weder vor noch nach 1989.
„Umkämpfte Zone“, oder „Schöner neuer Himmel“ möchte ich als schonungslose Analysen charakterisieren, schonungslos gegenüber der Materie und schonungslos gegenüber sich selbst. Vor allem an diese beiden Bände knüpft „Fabelland“ an. Der Titel erinnert bewusst an Christian Krachts 1995 erschienenen Roman „Faserland“, den Ines Geipel „gleich nach Erscheinen gelesen hatte“: „Ich las ihn als Pendant zu unseren Wundheiten und hatte dabei Showbiz-Größen wie Heidi Klum, Thomas Gottschalk, Boris Becker oder Rudolf Scharping vor Augen, die in den geräumigen Coupés des Kracht-Textes rumlümmelten, winkend durch die Landschaft der jungen Einheitsjahre schipperten und dabei einen stillen Passagier aushalten mussten, diesen jungen Mann ohne Namen, der die ganze Szenerie unablässig im Blick hatte. Die Post-Politik, der Eskapismus, die nette Marken-Welt, das inwendig Unerlöste.“
Sahen manche im Osten so den Westen? Oder umgekehrt? Es lag bei den Demonstrationen für D-Mark und Deutsche Einheit im Dezember 1989 durchaus etwas Messianisches in der Luft, gleichzeitig aber auch etwas, das Unbehagen auslöste. Insofern ist das Wortspiel von Tobias Adler-Bartels mit der „Ko(h)lonisation“ durchaus berechtigt, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl als fleischgewordenes Ideal-Ich der Deutschen, seine „blühenden Landschaften“ als Wunsch-Kulisse. Im Osten schien man zu deklamieren: „Wir wollen werden wie ihr“, Im Westen: „Werdet wie wir“. Man dürfte vielleicht von einer Art Kaspar-Hauser-Syndrom sprechen, wie es Peter Handke in seinem „Kaspar“ (1967) zeigte, das Drama eines Menschen, der von sich sagt: „Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein anderer gewesen ist.“ Bei Peter Handke sagt Kaspar zum Schluss: „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen.“ Nur in welche? „Ich bin in die Wirklichkeit übergeführt. – Hört ihr’s? Pst.“ Alles auf der Bühne wird still und schwarz.
In ihren Kommentaren zu den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen vom 1. September 2024 formuliert Ines Geipel in der Süddeutschen Zeitung die kasparische „Wirklichkeit“ nicht ohne Bitterkeit „Was war denn das?“: „Gewonnen haben am 1. September vor allem die Schlechtredner, Neinsager, Antieuropäer, Putinisten. Die mit den dicken Abwehr-Drehbüchern, der Lust am Ressentiment. Gewonnen haben diejenigen, die die Legende vom Opfer-Osten über Jahre promotet haben, um sie gegen die Erfolgsgeschichte der Einheit und der Demokratie in Anschlag zu bringen. Die mit ihren Appellen an den Heimatkörper, Friedenskörper, Volkskörper um die Ecke kamen, um die Wähler in ein Kontinuum zu manövrieren, das Nationalsozialismus, DDR und die Zeit nach 1989 in sich verklebt. Ein historischer Block, ohne Referenzsystem, ohne Geländer, ohne Gesellschaftsbegriff, der mit aller Wucht auf den eigentlichen Kipppunkt zielt: Systembruch.“
Einige Tage später sagte Ines Geipel in einem Interview mit der taz: „Im Osten haben sich augenscheinlich Nationalsozialismus, DDR und die Zeit nach 1989 zum Zeitkontinuum verschweißt. Und in dieser ewigen Ewigkeit soll es keine Hoffnung geben. Es geht nicht um Wut, es geht um Hass, um echte Destruktion.“ So entstünden – den Begriff wählt Ines Geipel durchaus im Gedenken an Zygmunt Baumanns Buch „Retrotopia“ (deutsche Ausgabe 2017 bei Suhrkamp) – „ostdeutsche Lagerfeuer“, um die man sich „gegen das Andere, das Außen“ schare. Da hülfen auch die wirtschaftlichen Erfolge in den ostdeutschen Ländern nicht, es sei geradezu paradox: „Je besser die Zahlen, umso stärker das Antidemokratische“. So ließe sich politische Arbeit fast schon als Sisyphusarbeit bezeichnen, nur mit dem Unterschied, dass dieser Sisyphus anders als der von Albert Camus kaum ein glücklicher Mensch sein dürfte.
Wird alles still und blau?
Aufstand der Sprache
„Fabelland“ klingt im Ton und im Titel versöhnlicher, auch wenn es das letztlich nicht ist. Es ist nicht nur eine Spielart von „Faserland“, vielleicht auch eine des „Wunderlandes“, in das Alice in der Fantasie des Lewis Carroll durch den Kaninchenbau gelangt, ein Land hinter den Spiegeln. Ines Geipels Stil ist alles andere als eingängig, aber er reißt mit! Polysyndetische Reihen, ganze Passagen, die sich auch als scheinbar unverbundene Spiegelstrichlisten drucken ließen, ein Feuerwerk der Assoziationen, Anakoluthe und Parallelismen, Sätze ohne Verb, bei denen man sich fragt, ob sie mit einem Frage- oder einem Ausrufezeichen hätten enden sollen oder beidem, zuspitzende Schlussfolgerungen, die in einfachen Aussagesätzen daherkommen, aber wenige Sätze später schon wieder in Frage gestellt werden – diesen Stil hat Ines Geipel in ihren Büchern schon immer gepflegt und ständig weiterentwickelt. In „Fabelland“ erreicht er einen (vielleicht vorläufigen) Höhepunkt.
„Fabelland“ liest sich mitunter wie ein rasanter Reisebericht durch Raum und Zeit. Die Reise beginnt mit einem einfach klingenden Satz: „Am Anfang war das Glück.“ Wenige Absätze weiter stellt Ines Geipel jedoch klar: „Die Sache mit dem Nullpunkt. Es gab ihn nie. Aber es gibt echte Anfänge.“ Es stellte sich ein „Interregnumsgefühl“ ein, ein „Nichtmehr und Nochnicht“, dem nicht beizukommen war. Es blieben „Wörterbojen“. So erklärt sich der Stil. Alle Kapitel und Unterkapitel können als kurze Prosastücke gelesen werden. Sie motivieren jedes für sich, das Buch immer wieder in die Hand zu nehmen und das ein oder andere Kapitel wieder zu lesen, neu einzuordnen, um sich einer angemessenen, vielleicht auch aktualisierenden Sicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu nähern, letztlich zu begreifen, dass die allgemeine Geschichte auch immer eine persönliche Geschichte ist, ebenso wie sie eben Teil einer umfassenden Geschichte von Ost und West ist.
Die Reise ins und im „Fabelland“ bietet die Aussicht der Annäherung an etwas Unerreichbares. Ines Geipel spielt mit Begriffen wie „Erinnerungstransfer“ – so der Titel eines Kapitels über „Herbst 1989 und die Geschichte der Träume“ –, „Gedächtnistheater“ – ein Begriff, den Y. Michal Bodemann sel.A. in die Debatte um die Erinnerung an die Shoah einführte und Max Czollek nicht müde wird zu popularisieren –, „Verleugnungskarussell“ – bezogen unter anderem auf die Stasi. Sie sieht eine Art „Entlastungswelt der Diktatur im Osten, die sich wie eine Glocke über den inneren Schrecken legte und ihn luftdicht verpackte. Außen musste alles neu sein. Außen wurde die Welt auf Heil getrimmt, innen brodelte es.“ Das Symbol schlechthin war Buchenwald, eine Mystifizierung des kommunistischen Widerstands gegen die Nazis, ein Ort, der auch in „Umkämpfte Zone“ eine zentrale Rolle spielt: „Das Endlager der Nazis als eingefrorener Tatort“.
Wiederholt sich Geschichte? Wiederholt sich Befreiung? In Wirklichkeit wurde der „Mauerfall als ein glücklicher Verblendungsmoment“ erlebt. Es folgte: „Der Streit um die Deckfabeln.“ Eine Variante: „Treuhandbashing“. Eine andere: „Heimatcodes“. Eine Art mystifiziertes Als-Ob, zum Beispiel „Dresden. Eine gleichsam mythische Stadt, die in ihrer eigenen imaginären Vergangenheit lebte, die kein Außen brauchte, eine ausgewiesene rechte Szene hatte, zu DDR-Zeiten das Tal der Ahnungslosen war, den anglo-amerikanischen Angriff überstanden hatte und nicht zuletzt die barocke Bühne für die erhofften Bilder in die Welt bieten konnte. Der Schauplatz für die Konservative Revolution war perfekt. Dresden der Kindheitsort.“
Nur haben die Menschen im Westen überhaupt etwas davon gemerkt, geschweige denn verstanden? „Keine Frage, die Initiative und das Drama lagen im Osten. Das Ursächliche, Existenzielle, die Notwendigkeit, sich mit jeder Faser neu aufzustellen. Aber in Gaggenau oder Castrop-Rauxel? Fiel da keine Mauer?“ Annette Simon bezeichnete in einem Essay „Heimat als Sehnsuchtsort und Kampfbegriff“ und sprach von einer „Familiarisierung der DDR-Kultur“, „einer Trostgemeinschaft gegen den übermächtigen Staat“: „Und diese Art des Umgangs mit dem Staat wirkt bis heute nach.“ Das Gedicht von Thomas Brasch, dessen Vers Annette Simon als Titel ihres Essays nahm, erhält nicht nur Verzweiflung, sondern je nach Gestimmtheit der Lesenden auch einen zwar resignierenden, aber dennoch romantisierenden Ton, der sich auch darin zeige, dass „der ehemalige DDR-Bürger von Anfang an nur als Opfer gesehen (wurde) und nie als Subjekt“: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, November 2024)
Letztlich geht es immer um die Frage der Erinnerung an das scheinbar Vergangene, das sich nicht kollektivieren lässt, auch wenn dies immer wieder angemahnt wird. Mehrfach verwendet Ines Geipel den Begriff der „Wundheit“, beispielsweise im Hinblick auf das tragische Schicksal von Jutta Petzold, die nicht nur eine einzelne in der DDR verfemte Dichterin ist, die wie nur wenige andere die DDR-Wirklichkeiten (Plural!) auf den Punkt zu bringen versteht: „Wie es Jutta Petzold gelingt, mich mit drei Sätzen in die Physis des Ostens zu holen, in das Wunde, Akute, Bloßgestellte. Sie macht das mit ihren Wörtern. Wörter wie im Steckverband. Die herumgeworfen werden, die was auszuhalten haben. (…) Jutta Petzold und der Aufstand der Sinne.“
Eben dies ließe sich auch von Ines Geipels Büchern schreiben: „Aufstand der Sinne“. Ines Geipel gelang im Sommer 1989 die Flucht, Inge Müller, die auch in „Fabelland“ mehrfach erwähnt wird, im Rucksack, über die ungarisch-österreichische Grenze. War nun alles klar, der zukünftige Weg gebahnt? Nein, im Gegenteil: „Früher bin ich als Sprinterin sehr viele, unerhört gerade Gerade gelaufen. Immer wieder, jahrelang, in allen möglichen Ecken der Welt. Von A nach B. Ich kam immer an. Nach einer Flucht aber gibt es keine Geraden mehr, nur noch Ellipsen, Abgeknicktes, Krümmungen, Hyperbeln, Achsenverschiebungen, Außenwinkel, parallele Sehnen, immerzu Abgeleitetes.“
Zu diesen Gefühlen passt der Titel, den Ines Geipel der von ihr Inge Müller gewidmeten Biographie gab: „Dann fiel auf einmal der Himmel um“. (Berlin, Henschel Verlag, 2002). Ein weiterer Gewährsmann ist der Prager Philosoph Velém Flusser, der die „Beheimateten und die Heimatlosen, die Gebliebenen und die Emigranten“ als „Paar“ betrachtet und schrieb, „dass die ‚geheimen Codes der Heimaten‘ aus ‚nicht bewussten Regeln gesponnen‘“ sind. Was ist das überhaupt? Heimat? Die Geflüchteten leben – eine Schlussfolgerung von Ines Geipel aus dem Schicksal der Emigration – in einem „Andererseits, etwas zwischen lost place und lost in place.“
Reisen ins Nie-Erreichbare
Ines Geipel kam nach Darmstadt, begegnet dem Leiter des Instituts für Philosophie Gernot Böhme. Sie legte ihm die Gedichte von Inge Müller „auf den Tisch. Er las es und entdeckte das Nackte für sich. Den nackten Reim, den nackten Ton, das nackte Leben.“ Jutta Petzold gelang nur die Flucht in sich selbst. Sie verzweifelte, lebt lange Jahre in einer Klinik in Berlin-Buch. Ihre Texte, die sie unter dem Pseudonym Ruth Cordouan schrieb, wurden nie veröffentlicht, immerhin gibt es in „Gesperrte Ablage“ Texte von ihr. Einige durfte ich in meinem Essay „Todeskälte des Blicks“ zitieren. In einem persönlichen Gespräch sprachen Ines Geipel und ich über die Schicksale von Inge Müller, Jutta Petzold und manch anderen mit einem Blick auf das Leben von Ingeborg Bachmann. Ines Geipel sprach von der „Versehrtheit“, die diese Autorinnen verband.
Doch wer interessiert sich? So wenig wie es einen Lehrstuhl der Zeitgeschichte in Deutschland gibt, der sich ausdrücklich mit der Geschichte der DDR befasst, gibt es einen Lehrstuhl der Literaturgeschichte, der sich der verfemten, verbotenen „Dritten Literatur“ der DDR in Deutschland widmet. In der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur lagern nach wie vor über 70.000 Seiten von etwa 100 Autorinnen und Autoren. Aber wer interessiert sich ernsthaft dafür? Man könnte sogar sarkastisch formulieren, dass es zur Shoah immerhin in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen eine Debatte über einen nun aber wirklich endgültigen „Schlussstrich“ gibt, der gerade wegen dieser Debatte auch gut begründet abgelehnt wird, über die Gewalt- und Diktaturgeschichte der DDR gibt es nicht einmal das. Ines Geipel nennt die so tragisch in DDR-Haft gestorbene Edeltraud Eckert die „Sophie Scholl des Ostens“. Aber gibt es irgendwo in Deutschland ein Edeltraud-Eckert-Gymnasium? Auch das Nicht-Erwähnen ist ein Schlussstrich.
Die Reisen durchs „Fabelland“ führen nach New York City, das Ines Geipel als eine Art „Filmkulisse“ erlebt, in der sie jederzeit auf die Personen aus Woody Allens „Hannah und ihre Schwestern“ treffen könnte. Sie führen nach China, das Ergebnis ist ein Kapitel, das satirische Qualitäten aufweist: „Eine Gesellschaft wie unter Narkose und nach der Devise, sich möglichst fernzuhalten von dem, was der Macht im Land wichtig ist.“ Es ging bei der China-Reise um Zwangsdoping, ein DDR-Thema, das Ines Geipel mehrfach bearbeitet und unter anderem in „Schöner Neuer Himmel“ beschrieben hat. Das China-Kapitel lässt das Politikmodell eines autoritären Staates erkennen: „Wie die Politikwissenschaftlerin Janka Oertel betont, speist sich Xis Ketten-Modell aus einem Doppelkreislauf: Einerseits will China unabhängiger von der Welt werden, die Welt soll aber andererseits abhängiger von China werden.“ Es ließe sich fast vermuten, dass China gar keine Hard Power braucht, weil es mit seiner Soft Power so gut vorankommt. Wie das funktioniert, beschrieb der georgische Politikwissenschaftler Tsotne Tchanturia in einem Überblick über die aktuellen Entwicklungen in Georgien. Die Chinesen vermögen es, die georgische und andere Regierungen mit der Botschaft zu gewinnen, dass sie doch nur wirtschaftliche Investitionen unterstützten, während die Europäische Union auch noch die Zustimmung zu ihren zahlreichen Gesetzen verlange, nicht zuletzt zu Bürger- und Menschenrechten.
Ein wichtiger Gewährsmann ist für Ines Geipel Erich Loest. Im Jahr 2023 erhielt sie den Erich-Loest-Preis. Ihre Dankesrede nannte sie, Erich Loest zitierend, „Keine Kerben im Kolben“. Mit Erich Loest verbindet sie die Erfordernis, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen: „Ich zögere, warte auf die Wörter, bis es die richtigen sind. Es sind nie die richtigen.“ Es folgen Absätze über die Begegnungen mit Werner Schulz, den Euro-Maidan 2014. Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass in diesen Kontexten David Lynch und sein Film „Lost Highway“ erwähnt werden: „Der Schrecken, die psychogene Amnesie, das Loch im Verstand.“ Wer weiß schon, warum auf einmal jemand anderes in einer Gefängniszelle sitzt? Wer weiß schon, in welchem Parallel-Universum die Filme von David Lynch spielen? Vielleicht ist das Surreale das wahrhaft Reale und wir sollten die Geschichte der DDR mit den Augen eines David Lynch betrachten? Die Stärke von „Fabelland“ liegt gerade darin, dass sie dies tut. Im Grunde ist die passende Erzählform dieser Reise durch Raum und Zeit der Essay, eben ein Versuch, sich an das nie Erreichbare anzunähern: „Warum es mir so schwerfällt, mich mit Worten in diesen vagen Zustand nach der Flucht auszutarieren. Als sei ich eine ungenaue Größe, eine Wackelkandidatin, eine Art Übergangscontainer. Was war noch Altland, was schon Neuland?“ Lost Country? Oder etwa eine etwas andere Kombination von Alt- und Neuland?
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2025, Internetzugriffe zuletzt am 18. Mai 2025. Titelbild: Mutige Schatten © Nicole Günther. Alle Rechte bei der Künstlerin.)