Liebe Freund:innen des Demokratischen Salons,

die Ausgabe für Oktober 2023 liegt Ihnen vor. Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf wehrlose Menschen in Israel, die nur deshalb angegriffen, gefoltert, ermordet oder verschleppt wurden, weil sie Jüdinnen und Juden sind, dominiert die politischen Debatten und die Berichterstattung. Er macht  sprachlos, aber dennoch müssen wir versuchen, darüber zu sprechen. In meinem Essay „Das Pogrom“ habe ich versucht, die ersten 14 Tage der Berichterstattung in Deutschland bis zum 21. Oktober zu beschreiben. Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. Kann es überhaupt gelingen? Aber es ist auf jeden Fall falsch zu schweigen.

Israel hat das Recht und die Pflicht, seine Bürger:innen zu schützen und zu verteidigen. Israel braucht unsere Unterstützung, nicht zuletzt aktive humanitäre Nothilfe. „Humanitär“ – dieses Wort wird zurzeit arg strapaziert, aber in der Regel nur für die in Gaza eingeschlossene Zivilbevölkerung verwendet. Auch deren Leid ist das Werk der Hamas, die sie als Schutzschilde benutzt und in der Vergangenheit nie daran interessiert war, in Gaza einen funktionierenden demokratischen Staat aufzubauen.

Ich nenne hier eine Möglichkeit, die Menschen in Israel humanitär zu unterstützen. Die Jüdische Gemeinde Wiesbaden sammelt Geld für medizinische und psychotherapeutische Unterstützung (Stichwort: Hilfe für Israel: Jüdische Gemeinde Wiesbaden, IBAN: DE67 5105 0015 0277 0075 89, für eine Spendenquittung nennen Sie bitte im Betreff Ihre Adresse.) Es gibt natürlich viele weitere Möglichkeiten zu spenden oder anderweitig zu unterstützen. Fragen Sie bitte bei der Jüdischen Gemeinde in Ihrer Nähe nach.

Auch in Deutschland werden Jüdinnen und Juden bedroht. Viele haben Angst, sich zu äußern, das Haus zu verlassen, die Kinder in die Schule zu schicken. Die Jüdische Allgemeine dokumentiert in ihrer Ausgabe vom 26. Oktober die Stimmen deutscher Jüdinnen und Juden. Auch hier ist unser aller Solidarität gefragt. Widersprechen Sie, wenn sich jemand antisemitisch äußert, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Schule oder wo auch immer. Und melden Sie bitte antisemitische und anti-israelische Äußerungen und Gewalttaten bei den RIAS-Meldestellen oder bei der Polizei, auch wenn Sie „nur“ die Zeug:innen sind. Die Adressen der RIAS-Meldestellen finden Sie hier.

In der Oktoberausgabe 2023 finden Sie acht neue Texte:

Das Editorial befasst sich mit den Wahlen in der Slowakei, in Polen, in Bayern und Hessen sowie der Neugründung einer weiteren Partei in Deutschland.

Darüber hinaus darf ich Sie auf Empfehlungen zum Besuch attraktiver Veranstaltungen und Ausstellungen sowie weitere Leseempfehlungen hinweisen, darunter auch Hinweise zu Büchern, die zu lesen sich lohnt unter anderem „Stromlinienunförmig“ von Anastasia Tikhomirova, „Mama Odessa“ von Maxim Biller und „Wer durch Feuer“ von Matti Friedman.

Besonders empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit eine Ausschreibung der Stiftung EVZ für Sportvereine, Umweltschutzorganisationen, Gewerkschaften, Genossenschaften, Interessensvereinigungen, Kultureinrichtungen oder Universitäten, die strukturell gegen Antisemitismus vorgehen wollen. In den Empfehlungen finden Sie auch weitere Wettbewerbe, einen Jugendwettbewerb zur Transformationszeit in Folge der deutschen Einheit und den Schreibwettbewerb „Klimazukünfte“.

Zur Illustration dieses Newsletters habe ich mich für Fotos von Hans Peter Schaefer entschieden, die an Zivilisationen erinnern, die uns heute noch berühren und prägen, aber gerade mit ihren Ruinen vielleicht auch mahnen, wie schwer es ist, die in diesen Tagen so oft beschworene Humanität zu leben und zu bewahren.

Last not least: Ich würde mich freuen, wenn wir uns bei der Veranstaltung am 2. November 2023 zu den Ergebnissen der Wahlen in Polen sehen, die der Demokratische Salon gemeinsam mit dem Universitätsclub Bonn vorbereitet.

Das Editorial:

Zwischen dem 30. September und dem 15. Oktober fanden vier Wahlen statt, in der Slowakei, in Polen, in Bayern und in Hessen. Am 23. Oktober 2023 wurde die Gründung einer neuen Partei angekündigt, die das deutsche Parteiengefüge – je nach Einstellung – beleben oder auch verwirren könnte.

aus Aphrodisias

In der Slowakei verlor die bisherige Regierungspartei OLaNo fast 22 Prozent. Robert Fico holte mit Smer etwa 23 Prozent der Stimmen und konnte eine Regierung bilden, an der sich die HLAS unter Peter Pellegrini, früher mit der Partei Ficos eine Partei, und die in Teilen rechtsextremistische SNS beteiligen. Vorbild Ficos ist das ungarische Modell der „illiberalen Demokratie“. Fico könnte sich in Europa wie in der Vergangenheit pragmatisch verhalten sofern man seine Kreise nicht stört. Sorgen bereiten die für Umwelt- und Kulturministerium vorgesehenen Minister:innen, die die Klimakrise leugnen und eine Art Cancel-Culture von rechts befürworten.

In Polen wird die PiS den Weg in die Opposition gehen müssen, auch wenn sie alles versuchen wird, um eine Regierungsbildung unter Donald Tusk zu verzögern. Timothy Garton Ash formulierte seine Freude, „dass Parteien, wenn sie gut genug sind, auch eine unfaire Wahl gewinnen können. Denn dies war keine faire Wahl.“ Donald Tusk und seine liberale Bürgerkoalition werden gemeinsam mit der Linken und dem liberal-konservativen Dritten Weg eine neue, europafreundliche Regierung bilden, die – so ist zu hoffen – auch die in Europa verbriefte Liberalität in Kultur und Justiz wiederherstellen wird. Zu hoffen ist auf eine Liberalisierung des rigiden Abtreibungsrechts. Diese Reformen werden allerdings etwas Zeit brauchen, weil niemand weiß, ob Andrzej Duda sie gegebenenfalls durch sein Veto zu verhindern oder zu verzögern weiß und wie sich der Dritte Weg zur Frage der Abtreibung verhalten wird. Die nächsten Wahlen zum Amt des Staatspräsidenten finden im Jahr 2025 statt. Weitere Informationen mit Zahlen und einer Bewertung zur Wahl in Polen bietet das Deutsche Polen-Institut.

In Bayern und Hessen konnten sich die Regierungen behaupten. Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) profitierte davon, dass er sich deutlich moderater als seine Partei auf Bundesebene verhielt. Markus Söder (CSU) profitierte von seinem Amtsbonus nicht, weil es seinem Koalitionspartner, den Freien Wählern mit ihrem Spitzenmann Hubert Aiwanger, gelungen war, die Flugblattaffäre zu seinem Vorteil auszunutzen. Die Grünen verloren in beiden Ländern, können sich aber – wie im Trend der Umfragen auf Bundesebene – wohl auf ihre Stammwähler:innenschaft verlassen. Die SPD erlebte in beiden Ländern ein Desaster. Die FDP kam in Hessen mit einem blauen Auge davon. Sie hat in der Zeit, in der sie in der Bundesregierung wirkt (ich möchte hier nicht von mitwirken sprechen), in keiner einzigen Wahl die Fünf-Prozent-Hürde locker überschritten, sie verschwindet aus einem Landtag nach dem anderen, so jetzt auch in Bayern. Ihre Führung scheint jedoch immer noch zu glauben, dass ihr die Rolle der Opposition in der Regierung irgendwann doch einmal nützen werde.

Die Ergebnisse der AfD erschrecken, waren aber auch zu erwarten. Im Westen wird man nicht mehr auf den Osten zeigen dürfen, wenn die AfD Wahlerfolge feiert. Die Freien Wähler sind eine demokratische Partei, die dank der demagogischen Fähigkeiten ihres Frontmanns radikale Rhetorik mit pragmatischer Politik verbindet, eigentlich die klassische CSU-Strategie, um eine Partei rechts von ihr zu verhindern. Die Stimmen für die Freien Wähler zeigen aber auch, wie wichtig örtliche Entwicklungen für viele Wähler:innen sind. Dort haben die Freien Wähler ihre Basis. Für eine kohärente Politik spricht dies nicht, aber für den Bedarf für mehr Partizipation.

Und dann kam die lange erwartete Nachricht, am 23. Oktober wurde sie in der Bundespressekonferenz Fakt. Sahra Wagenknecht hat einen Verein mit ihrem Namen („Bündnis Sahra Wagenknecht“) gegründet, die Parteigründung soll folgen. Die Linke wird gespalten und die Karten werden bei der Europawahl, möglicherweise auch bei den anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen neu gemischt. Andererseits verzeichnete die Linke in Berlin an einem Tag 25 Neueintritte. Ob das ein zarter Hinweis auf Re-Konsolidisierung sein könnte, wird sich zeigen. Auf jeden Fall hat die von Sahra Wagenknecht vorgestellte Partei das Potenzial, das deutsche Parteienspektrum durchzuschütteln. Ihr Wähler:innenreservoir geht quer durch alle anderen Parteien. Es gibt in ihren bisherigen Ankündigungen neoliberale, migrationsfeindliche, europakritische, isolationistische und soziale Töne, von denen manche an den Nationalbolschewisten Ernst Niekisch erinnern mögen. Wir können davon ausgehen, dass Sahra Wagenknecht dessen Positionen im Detail kennt. Sie bedient sich bei allen Populismen dieser Welt bis hin zu einer Personalisierung, die durchaus an den Personenkult eines Sebastian Kurz erinnert. Neben Hubert Aiwanger dürfte sie die Politiker:in mit den besten demagogischen Fähigkeiten sein. Thomas Biebricher, Autor des Buches „Mitte / Rechts“ sieht bei Wagenknecht einen „Personenkult“ wie wir ihn von „Berlusconi, Farage und Trump“ kennen“. Welche Perspektiven die neue Partei eröffnen wird, bleibt jedoch unklar. Robert Pausch erinnerte in der ZEIT an Erhard Eppler, der einmal zu Oskar Lafontaine gesagt habe, er identifiziere sich nur mit den Ängsten, nicht aber mit den Hoffnungen der Bürger:innen.

Aphrodisias, Buleutherion, Rathaus

Erfolg haben in der Regel Parteien, die von sich behaupten, sie verträten die Mehrheit. Meistens handelte es sich um eine Mehrheit gegen etwas, selten um eine Mehrheit für etwas. Sie berufen sich auf Sorgen und Ängste und ebeso gerne auf Umfrageergebnisse, nach denen etwa 70 Prozent der Bürger:innen mit der Regierungspolitik unzufrieden wären. Nichts falscher als das, denn die besagten 70 Prozent würden bei weiterer Nachfrage unterschiedliche und oft sogar einander ausschließende Begründungen nennen. Die Grüne Jugend oder Fridays for Future sind aus völlig anderen Gründen mit der Regierung der Ampel unzufrieden als oder die demokratischen Oppositionsparteien CDU, CSU und Linke oder die AfD.

Der berüchtigte Satz Hubert Aiwangers, man wolle sich die Demokratie zurückholen, belegt meine These. Aiwanger meinte natürlich, man solle sich die Mehrheit zurückholen, aber bezogen auf die Demokratie ist der Satz einfach prägnanter. AfD und FPÖ verfahren ähnlich, Robert Fico gelang dies in der Slowakei, in Italien Giorgia Meloni. Vox in Spanien gelang es nicht, der PiS in Polen nicht mehr. In Deutschland und in Österreich ist vielen gar nicht klar, was AfD und FPÖ fordern. In Spanien und in Polen wurde hingegen deutlich, wie frauenfeindlich Vox, PiS und die rechtsextreme Confederacja in Polen sind. Aber Polen zeigt: Frauen können und werden Wahlen entscheiden! Es ist durchaus realistisch, dass die Stimmen der Frauen in den USA Joe Biden eine weitere Amtszeit sichern werden.

Europa ist zurzeit eher kein Gewinnerthema bei nationalen Wahlen. Bei der kommenden Europawahl könnten die Kräfte an Stimmen gewinnen, die sich eher weniger für Klima- oder Artenschutz engagieren und weniger Europa, weniger Brüssel fordern. Auch außenpolitisch kann es schwierig werden. Die Friedensinitiative Sahra Wagenknechts ist nichts anderes ist als eine Inkaufnahme der Kapitulation der Ukraine und rehabilitiert Putin. Die AfD sagt offen, dass sie die Zukunft Deutschlands in Putins eurasischem Projekt sieht. Correctiv hat dies ausführlich belegt.

Die Orbáns und Ficos konnten bisher eingehegt werden, Meloni war für Europa und die NATO eine Bank. Umso wichtiger ist es, dass gerade die demokratischen Parteien eine pro-europäische Erzählung entwickeln. Die EU erhielt den Friedensnobelpreis, Europa ist ein Friedensprojekt, gerade weil in heutigen Zeiten Frieden gegenüber Aggressoren auch mit Waffengewalt verteidigt werden muss, konkret mit aktiver Unterstützung der Ukraine und – im Nahen Osten – auch Israels.

Erfolgreich werden die demokratischen und europafreundlichen Parteien jedoch nur sein, wenn sie ihre pro-europäische Haltung mit einer aktiven und partizipativ angelegten Wirtschafts- und Sozialpolitik verbinden. Das wäre die zweite große Herausforderung, die nur bewältigt werden kann, wenn man die Pseudo-Versprechen der Rechten als hohle Phrasen entlarvt. Die italienische Regierungspraxis ist ungeachtet des europafreundlichen Kurses eindeutig neoliberal und reaktionär. Horst Kahrs benannte in seinem lesenswerten Essay „Kulturkampf mit Wagenknecht“, was fehlt (Oktoberausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“). Seine These: „Ein linker Gerechtigkeitsdiskurs fehlt dagegen weitgehend. Übersehen scheint, dass politische Kämpfe dann erfolgreich sind, wenn sie sich auf ein Identitätsmerkmal konzentrieren und angemessene Rechte einfordern – das machte die Arbeiterbewegung als Bewegung der wahren ‚Produzenten des Reichtums‘ nicht anders als heute die angeblich ‚skurrilen Minderheiten‘.“ So ist es heute, aber die Vergangenheit lehrt, „dass zum Erfolg der Arbeiterbewegungen immer ein Bündnis mit urbanen Schichten beigetragen hat.“ Sahra Wagenknecht stimmte jedoch bereits in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ in die Kulturkämpfe dieser Zeit ein. Die genannten „urbanen Schichten“ gelten als Hauptgegner!

Damit sind wir bei der dritten Herausforderung – und die ist vielleicht die größte. Die demokratischen Parteien müssen endlich damit aufhören, ihre demokratischen und liberalen Konkurrent:innen zu dämonisieren. Sie müssen sich darauf konzentrieren, diejenigen zu bekämpfen, die die liberale Demokratie abschaffen und an deren Stelle eine illiberale Demokratie mit Putins Gnaden einzurichten. Und sie müssen ihre Perspektiven für eine gerechtere, friedlichere und demokratische Welt in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen. Hoffnungen statt Ängste – das wäre dann ihr Motto. NR

Die neuen Texte im Demokratischen Salon:

  • Rubrik Osteuropa: Mit der freundlichen Genehmigung des Jüdischen Echos Westfalen (J.E.W.) veröffentlichen wir den fünften Teil des Tagebuchs von Mariupol für die Tage vom 27. März bis zum 1. April 2022, das Nataliia Sysova vor ihrer Flucht im Juli 2022 schrieb, wiederum mit den Bildern, die auch in J.E.W. zu sehen sind. Ein eindrucksvolles Dokument des Überlebenswillens in Zeiten des Terrors. Unter den Bildern ist auch ein Bild zu sehen, das Mariupol zeigt, wie es vor der Zerstörung durch die russischen Truppen aussah. Das Tagebuch lesen Sie hier.
  • Aphrodisias, Tetrapylon

    Rubriken Levantinische Aussichten, Shoah und Weltweite Entwicklungen: In seinem Essay „Das Pogrom – Der 7. Oktober und die Folgen“ dokumentiert Norbert Reichel deutsche Pressereaktionen der ersten 14 Tage. Der Essay beginnt mit einem Satz der Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen Sabine Brandes, der es gelingt, in wenigen Worten ihre Trauer um die jüdischen Opfer und ihre Empathie für die unschuldigen palästinensischen Opfer zu fassen. Das, was am 7. Oktober geschah, war ein Pogrom, wie es das seit 1945 nicht mehr gab. Es erinnert an 9/11 ebenso wie an vorangegangene Massaker, vom Olympia-Attentat 1972 bis zum Hebron-Massaker 1929, auch an den Yom-Kippur-Krieg 1973. Es ist ein Krieg der Erzählungen und ein Krieg der Bilder, die Strategie ist oft genug die Täter-Opfer-Umkehr. Die Hamas versteht es, das Leid der Zivilbevölkerung zu instrumentalisieren. Nicht nur in Israel, auch in Deutschland und anderen westlichen Staaten, werden Jüdinnen:Juden massiv bedroht. Erhebliche Kollateralschäden für die zukünftige Migrations- und Integrationspolitik zeichnen sich ab. In den ausgewerteten Zeitungen sowie im ARD-Presseclub gelingt eine angemessene Berichterstattung. Zu Wort kommen Meron Mendel, Tom Segev und viele andere. Es gibt Dokumentationen des terroristischen Überfalls, in denen die israelischen Opfer und ihre Familien zu Wort kommen (Say Their Names!). „Alles wird vom Iran abhängen“, sagt Richard C. Schneider. Natalie Amiri formuliert eine Vision, wie ein Frieden in der Region nach einem Sturz des Mullah-Regimes gelingen könnte. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.

  • Rubriken Liberale Demokratie und DDR: Inzwischen hat sich die Erzählung durchgesetzt, Helmut Kohl habe die deutsche Einheit gemacht. Diese Erzählung ignoriert jedoch die Leistungen der Demokratiebewegungen in der DDR der einzigen demokratischen DDR-Regierung, die nach der freien Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 ihre Arbeit aufnahm. Markus Meckel, damals Außenminister dieser Regierung und bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, thematisiert diese Geschichtsvergessenheit, die schon an Geschichtsfälschung grenze, in seinem Vortrag „Die verhandelte Einheit – Die unerzählte Geschichte der demokratischen DDR“. Die deutsche Einheit war eine „Glücksstunde“ der deutschen Geschichte, aber vom Beitrag der demokratischen DDR-Regierung lesen wir in den Geschichtsbüchern nichts. Markus Meckel beschreibt die Vorbereitungen zu den Wahlen vom 18. März 1990, die Regierungsbildung und die Verhandlungen mit der westdeutschen Bundesregierung. Ein großer Erfolg war die von der DDR-Regierung ermöglichte Zuwanderung von Jüdinnen:Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland, die mit ihren Kindern und Enkel:innen die heutigen jüdischen Gemeinden mit Leben erfüllen. Ein weiterer Erfolg war die Liberalität der Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in der DDR, die – allerdings auch dank der Übernahme einer westdeutschen Landesregierung durch die SPD – vorerst beibehalten bleiben konnte. An dem Abzug der sowjetischen Truppen wurde die DDR-Regierung nicht beteiligt. Markus Meckel plädiert dafür, die Ostdeutschen mit ihrer Demokratiegeschichte als Subjekt der Geschichte zu würdigen und nicht lediglich als Objekt einer vom Westen importierten Demokratie zu sehen. Schließlich schlägt er vor, den Artikel 146 Grundgesetz, der dieses immer noch als vorläufig bezeichnet, zu streichen, um zu dokumentieren, dass das Grundgesetz auf Dauer die Verfassung Deutschlands ist. Den vollständigen Vortrag lesen Sie hier.
  • Rubriken Liberale Demokratie und DDR: Ergänzend zum Vortrag von Markus Meckel zu empfehlen sind die von Katharina Kunter und Johannes Paulmann herausgegebenen Interviews mit fünf Staatssekretär:innen der demokratischen DDR-Regierung, Almuth Berger, Helmut Domke, Petra Erler, Helga Kreft, Hans Misselwitz. Die Rezension des Buches trägt den Titel „Eine unerzählte Geschichte“. Insgesamt gab es 60 Staatssekretär:innen, an deren Leistungen sich heute kaum noch jemand erinnert. Zu Feierstunden der deutschen Einheit oder des Mauerfalls werden sie nicht einmal mehr eingeladen. Die fünf Staatssekretär:innen sprechen über Außen- und Europapolitik, Familienpolitik, das Amt der Ausländerbeauftragten. In der Familienpolitik erlebte Helga Kreft die Vorbehalte der westdeutschen Seite gegen eine staatlich garantierte Kinderbetreuung und den Schutz von alleinerziehenden Müttern und Vätern. Es gab Phasen, in denen alle bei Verhandlungen auf Augenhöhe agierten, aber auch Phasen, in denen sie als Bittsteller:innen behandelt wurden. Das Buch dokumentiert die unterschiedlichen Voraussetzungen in West- und Ost-Regierung und bietet ein eindrucksvolles Bild, wie Menschen, die noch nie in einer Verwaltung gearbeitet hatten, ihre Aufgabe annahmen und sich in die Verhandlungen mit der West-Regierung einbrachten. Den vollständigen Text der Rezension lesen Sie hier.
  • Aphrodisias, Theater

    Rubrik Levantinische Aussichten: Wer sich über Entwicklungen im Iran informieren möchte, greife zum Internetmagazin „Iran-Journal“. Redaktionsleiter Farhad Payar, tätig als Journalist bei der Deutschen Welle und als Schriftsteller, betreibt ehrenamtlich mit einigen wenigen Expert:innen dieses Journal, dessen Ziele sich mit dem Begriff „Journalismus für die Menschenrechte“ charakterisieren lässt. Farhad Payar berichtet über Entstehung und Arbeitsweise des Iran-Journals. Er nennt vorangegangene Formen des Widerstands gegen das Regime der Mullahs, darunter „Meine heimliche Freiheit“ von Masih Alinejad und die 2006 gegründete „Eine-Million-Unterschriftenkampagne“. Er sagt, er könne keine Umfragen zitieren, habe aber den Eindruck, dass das Regime die Mehrheit in der Bevölkerung verloren habe. Dies entspricht auch den Eindrücken anderer Expert:innen, die sich in verschiedenen im Demokratischen Salon veröffentlichten Gesprächen geäußert haben. Die Unterstützung in Europa, gerade von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen, aber auch von Regierungsseite erstaune ihn und mache Mut. Die Hoffnungen auf das Atomabkommen hätten sich nicht erfüllt, weil das Regime frei gegebene Gelder nicht für die Bevölkerung verwendet habe, sondern für militärische und polizeiliche Zwecke. Die weiteren Perspektiven sind offen, es gibt fragile Hoffnung, aber natürlich kann niemand sagen, was nach dem Sturz des Regimes der Mullahs geschieht und ob sich – anders als 1979 – diesmal die Demokratie durchsetzt. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.

  • Rubrik Science-Fiction und Treibhäuser: Wir setzen die dreiteilige Reihe des Autors Hans Frey mit dem zweiten Teil fort. Die Reihe trägt den Titel „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“, der zweite Teil den Titel „Die SF im Kampf zwischen Humanität und Barbarei“. Hans Frey unterscheidet in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit „demokratisch-fortschrittlichen“ und „faschistisch-reaktionären Modernismus“. Dies wurde beispielsweise bei den Romanen „Metropolis“ und „Utopolis“ deutlich. Im Folgenden analysiert Hans Frey verschiedene Romane, darunter den ersten Science-Fiction-Roman der Literaturgeschichte „Ini“. Dessen Autor Julius Voß und Kurd Laßwitz, nach dem der bedeutendste deutsche Science-Fiction-Preis benannt wurde, prägten schon in der Kaiserzeit die aufklärerische Linie des Genres. Sie folgen wie weitere in diesem Essay vorgestellte Autoren der „Erkenntnis, dass eine zukünftige Gesellschaft, will sie der Menschheit eine humane Entwicklungsperspektive bieten, demokratisch und sozial sein muss. Zudem muss sie dem Individuum genügend Freiheit einräumen, damit es sich entfalten kann. Und es geht immer um das Wohl allerDie „reaktionär-faschistische“ Science Fiction entstand ebenfalls in der Kaiserzeit und prägte völkische „Neomythen“. Die faschistisch-reaktionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts haben hier ihre Vorbilder und wirken bis in die heutige Zeit, denn Brechts Diktum stimmt nach wie vor: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. Der dritte Teil der Reihe erscheint in der Novemberausgabe des Demokratischen Salons. Jeweils am Schluss finden Sie Hinweise zu den weiteren Publikationen von Hans Frey. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
  • Rubrik Science-Fiction: Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat mit ihrer Reihe „Star Trek und die Politik“ gezeigt, wie politische Entwicklungen in der Populärkultur aufgenommen und diese wiederum eigene politische Botschaften zu popularisieren weiß. Dies gilt vor allem im Falle des Franchise Star Trek für die US-Politik. Martin Thoma, der die Reihe der Stiftung kuratiert hat, beschreibt im Gespräch mit Norbert Reichel, wie die Reihe entstand. Zwei Staffeln mit 22 Episoden thematisieren die wesentlichen inhaltlichen Aspekte der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Religion, Liberalismus, Feminismus (in zwei Episoden), Rassismus, Außenpolitik und vieles mehr. In jeder Episode gibt es eine wissenschaftliche Einführung, über die dann mehrere Expert:innen diskutieren, die nicht nur als Wissenschaftler:innen sprechen, sondern auch als Fans. Star Trek ist vor allem ein Kommentar auf US-amerikanische Politik, thematisiert aber auch über nunmehr etwa 60 Jahre weltweit relevante Themen wie beispielsweise die Künstliche Intelligenz, auch im Hinblick auf die Menschenrechte von Androiden (Data) oder Hologrammen (der Doktor in „Voyager). Am Beispiel der Ferengi lässt sich der strukturelle Rassismus von Vertreter:innen der demokratisch-liberalen Föderation ebenso zeigen wie auch dessen Dekonstruktion, beispielsweise in den Figuren des Rom und des Nog in „Deep Space Nine“, Martin Thoma hat für die Dokumentation unseres Gesprächs eine ausführliche Literaturliste zur Verfügung gestellt. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
  • Aphrodisias, Tempel der Aphrodite

    Rubriken Kultur und Gender: Sehen wir immer das, was wir zu sehen glauben? Was ist Kunst, was ist Wirklichkeit? Die Koblenzer Künstlerin Firouzeh Görgen-Ossouli stellt ihre Arbeit unter dem Titel „Nichts ist für mich wie es scheint“ Sie kam nach Deutschland, um zu promovieren, und entwickelte sich zu einer Künstlerin, die verschiedene Genres miteinander vereint, die Fotographie, Installationen, das Theater, den Film. „Kunst und Kultur – das prägt das Leben meiner Familie.“ Sie schwamm immer – wie ihre Mutter sagte – wie ein Fisch gegen den Fluss, denn auch Verletzungen bereichern. Sie verbindet ihre Bilder oft mit Gedichten, einige werden von ihr in der Dokumentation unseres Gesprächs zitiert. Beeinflusst haben sie beispielsweise Forough Farrokhzad, Mary Bauermeister, Simone de Beauvoir und ihre Schwester Farah Ossouli, eine Malerin. In Ausstellungen wie „Freundinnen“ und „Single Moms“ be- und verarbeitet sie feministische Themen. Firouzeh versteht sich nicht als politisch, auch wenn politische Themen wie beispielsweise der Aufstieg einer faschistischen Partei in Deutschland Gegenstand sein können. Ihre Fotographien sind unbearbeitet, geben aber einen Augenblick wieder, in dem Bäume wie tanzende Schwäne wirken, in denen Licht und Wasser, beispielsweise Regentropfen oder ein Fluss, Baum und Blätter, jede Fotographie in einer natürlichen Bewegung erscheinen. „Manchmal sieht es auch so aus, als wenn Bäume an Bäumen hängen.“ Das vollständige Gespräch, illustriert von eindrucksvollen Bildern lesen Sie hier.

Veranstaltung mit Beteiligung des Demokratischen Salons:

  • Polen nach der Wahl: Am 15. Oktober 2023 wurde in Polen ein neues Parlament gewählt. Gemeinsam mit dem Universitätsclub Bonn lädt der Demokratische Salon zu einer Veranstaltung ein, die unter anderem an den im August 2023 veröffentlichten Essay „Polen 2023“ anschließt. Die Veranstaltung findet am November 2023, 19 – 21 Uhr, in den Räumen des Universitätsclubs statt. Zugesagt haben Markus Meckel, Außenminister und MdB a.D. und Ines Skibinski, Universität Bonn – Abteilung für osteuropäische Geschichte (Lehrstuhl von Martin Aust). Norbert Reichel moderiert. Gegenstand ist die Frage, welche Rolle Polen nach den Wahlen des Oktober 2023 in Europa spielen könnte und welche deutsch-polnischen Initiativen denkbar wären. Geplant sind ein Deutsch-Polnisches Haus und ein Polen-Denkmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Welche Rolle spielen diese Initiativen für die zukünftige gemeinsame Geschichte Polens und Deutschlands in Europa? Ist ein gemeinsamer Weg in einem demokratischen Europa möglich? Was bedeutet das Ergebnis der Wahl für Erinnerungskultur und Begegnungsstätten? Gibt es Chancen für eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks? Weitere Informationen demnächst auf der Internetseite des Universitätsclubs. Um Anmeldung wird gebeten: programm@uniclub-bonn.de.

Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:

  • Protest und Aufstand: Am 6. Juni 2023 startete die sechsteilige Vortrags- und DiskussionsreiheMut/Wut! Protest, Aufstand und politischer Aktivismus in Diktatur und Demokratie“, ein gemeinsames Projekt der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Bundesstiftung Aufarbeitung. Wer nicht teilnehmen konnte, findet alle Veranstaltungen der Reihe auf dem Youtube-Kanal der Stiftung. Die nächsten Veranstaltungen: 7. November 2023 („Vergessene Aufstände und marginalisierter Protest“) in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung und 5. Dezember 2023 („Protest und Emotion“) in den Räumen der Bundesstiftung.
  • Didyma, Tempelruine

    Spaltung der Gesellschaft? Diese Frage wird immer wieder diskutiert. Ob dies wirklich so ist, ist jedoch eine berechtigte Frage. In einer Veranstaltung der Stiftung Mercator diskutieren am 9. November 2023, 19 – 20.30 Uhr im Projetzentrum Berlin der Stiftung (Neue Promenade 6 am Hackeschen Markt) Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Hans Vorländer, Direktor des Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM und des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung, über ihre Forschungsergebnisse, die sie in dem bei Suhrkamp erschienenem Buch „Triggerpunkte“ und dem Projekt „Polarisierung in Deutschland und Europa“ veröffentlicht haben. Moderiert wird der Talk von der Geschäftsführerin der CIVIS-Medienstiftung, Ferdos Forudastan. Verbindliche Anmeldung wird bis zum 3. November 2023 erbeten.

  • Forum für Demokratie und Bürgerbeteiligung: Die Stiftung Mitarbeit lädt vom 10. bis zum 12. November 2023 ein zum diesjährigen Forum unter dem Titel „Den gesellschaftlichen Umbruch demokratisch gestalten. Zukunft als Gemeinschaftsaufgabe“. Das Forum findet in Bonn statt. Thema ist die Frage wie Bürgerbeteiligung und demokratische Praxis heute ausgestaltet sein müssen, um die notwendigen Handlungsstrategien für die gesellschaftliche Zukunft zu erarbeiten, tragfähig zu machen und zu realisieren. Dazu gehören gemeinsame Handlungsräume für Zivilgesellschaft und Kommune, Kinder- und Jugendbeteiligung, partizipative Strategien hin zum lokalen Klimaziel, gemeinwohlorientierte Orte in den Städten der Zukunft, Stärkung von Dörfern durch Vernetzung und Interessenvertretung sowie Strategien zum Umgang mit antidemokratischen Entwicklungen. Weitere Informationen finden Sie hier.
  • Ausstellung der Deutschen Bahn gegen Antiziganismus: Die Deutsche Bahn präsentiert in Bahnhöfen die vom Bildungsforum gegen Antiziganismus konzipierte Wanderausstellung „HinterFragen. Sinti und Roma – Eine Minderheit zwischen Verfolgung und Selbstbestimmung“. Die Ausstellung wurde vom DB-Vorstandsvorsitzenden Richard Lutz, der Sächsischen Staatsministerin der Justiz und für Demokratie Katja Meier, dem Beauftragten der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland Mehmet Daimagüler sowie Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, im Dresdner Hauptbahnhof eröffnet. Nach einer weiteren Station in Wiesbaden wird sie zurzeit bis zum 12. November 2023 im Hauptbahnhof Nürnberg gezeigt. Verschiedene Infopanels geben einen Überblick über Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in Deutschland. Kernthemen sind Antiziganismus und Verfolgung, aber auch Selbstbestimmung und der lange Kampf um Anerkennung. Romani Rose sagte zur Eröffnung: „Nur über Aufklärung und Information über die 600-jährige Geschichte von Sinti und Roma in Deutschland können die seit Jahrhunderten tiefsitzenden antiziganistischen Klischees in der Gesellschaft geändert und durchbrochen werden.“ Den langen Weg zu Anerkennung und Respekt hat Romani Rose auch im Demokratischen Salon beschrieben.
  • Antisemitismus und Kunstfreiheit: In den Räumen der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf findet am November 2023, 9.30 bis 18.30 Uhr der diesjährige Fachtag von SABRA statt, Thema: „Alles von der Kunstfreiheit gedeckt? Antisemitismus in Kunst und Kultur“. Die Debatte um die documenta fifteen, die Auftritte von Roger Waters und mancher Kabarettist:innen waren der ursprüngliche Anlass, doch das „ohrenbetäubende Schweigen“ nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 gibt dem Thema eine neue Wendung, „im Kern geht es letztlich in allen Fällen um das Gleiche: Ressentiment und Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen:Juden. So regelmäßig es zu Antisemitismus-Skandalen im Kulturbetrieb kommt, so routiniert und ritualisiert werden berechtigte Antisemitismusvorwürfe oftmals als das eigentliche Problem verhandelt und die Betroffenen mit ihrer Kritik übergangen und alleingelassen.“ Eröffnet wird die Veranstaltung von Bert Römgens, Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, und der Antisemitismusbeauftragten Nordrhein-Westfalen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Weitere Beteiligte sind Annette Seidel-Arpacı (RIAS Bayern), Jakob Baier (Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter, Bielefeld), Stella Leder (Institut für Neue Soziale Plastik e.V.), Angelika Scherb (Deutsch-Israelische Gesellschaft Köln) und Lorenz Deutsch (Vorsitzender des Kulturrats NRW und Leiter der Theodor-Heuss-Akademie Gummersbach). Um verbindliche Anmeldung wird gebeten.
  • Gegen Antisemitismus – Regionalforum der Deutschen Gesellschaft: Die Deutsche Gesellschaft lädt ein zu ihrem Regionalforum Nordrhein-Westfalen „Engagiert. Für jüdisches Leben. Gegen Antisemitismus“ (gefördert durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat und in Kooperation mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen). Das Forum findet am 22. November 2023, 9 – 17 Uhr im Paul-Spiegel-Saal der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen am Erich-Mendel-Platz 1, 44791 Bochum statt. Mitwirkende sind unter anderem Volker Beck (Präsident, Deutsch-Israelische Gesellschaft e. V. und Geschäftsführer Tikvah Institut gUG), Natalie Kajzer (SABRA), Jörg Rensmann (RIAS NRW), Elisabeth Müller-Witt MdL (stellvertretende Vorsitzende des Hauptausschusses, Landtag Nordrhein-Westfalen), Gunda Trepp (Leo Trepp Stiftung) und Sima Purits (Vorstandsmitglied und Regionalbeauftragte, Jüdischer Studierendenverband Nordrhein-Westfalen (JSV NRW)). Beispiele guter Praxis ergänzen die Panels, so Stelenweg „Jüdisches Leben in Bochum und Wattenscheid“ (Manfred Keller, Evangelische Stadtakademie Bochum), „Bagrut e. V. – Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins“ (Sebastian Salzmann), Schülerwettbewerb „Shalom – Jüdisches Leben heute!“ (Ulrich Tückmantel, Bezirksregierung Münster), „ZIVA – Zusammen für Integration und Vielfalt, gegen Antisemitismus“ (Marie Zielinski und Lea Klumpe, Jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen). Um verbindliche Anmeldung wird bis zum 19. November 2023 gebeten.
  • aus Didyma

    Gegen Antisemitismus – ein neues Förderprogramm: Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)schreibt ein neues, bundesweites Förderprogramm zum Handeln gegen Antisemitismus aus. Antisemitismusprävention muss – so die Stiftung – in ganz unterschiedlichen Räumen stattfinden, im Internet, im Verein oder dem Arbeitsplatz. Das Programm „Strukturen schaffen gegen Antisemitismus“ richtet sich an Sportverbände, Umweltschutzorganisationen, Gewerkschaften, Genossenschaften, Interessensvereinigungen, Kultureinrichtungen oder Universitäten, die strukturell gegen Antisemitismus vorgehen wollen. Die Stiftung EVZ fördert Projekte mit einer Fördersumme von bis zu 90.000 Euro für Personal- und Sachkosten im Rahmen einer neuen oder bestehenden internen Anlaufstelle für Antisemitismusprävention. Bewerbungen für die 18- bis 24-monatige Förderung sind bis 30. November 2023 möglich. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung: „Mit unserem neuen Förderprogramm wollen wir Vereine und Organisationen fit darin machen, sich aktiv gegen Antisemitismus einzusetzen. Das Nachhaltige daran: Über die Übernahme von Personalkosten werden die Organisationen direkt in ihren Strukturen gestärkt. Damit greift die Stiftung EVZ eine zentrale Forderung des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus auf.“

  • Kurdische Kulturwochen: Die Zentrale Beratungsstelle für Migrantinnen und Migranten e.V. und die Heinrich Böll Stiftung Schleswig-Holstein bieten im Oktober und November 2023 an unterschiedlichen Orten der Stadt Kiel Ausstellungen, Diskussionen, Konzerte, Theaterstücke, Kochkurse und Lesungen, in denen Kurd:innen über die Regionen Kurdistans informieren. Die Veranstalter formulieren ihre Ziele wie folgt: „Unter dem Begriff Kurdistan verstehen wir einen vielfältigen, komplexen Kulturraum und selbstbezeichnende Herkünfte. Im Sinne der politischen Bildung wollen wir keine Haltung zur politischen Debatte nach dem Wunsch oder der Ablehnung einer Staatengründung einnehmen, sondern Denkanstöße für die Erinnerungs- und Zukunftsarbeit durch Referierende formulieren lassen.“ Das vollständige Programm finden Sie hier.
  • Jüdisch sein in der DDR: „DDR am Dienstag“ ist der Titel einer Veranstaltungsreihe bis zum 14. Januar 2024 anlässlich der Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ im Jüdischen Museum Berlin in der Lindenstraße. Geboten werden Biografien, Lesungen, Künstlergespräche, Performances. Anmeldung ist nicht erforderlich, ein Ticket für die Ausstellung reicht aus. Außerdem gibt es einen begleitenden Podcast.
  • Milet, Theater

    Ringelblum-Archiv: Im NS-Dokumentationszentrum München wurde am 28. Juni 2023 die Ausstellung „Wichtiger als unser Leben“ eröffnet, in der bis 7. Januar 2024 das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, das nach dem Dokumentar benannte „Ringelblum-Archiv“ zu sehen sein wird. Emanuel Ringelblum war einer der etwa 60 jüdischen Akademiker:innen, Schriftsteller:innen und Aktivist:innen, die unter dem Namen Oneg Shabbat dafür sorgen wollten, dass ihr Leben und Sterben im Warschauer Ghetto der Nachwelt überliefert wurde. Das Archiv ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und wird im Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau aufbewahrt. Fotos, Schriftstücke geben Zeugnis vom polnischen Judentum sowie von anderen Gruppen, die wie Sinti:zze und Rom:nja von den Nazis im Warschauer Ghetto eingepfercht wurden. Begleitend bietet das NS-Dokumentationszentrum eine Vielzahl von Veranstaltungen.

  • Streit als Kulturgut: Bis zum Februar 2024 ist in den Franckeschen Stiftungen zu Halle die Ausstellung „Streit, Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute“ zu sehen. Einen reich bebilderten Katalog haben Claudia Weiß und Holger Zaunstöck herausgegeben. In der September-Ausgabe von Politik & Kultur hat Holger Steinstöck ein ausführliches Portrait der Ausstellung veröffentlicht. Weitere Informationen in der Septemberausgabe von Politik & Kultur.
  • Displaced Persons: Das Münchner Stadtmuseum bietet bis zum 7. Januar 2024 die Ausstellung „München Displaced – Heimatlos nach 1945“. Es geht um das vergessene Schicksal und die Erzählungen von etwa 100.000 Displaced Persons (DPs) in der Nachkriegszeit in München. Das Jüdische Museum München bietet bis zum 17. März 2024 die parallele Ausstellung „München Displaced – Der Rest der Geretteten“.
  • Jugendwettbewerb „Umbruchszeiten. Deutschland im Wandel seit der Einheit“: Der von der Bundesstiftung Aufarbeitung ausgelobte Wettbewerb richtet sich an Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren aller Schulformen und lädt sie ein, auf historische Spurensuche zu gehen und die Zeit seit 1989/90 in den Blick zu nehmen. Einsendeschluss ist der 1. Februar 2024. Die Preisverleihung findet in Berlin statt. Es gibt 30 Preise von bis zu 3.000 EUR. Das Schwerpunktthema lautet „Gesellschaft in Bewegung“: „Jugendliche können sich mit ganz verschiedenen Arten von Bewegung befassen: Welche Geschichte verbirgt sich hinter einem Umzug zwischen Ost und West? Was bedeutete die Wiedervereinigung für Menschen, die als Gast- oder Vertragsarbeiter/-innen nach Deutschland gekommen waren? Wie veränderten sich politische Strömungen wie die Frauen- oder Umweltbewegung?“ Weitere Informationen auf der Internetseite des Wettbewerbs beziehungsweise dem Flyer des Wettbewerbs.
  • Literaturwettbewerb Klimazukünfte: Das Klimahaus Bremerhaven und der Hirnkost Verlag haben den Literaturwettbewerb Klimazukünfte ins Leben gerufen. Unterstützt wird der Literaturwettbewerb durch den VS Bundesvorstand, die Writers For Future, Respekt! – Die Stiftung, finanziert wird er von Sylvia Mlynek und Fritz Heidorn aus Oldenburg. Der Preis wird in den Kategorien für Kinder und Jugendliche sowie für Erwachsene vergeben: „Der Literaturpreis KLIMAZUKÜNFTE 2050 soll Menschen jeden Alters, professionelle wie nicht-professionelle Autor:innen anregen, sich mit dem Klima und möglichen Zukünften auseinanderzusetzen und diese literarisch vorzustellen. Möglich sind alle Formen der literarischen kurzen Auseinandersetzung mit dem Thema, sei es Prosa oder Lyrik, als Science-Fiction-Erzählung, Dystopie oder Utopie, als Fabel oder Märchen. Auch Graphic Novels und Slam-Poetry-Texte sind willkommen. Wichtig ist, dass die Schreibenden eine eigene Erzählform finden, die ihre Gedanken und Gefühle zugänglich machen: Wie wird das Leben in Deutschland, Europa und der Welt im Jahre 2050 aussehen?“ Einsendeschluss ist der 31. März 2024 (nur digitale Einsendungen werden berücksichtigt). Die Auszeichnungen erfolgen in der Leipziger Buchmesse 2025.

Kurznachrichten und weitere Leseempfehlungen:

  • Ephesus, Celsusbibliothek

    Raif Badawi: Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist meines Erachtens die einzige Einrichtung, die regelmäßig an Raif Badawi erinnert, der zehn Jahre in Saudi-Arabien inhaftiert war und im Gefängnis ausgepeitscht wurde, weil er sich für Religionsfreiheit einsetzte. Auch heute darf er das Land noch nicht verlassen, seine Familie lebt in Kanada. Auf der Frankfurter Buchmesse fand der diesjährige Raif-Badawi-Talk statt, den Sie hier nachverfolgen können. Rebecca Schönenbach, Expertin für islamischen Terrorismus, moderierte ein Gespräch mit der türkischen Journalistin und Politikwissenschaftlerin Nevşin Mengü, Alumna der Galtasaray Universität, der iranischen Publizistin und Künstlerin Mina Khani und der afghanischen Politikwissenschaftlerin und Juristin Wazhma Tokhi, die sich in Afghanistan neun Jahre in internationalen Programmen engagierte, Mitglied des dortigen Jugendparlaments war und aus dem deutschen Exil Untergrundschulen in Afghanistan unterstützt. Das Gespräch fand in englischer Sprache statt.

  • „Stromlinienunförmig“: Am 17. Oktober 2023 stellte die Berliner Journalistin Anastasia Tikhomirova, die vor Kurzem zu den TOP 30 der unter dreißigjährigen Journalist:innen gewählt wurde, in der taz-Kantine vor über 100 Besucher:innen ihr Buch „Stromlinienunförmig“ Die Moderation übernahm Daniel Schulz. Die Präsentation aus der taz-Kantine ist auf youtube dokumentiert. Das Buch erschien in der edition assemblage. Es ist eine Sammlung ihrer Artikel aus verschiedenen Zeitungen, unter anderem taz, ZEIT, Jungle World, Analyse & Kritik, Unaufgefordert. In den Texten geht es um den Krieg Russlands gegen die Ukraine, Minderheiten in der Russischen Föderation, linke Verirrungen im Hinblick auf Israel und Russland, linken Antisemitismus, Feminismus, Rechte von Minderheiten in Deutschland sowie eine offene(re) Drogenpolitik. Wer mehr über Anastasia Tikhomirova wissen möchte, schaue auf ihre Internetseite oder in die Dokumentation eines Gesprächs im Demokratischen Salon.
  • Hoffnung im russischen Alltag: Wir wissen so gut wie nichts über den Alltag von Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg äußern. Caroline Fetscher stellt im Tagesspiegel das „Tagebuch vom Ende der Welt“ von Natalja Kljutscharowa vor, dessen deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt der edition suhrkamp erschien. Ein junges Mädchen hatte „Nein zum Krieg“ in die Schneedecke geschrieben und wurde verhaftet. Im Protokoll der Polizei stand zu lesen: „Sie hat die Armee der Russischen Föderation diskreditiert durch Beschädigen der Schneedecke.“ Mit dieser Episode beginnt Caroline Fetscher ihre Rezension. Natalja Kljutscharowa lebt nach wie vor mit ihren Töchtern in Jaroslawl, etwa 290 Kilometer entfernt von Moskau. Es gibt ein heimliches Leben, die Menschen organisieren ihren Alltag, aber jedes Mal, wenn sich mehrere Menschen an einem Ort treffen, tauchen Polizeifahrzeuge auf. Die Töchter passen gut auf, was sie in der Schule sagen. Das Buch beginnt im Februar 2022 und endet im Februar 2023. Im ersten Kapitel schreibt sie: „Ich fühle mich wie eine Figur in einem absurden Theaterstück.“ Über das, was sie beschreibt, schreibt sie: „Ich kann nichts schreiben. Ich halte nur die Wirklichkeit fest. / Um zu schreiben, braucht man Hoffnung. Aber woher diese Hoffnung nehmen?“ Im Februar berichtet die Autorin, dass sie in Batumi aus ihrem Tagebuch gelesen habe. „Hinterher bekam ich Post von Menschen, die schrieben, das habe ihnen geholfen, den Tag zu überstehen.“
  • In der Defensive: In München nannte Maxim Biller in einer schon vor längerer Zeit von Rachel Salamander anberaumten Leseveranstaltung zu seinem neuen (sehr lesenswerten!) Roman „Mama Odessa“ (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) den 7. Oktober ein „neues Babyn Jar“ und fügte hinzu: „Es ist, als sei der Tempel noch einmal verbrannt worden.“ Rachel Salamander hatte schon 2021 in einer Rede zur Verleihung des Heine-Preises gesagt: „Wir Juden sind in der Defensive, nie hätte ich gedacht, dass mir solches passieren könnte.“ Nils Minkmar berichtete in der Süddeutschen Zeitung und kam zu folgendem Schluss, die letzten Jahre (oder sollte man sagen: Jahrzehnte?) „waren Jahre einer nie wirklich hinterfragten permanenten deutschen Gegenwart.“ Über „Mama Odessa“ schreibt Nils Minkmar: „Der Roman, aus dem Maxim Biller las, nennt sich also wie gesagt ‚Mama Odessa‘ und handelt von genau den Themen, die die Realität des vergangenen Samstagabends prägten. Exil und Bedrohung; die Gefährdung und Einsamkeit der Juden in Deutschland; Lehren der Vergangenheit und Gleichgültigkeit der Gegenwart, das Schreiben als private Rettung und öffentliche Aufgabe. Zum Teil spielt er in Hamburg, aber eben einem schönen Hamburg. Biller rekurrierte zu diesem entscheidenden Differenzgebot: Die Stadt in seinem Roman sei schön, das echte Hamburg aber nicht. Biller steht in der Tradition der Schriftsteller, die selbst Welten schaffen: Salman Rushdie wäre zu nennen. Manchmal erinnert er aber auch an den satirischen Blick von Yasmina Reza in ‚Serge‘.“
  • „I know they werenʼt wrong / I know they werenʼt right“: Während des Jom-Kippur-Krieges kam Leonard Cohen nach Israel. Er sang: „Who by Fire“.  Matti Friedman schreibt über den Auftritt, die Hintergründe, die Widersprüche im Leben Leonard Cohens, der Soldat:innen, der Menschen, denen Leonard Cohen begegnet, von denen er hört, an die er sich erinnert, auch in der Diaspora, im Zeichen des Krieges, einer Zeit, in der niemand weiß, was richtig ist, was falsch. Er verweist auf Parallelen zur Geschichte, die an Jonathan Safran Foer in seinem 2016 erschienenen Buch Here I Am“ erzählt, es ist die Erzählung der Mischung von Verbundenheit und gleichzeitigem Unverständnis von Jüdinnen:Juden in der Diaspora für Israel. Es ist aber auch die Bereitschaft Abrahams, die in den Worten Hier bin ich“ – hebräisch „Hineni“ – erscheint. Jede Reise nach Israel wird – dies haben die Bücher von Matti Friedman und Jonathan Safran Foer gemeinsam – eine Reise zu sich selbst und dem eigenen Jüdischsein. Matti Friedmans Buch belegt dies unter anderem mit unveröffentlichten Texten von Leonard Cohen über seine Reise nach Israel während des Jom-Kippur-Krieges. „Who by fire, who by water“ – das sind Worte aus einem wichtigen Gebet, das zu Jom Kippur in den Synagogen gebetet wird, dem Unetaneh Tokef. Das Buch enthält beeindruckende und verstörende Textpassagen und Fotografien, die zeigen, was Krieg mit Menschen macht und was Leonard Cohen, der nicht nur an Stützpunkten, sondern direkt an der Front auftrat, dort vorfand. Das Buch erschien bei Hentrich & Hentrich. Matti Friedman sprach über das Buch mit Ayala Goldmann. Dieses Gespräch erschien in der Jüdischen Allgemeinen unter dem Titel „Wir brauchen mehr Leonard Cohens“. Thema des Gesprächs war auch die Ambivalenz Leonard Cohens, der einerseits den Soldat:innen Kraft geben wollte, andererseits zweifelte: „In dem Lied Lover Lover Lover’ gab es ursprünglich Verse, die er später gestrichen hat: ‘I went down to the desert to help my brothers fight / I know they werenʼt wrong / I know they werenʼt right / But bones must stand up straight and walk and blood must move around / And men go making ugly lines across the holy ground.’ Denn Cohen hat sich daran erinnert, dass er ein kosmopolitischer Dichter ist und ‚größer‘ sein will als nur die jüdische Seite dieses Krieges. Aber dieser Widerspruch ist sehr jüdisch. Wie der Prophet Jesaja hätte Cohen gesagt, dass er nicht nur zu Juden redet. Er hörte eine jüdische Mission und sprach zur ganzen Welt.“ Matti Friedman sprach mit den Soldat:innen, die damals Leonard Cohen lauschten: „Die Soldaten erinnern sich an ihn wie an einen Botschafter aus einer anderen Welt. Seine Gegenwart hat ihnen viel bedeutet.“
  • Ephesus, Theater

    Linker Antisemitismus: Am 24. Oktober 2023 veröffentlichte Nathan Sznaider in der Süddeutschen Zeitung den Gastbeitrag „Zur Lüge der Linken“. Die Botschaft des 7. Oktober war das Versagen des Staates, der einfach nicht da war, sodass die einzige Alternative zur jetzt angegangenen Militäraktion gegen die Hamas die „Selbstaufgabe“ wäre. „Der israelische Staat muss handeln, wenn jüdische Menschen weiter hier leben sollen.“ Aber es geht nicht nur um Israel, in Deutschland herrscht nach wie vor der Geist der Documenta, der nicht mehr verharmlost werden darf und in manchen Schlachtrufen sein wahres Gesicht zeigt. Sein Fazit: Was auf dem Spiel steht, ist ein auf Eigeninteresse beruhendes politisches Urteilsvermögen, das versteht, worum es bei diesem Krieg geht. Und dass dieser Kampf auch für diejenigen Deutschen geführt wird, die ‚Free Palestine from German Guilt‘ skandieren, wohl der skandalöseste und fast schon nazistische Schlachtruf eines politischen Milieus, das den politischen Kompass verloren hat. / Und trotzdem: Es ist eine große Leistung freier demokratischer Gesellschaften, auch moralisch und politisch fehlgeleitete Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu tolerieren. Auch darum geht es nun in diesem Krieg. Nicht nur um das Überleben der Israelis und Juden, sondern um das Besiegen des Dschihadismus. Damit auch die Gegner der Juden frei leben können.“

  • Arbeitsalltag: Manuel Gogos hat für das ZDF die Doku „Die Malocher“ erstellt, in der Handwerker, Händler und andere „Malocher“ zu Wort kommen. Er hat sie „in einem Gewerbegebiet bei Bonn in ihrem Arbeitsalltag begleitet und ihren alltäglichen Kampf mit Inflation, hohen Energiepreisen und Fachkräftemangel nachgezeichnet. Der Dreiteiler gibt authentische Einblicke in eine Welt, die wir oft übersehen, wo aber ganz konkrete ‚Wertschöpfung‘ für uns alle stattfindet.“ Verfügbar in der ZDF-Mediathek.
  • Asylbewerberleistungsgesetz: Stella Hesch hat für Correctiv recherchiert. Hier ihr Ergebnis: „Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz hat jede Person, die nach Deutschland kommt, Anspruch auf ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter. Die Sätze hierfür liegen zwischen 278 Euro für Kinder bis fünf Jahren und 410 Euro für alleinstehende Erwachsene. Ukrainische Geflüchtete sind von diesen Regelungen ausgenommen, da sie in das Sozialhilfesystem eingegliedert sind. Für alle anderen steigt der Regelsatz erst nach 18 Monaten. Ebenfalls erhalten sie dann ähnliche Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen wie Versicherte. Vorher haben Asylbewerber nur bei akuter Erkrankung, Schmerzen und Schwangerschaft Anspruch auf medizinische Versorgung. Dies gilt – anders als Friedrich Merz vor kurzem behauptete – auch für Zahnarztbesuche. In Form von Sanktionen können Leistungen gekürzt werden. Dies und die aktuellen Forderungen nach weiteren Kürzungen werden von Organisationen wie dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband oder Pro Asyl kritisiert. Es widerspreche dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit niedrigere Regelsätze als unzureichend erklärt. Ebenfalls fraglich bleibt der Zweck solcher Leistungskürzungen. Die Menschen fliehen vor Krisen, Krieg oder Verfolgung. Sozial- und asylpolitische Regelungen in den Zuflucht-Staaten sind oft nicht bekannt und wirken sich daher nur bedingt auf solche Entscheidungen aus.“
  • Rassismusforschung: Der Bielefelder Verlag transcript bietet eine mehrzeilige Podcast-Folge zur Rassismusforschung. Dabei kommen auch von Rassismus Betroffene zu Wort. Die vierte Folge der Reihe befasst sich mit den Morden von Solingen. Sie finden auf der Seite auch weitere Hinweise auf Bücher und informative Internetseiten. Die vierte Folge wurde von Serpil Polat sowie von Cihan Sinanoğlu Serpil Polat is Referentin am DeZIM-Institut und betreut den Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor, kurz NaDiRa. Cihan Sinanoğlu ist Leiter der Geschäftsstelle von NaDiRa und bereute zuletzt als Geschäftsführer den Begleitausschuss der Bundeskonferenz der Migrant:innenorganisationen. Dieser veröffentlichte im September 2020 die „Anti-Rassismus Agenda 2025“ mit Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus.
  • Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan: Am 17. Oktober 2023 jährte sich der Start des Programms zum ersten Mal. Ziel ist es, afghanischen Staatsangehörigen, die nach wie vor in Afghanistan leben und „sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind“ die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Immer noch warten sehr viele Menschen auf die Möglichkeit, aus Afghanistan auszureisen. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, sagte am 16. Oktober 2023: „Das humanitäre Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan zielt u.a. darauf ab, Medienschaffende und Künstlerinnen und Künstler, die sich besonders exponiert haben und seit dem Abzug westlicher Truppen besonders gefährdet sind, in Deutschland aufzunehmen und so zu schützen. (…). Nach wie vor sind die Verfahren aber offensichtlich sehr, sehr schleppend und zu wenige gefährdete Menschen konnten bislang ausreisen. (…). Wir fordern die Bundesregierung auf, die besonders gefährdeten Kulturschaffenden mehr in den Blick zu nehmen und eine zügige Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen.“ Weitere Informationen bietet die Koordinierungsstelle der Zivilgesellschaft.
  • Zukunft der Demokratie: Im Journal für politische Bildung äußerte sich Micha Brumlik in einem Gespräch mit Benno Hafeneger zu Hintergründen der „autoritären Versuchungen“ unserer Zeit. Er sieht aufgrund der unterschiedlichen Begründungen ein „ambivalentes Bild“ und „eine wachsende Unzufriedenheit mit der aktuellen Form der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie“. Es geht im Grunde um mehr Partizipation. Micha Brumlik kritisiert aber auch diejenigen Wissenschaftler:innen, die „ein schon eingetretenes Ende, einen Tod der Demokratie diagnostizieren“. Mit Wolfgang Streek unterscheidet er zwischen einer „marktkonformen Demokratie“ und einem „demokratiekonformen Markt“, zu dem wir „zurückkehren“ (waren wir schon einmal da?) müssten. Mit dieser Frage müsse sich auch die politische Bildung befassen.
  • Izmir, Agora

    Bürgermeister Ryyan Alshebl: 2015 flüchtete er aus Syrien über das Mittelmeer nach Deutschland. Jetzt ist er Bürgermeister der schwäbischen Gemeinde Ostelsheim. Er ist Mitglied der Partei „Bündnis 90 / Die Grünen“. Zonya Dengi stellte ihn in der neuen Portraitreihe „Heimatkunde“ der Heinrich Böll Stiftung Titel des Portraits: „Eine Demokratie muss alle repräsentieren“. Sein Wahlerfolg hängt auch damit zusammen, dass er von Tür zu Tür ging. Sein Motto: „Die Vielseitigkeit: man muss sich um alle Bereiche des öffentlichen Lebens kümmern. Und man muss eine Mehrheit hinter sich bringen, die einem zutraut, das Dorf voranzubringen. Dass mir das gelungen ist, motiviert mich.“ In dem Gespräch benennt er die Fragen, die Bürger:innen stellen, die Aspekte, die sie interessieren und ihren Alltag bestimmen. All dies zu berücksichtigen und mit ihnen die Gemeinde zu gestalten, das sieht er seine Aufgabe.

  • Demokratie ist anstrengend: 2024 kommt der neue Film von Andreas Dresen in die Kinos: „In Liebe, eure Hilde“. Lena Schneider sprach mit ihm für den Tagesspiegel über das schwierige Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen. Andreas Dresen zitiert einen Satz von Gerhard Gundermann: „Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt, aber es hat nicht gewonnen.“ Und schon ließe sich über eine Definition der Begriffe „richtig“ und „gewinnen“ Andreas Dresen reflektiert all die damit verbundenen Widersprüche. Über die Hauptperson seines neuen Films sagt er: „Der Mensch Hilde Coppi. Das war keine Widerstandskämpferin, die mit geballter Faust ihren Protest in die Welt schreit, sondern eine sehr stille, bescheidene Person. Sie hat als ärztliche Assistentin gearbeitet, war dann in der Reichs-Versicherungsanstalt. Ihr Mann Hans Coppi war Dreher, beides sogenannte ‚einfache Menschen‘. Hilde ist ihrem Herzen gefolgt und hätte immer gesagt: Ich habe nur gemacht, was ich für menschlich und richtig gehalten habe. Und das musste nicht ideologisch durchsetzt sein.“ Im Folgenden spricht Andreas Dresen über die Frage, wie sich Meinungsvielfalt aushalten ließe, dass gerade dies für eine Demokratie wichtig wäre, dass es nicht darum gehe, ein System um jeden Preis zu erhalten, sondern es „evolutionär“ weiterzuentwickeln. Dazu gehöre, dass man sich auch unbeliebt machen dürfe. Fazit: Klar ist das anstrengend. Demokratie ist immer anstrengend, weil man aus verschiedenen Richtungen versucht, eine Meinung zu bilden. Und dabei entsteht meist ein Kompromiss. Dann sind alle ein bisschen unzufrieden, aber vielleicht auch ein bisschen zufrieden. Ich wüsste keine bessere Alternative.
  • Geschlossene Goethe-Institute: Unter dem Titel „Fuck you, Goethe“ kritisiert Nils Minkmar in der Süddeutschen Zeitung mit deutlichen Worten die geplante Schließung von neun Goethe-Instituten durch die zuständige Außenministerin Annalena Baerbock und die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth, beide Grüne. Betroffen sind Bordeaux, Genua, Lille, Rotterdam, Straßburg, Toulouse, Triest, Turin, Washington D.C. Damit ist es nicht getan: auch andere Goethe-Institute leiden unter finanziellen Streichungen, zum Beispiel in Bratislava. Deutschkurse werden reduziert oder eingestellt, wer deutsche Kultur kennenlernen möchte, muss demnächst in die Südsee oder nach Texas fahren. Nils Minkmar schließt seinen Beitrag mit folgenden Worten: Die Schließung der kerneuropäischen Goethe-Institute ist eine Entscheidung, die allseits mit Entsetzen aufgenommen wurde. Sie zieht die schwerste Belastung der deutsch-französischen Beziehungen seit Langem nach sich und bringt die Bundesrepublik in den Verdacht, europäisches Vertrauen weniger zu schätzen als vage multipolare Ambitionen. Dieser Beschluss des deutschen Außenministeriums ist eine kulturpolitische und strategische Katastrophe.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
  • Kollabierende Jugendämter: Unter dem Titel „Helfer ohne Hilfe“ beschreibt Steffi Unsleber in ZEIT online die angespannte Situation in den Jugendämtern. Der Kinderschutz scheint wegen der Überlastung der Mitarbeiter:innen zu „kollabieren“. Zu wenig Fachkräfte (woher sollen wir die bekommen?), zu viele „Fälle“ (so heißt das leider, Menschen sind natürlich keine „Fälle“), zu wenig Plätze, um bedrohte und misshandelte Kinder aus ihren Familien herauszunehmen, „in Obhut zu nehmen“. Manche Kinder werden von einer Einrichtung zur anderen geschoben, sodass sich ihre erschreckende Lage noch verschärft, weil einfach die Möglichkeiten fehlen, ihnen eine verlässliche „Bezugsperson“ zu geben. Dies gilt vor allem für sogenannte „Systemsprenger“. Ich habe mit Mitarbeiter:innen in Jugendämtern gesprochen, die mir die beschriebene Problematik bestätigten, mehr noch: es sei an vielen Orten noch viel schlimmer. Dies alles betrifft nicht nur die Jugendämter, sondern auch alle Einrichtungen, die Kinder betreuen, Kindertageseinrichtungen, Ganztagsschulen, Einrichtungen der Jugend- und Sozialarbeit.
  • Die Väter-Rechte: Es klingt so harmlos und so nachvollziehbar. Väter wollen sich auch nach einer Trennung von der Mutter mehr um ihre Kinder kümmern, gefordert wird beispielsweise das sogenannte „Wechselmodell“ (natürlich mit dem Nebeneffekt, dass Unterhaltszahlungen dann wegfallen). Gabriela Keller hat für Correctiv einmal genauer hingeschaut und festgestellt, dass sich der vermeintliche Einsatz für Väterrechte als Netzwerk von Initiativen zur Rück-Abwicklung von Frauenrechten entpuppt. Es handelt sich um ein maskulinistisches und eindeutig anti-feministisches Netzwerk. Das Kindeswohl wird instrumentalisiert. Die Organisationen bieten Schulungen an, wie man vor Gericht die Kompetenzen und die Integrität der Mütter in Frage stellt. Manche Familiengerichte wirken hilflos. Es gibt Verbindungen der Väter-Organisationen bis in die rechte und rechtsextreme Szene hinein, in die AfD und ähnliche Parteien in anderen Ländern. In Deutschland hat die Väter-Lobby es geschafft, bei einigen Politikern der FDP und der Grünen – aus unterschiedlichen Gründen – Gehör zu finden. Offizielle Politik der FDP beziehungsweise der Grünen ist ihr Anliegen nicht.

Den nächsten Newsletter des Demokratischen Salons erhalten sie gegen Ende November 2023. Mit den besten Grüßen verbleibe ich

Ihr Norbert Reichel

(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 17. und 26. Oktober 2023.)

P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitten wir um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.