Reisen in die Welt der Science-Fiction
Mit Isabella Hermann, Sascha Mamczak und natürlich Star Trek
„Welche Vorstellung fürchtete ich mehr: die einer endlosen Welt ohne Wände und Begrenzungen oder die einer endlichen, eines engen Schiffs, in dem nur wir leben?“ (Angela und Karlheinz Steinmüller, Andymon – Eine Weltraum-Utopie, 1982, Neuauflage bei Memoranda 2018)
Utopie oder Dystopie? Wie sieht die Zukunft aus, fragt sich Beth, der Erzähler in „Andymon“. Welche Rolle spielen Natur und Technik, welche Rolle sollten sie spielen? Was gewinnt der Mensch in welchen Räumen, in welchem Alter, in welcher Zeit? Gibt es so etwas wie eine ultimativ letzte Grenze, „the final frontier“ oder verschieben sich Grenzen ständig, immer im Blick eine „new frontier“? Welchen Einfluss habe ich als Mensch? Ist die Zukunft utopisch, dystopisch oder gar nicht mehr vorhanden, weil die Apokalypse droht? Wer sich etwas intensiver mit Science-Fiction befasst, schafft es vielleicht, die diversen denkbaren Dystopien und Utopien gleichermaßen zu dekonstruieren, um sich so auch der eigenen Wirklichkeit – beziehungsweise den vielen nebeneinander erfahrbaren Wirklichkeiten – zu nähern und erfährt aus der Science-Fiction womöglich mehr über sich selbst und die Zeit, in der wir leben. Jede Gegenwart trägt Zukunft in sich. Und vielleicht ist es geradezu besonders menschlich, sich Zukünfte vorzustellen, die sich – in Variation des Star-Trek-Mottos – noch niemand vorgestellt hat, hat vorstellen können.
Literarische Gattung und Wirtschaftsbranche
Es ist ein geradezu wagemutiges Unterfangen, sich in der Welt der Science-Fiction zu orientieren. Einerseits lässt sich trefflich streiten, was überhaupt dazu gehört und was eher weniger. Gehören beispielsweise das Marvel- und das DC-Universum zur Science-Fiction oder nicht eher zum Reich der Fantasy, wie Märchen heute vermarktungskonform genannt werden, ungeachtet der unbestreitbaren Tatsache, dass auch Fantasy-Produkte Elemente der Science-Fiction verwenden. Manche Fans spitzen diese Frage zu, wenn sie über die Unterschiede zwischen „Star Wars“ und „Star Trek“ debattieren. Unbestritten ist, dass sich Science-Fiction – wie eben auch Fantasy – an der Grenze zwischen sogenannter „Hoch- und Popkultur“ bewegen. Sascha Mamczak referiert diese und verwandte Fragen in seinem 2021 in der 100-Seiten-Reihe des Reclam-Verlages veröffentlichten Band zur Science-Fiction.
Sascha Mamczak ist Herausgeber von Science-Fiction-Literatur und wird im September 2023 im Heyne-Verlag ein weiteres Buch zum Thema veröffentlichen: „Die Kunst der Science-Fiction“. In seinem Band der 100-Seiten-Reihe verweist er auf Marcel Reich-Ranicki, der der Science-Fiction jeden künstlerischen Wert abgesprochen hat, obwohl er gerade einmal ein wenig Jules Verne und Stanisław Lem gelesen hat. Sascha Mamczak zählt Jules Verne im Übrigen eher zur Bewegungs- beziehungsweise Reiseliteratur. Immer ist irgendjemand auf einer Reise, gleichviel ob zum Mond, zum Mittelpunkt der Erde, an den Baikal-See, in die Tiefsee oder einfach nur so einmal in 80 Tagen um die Welt. Natürlich sind bei Jules Verne die Franzosen die Guten, die Deutschen eher nicht, die Engländer spleenig und die US-Amerikaner ein bisschen verrückt. Jedem seine Reise.
Sascha Mamczak brennt ein Feuerwerk an Name-Dropping ab. Filme, Bücher, Serien – all dies ist heute ein „kulturelles Phänomen“ und ein „Milliardenmarkt“ zugleich. Auch „Computerspiele“ werden als Teildisziplin erwähnt. Es ist bei der Masse an Publikationen, die der Science-Fiction zugerechnet sind oder über sie reflektieren, nicht möglich, auch nur annähernd Vollständigkeit zu erreichen. Insofern mag es beckmesserisch sein zu monieren, dass die sowjetische und russischsprachige Science-Fiction (allen voran die Strugazki-Brüder) oder auch die Science-Fiction der DDR (wer mehr darüber wissen möchte, lese Karlheinz Steinmüllers „sehr kurze Geschichte der ostdeutschen Science-Fiction“) in Sascha Mamczaks Buch keine Rolle spielen. Aus Osteuropa werden ausschließlich Stanisław Lem und Karel Čapek erwähnt. Letztlich landet er beim US-amerikanisch dominierten Markt, sodass sein Buch selbst Teil des „Milliardenmarkts“ ist. Im Literaturverzeichnis empfiehlt er allerdings mit Recht und durchaus als Gegenstück die Lektüre von Dietmar Daths „Niegeschichte – Science-Fiction als Kunst- und Denkmaschine“ (Berlin Matthes & Seitz, 2019).
Als wesentliches Kriterium der Science-Fiction sieht Sascha Mamczak die Verbindung verschiedener Realitäten im Sinne einer „Allegorie“, „eine Science-Fiction-Allegorie ist weitaus mehr als nur eine Allegorie, weil die Science-Fiction nicht das Reale mit dem Realen aus anderer Perspektive verbindet, sondern das Reale mit einem anderen, neuen, größeren Realen.“ Es gehe letztlich um „Differenzerfahrung“, aber auf die Wirkung komme es an: „In der Sci-Fi ist alles Überwältigung, ist alles Ereignis, ist alles Effekt.“
Eine solche Einschätzung ließe sich meines Erachtens auf griechische Tragödien mit ihren übernatürlichen Aspekten – ich denke an Ödipus und Iphigenie – oder jede Art von Reiseliteratur oder Road-Movie anwenden (womit wir wieder bei Jules Verne wären). Ein kleines Geschwisterchen oder auch – wenn man so will – eine Vorform wäre vielleicht der Abenteuerroman, über den Volker Klotz 1989 in rowohlts enzyklopädie schrieb. Science-Fiction wirkt meines Erachtens im Grunde durch zwei Elemente, denkbare Vorstellungen (Fiction!) einer wie auch immer gearteten Zukunft wahlweise einer kontrafaktischen Vergangenheit, die auf in der Regel technologisch innovativen Wegen erreicht werden soll, und – in Abgrenzung zu utopischer, dystopischer bis apokalyptischer Literatur – die wissenschaftliche (Science!) beziehungsweise technologische Komponente.
Mit der Zeit steigen die Ansprüche. Sascha Mamczak weist mit Recht darauf hin, dass im 19. Jahrhundert die Erfindungen der Montgolfière oder der Dampfmaschine technologische Innovationen waren, die dazu führten, dass die Dosis an technologischer Innovation erhöht werden musste. Dies gilt erst recht für das 21. Jahrhundert, dessen technologisches Tempo die Erhöhung der Ansprüche an die Science-Fiction weiter beschleunigt: „Wir müssen nicht mehr darüber spekulieren, ob man virtuelle Kriege führen, Haustiere klonen, mit Robotern Sex haben oder Computer zur Datenverarbeitung in Paralleluniversen schicken kann – das alles geschieht inzwischen.“ Mehr oder weniger zumindest, auch wenn die Sache mit den „Paralleluniversen“ vielleicht doch etwas zu abgedreht klingt.
Sascha Mamczak beschreibt „Science-Fiction als Diskurs über das Mögliche und Machbare, als menschliche Aneignung der Welt und ihrer Wunder, als unaufhörlicher Aufbruch und Unterwegssein.“ Er schreibt als Fan, als Historiker der Science-Fiction, in einigen Passagen vielleicht auch als Philosoph. Er referiert historische Wurzeln in Ciceros „Somnium Scipionis“, bei Lukian, in der französischen Literatur (von Cyrano de Bergerac über Voltaires „Micromégas“ bis hin zu Louis Sébastien Merciers „L’an 2440“), nennt Mary Shelleys „Frankenstein or the Modern Prometheus“ und E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, um schließlich im 20. Jahrhundert neben den bekannten auch diverse Science-Fiction-Magazine (Pulp!) und Blockbuster in seinen kulturhistorischen Parforceritt einzubeziehen. „Star Trek“, das er (leider) nicht sonderlich schätzt, nennt er die „ultimative Science-Fiction-Maschine“. Hätte er sich auf „Star Trek“ etwas ausführlicher eingelassen, hätte er kaum einen besseren Beleg für seine „Allegorie“-These finden können. Aber das ist letztlich auch Geschmackssache.
Ein politisches Thema – ein philosophisches Thema
Einen völlig anderen Ansatz zur ersten Orientierung wählt Isabella Hermann. Die promovierte Politikwissenschaftlerin verbindet ihre Professionalität mit ihrer Liebe zur Science-Fiction. Auch sie ist Fan. Sie ist Ko-Direktorin des Berlin Sci-fi Filmfestes und Mitglied im Vorstand der Stiftung Zukunft Berlin. Im Jahr 2023 veröffentlichte sie im Junius Verlag ihr erstes Buch mit dem Titel „Science-Fiction – Zur Einführung“. Ihnen Ansatz beschreibt sie programmatisch auf der Startseite ihres Internetauftritts: „Science-Fiction zwischen Zukunft und Metapher“. Ebenso programmatisch ist der Titel ihres seit dem 7. Juni 2023 im SWR gemeinsam mit Andreas Brandhorst gestalteten Podcasts: „Das war morgen“.
Isabella Hermanns Buch ist ein philosophisch inspiriertes und politisches Buch. Sie entwickelt auf 204 Seiten eine Methode, mit der sich letztlich fast jedes technologische, natur- und sozialwissenschaftliche Thema aus der Science-Fiction erforschen ließe. Gegenstand sind nach der theoretischen Einführung drei Bereiche, die Künstliche Intelligenz, der Weltraum und der Klima- und Umweltschutz. Das Schlusskapitel gibt einen Ausblick auf Science-Fiction als Gegenstand in Bildungsprozessen, „Beschäftigung mit Science-Fiction ist deshalb per se politische Zukunftsbildung“. Eigentlich schade, dass manche Lehrer*innen vor der Gattung Science-Fiction scheuen, weil sie sie offenbar – siehe Marcel Reich-Ranickis Verdikt – für nicht ausreichend seriös halten. Das Gegenteil ist der Fall und so kann man Isabella Hermanns Vorschlag nur zustimmen, dass Science-Fiction Thema des Schulunterrichts sein sollte. Es gibt kaum ein geeigneteres Genre, um über das Thema „Zukunft“ nachzudenken.
In ihrem Buch verbindet Isabella Hermann wie auch in ihren Essays die Popularität utopischer, dystopischer oder gar apokalyptischer Literatur mit den verschiedenen Formen der Science-Fiction in Literatur, Film und Serien. Ihr Ziel: ein Blick auf „theoretische Grundlagen“ der Science-Fiction als „Ideengeberin und Kommentatorin“. Sie fragt, was Science-Fiction über uns aussagt und was mit ihr vermittelt wird. Dabei schließt sie an mehrere Autor*innen und Kommentator*innen zeitgenössischer Science-Fiction an, die diese als Metapher verstehen. Dies zeige sich beispielsweise beim Motiv der Zeitreise: „Oft wird die Zeitreise zur Metapher dafür, dass wir Menschen unseren kollektiven und individuellen Schwächen nicht entkommen können – immer wieder geraten wir in die gleichen Dilemma-Situationen oder lösen durch unseren Wunsch, das Schicksal zu verändern, wie in einer griechischen Tragödie das Unglück erst aus.“ Es wäre müßig, die Begriffe der „Allegorie“ (Sascha Mamczak) und der „Metapher“ (Isabella Hermann) gegeneinander auszuspielen. Der Kern beider Begriffe betrifft die Frage nach über Science-Fiction mögliche Selbsterkenntnis. Ein dritter passender Begriff wäre vielleicht die „Analogie“.
Ich erlaube mir Isabella Hermanns Methode auf Star-Trek anzuwenden und bekenne mich als Fan dieser Serie. Ich darf an ein ausgesprochen gelungenes Vorbild der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit anknüpfen, das eine eigene ausführlichere Darstellung verdiente. In zwei Staffeln präsentierte Martin Thoma gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und Journalist*innen jeweils etwa eine Stunde dauernde Features zum Thema „Star Trek und die Politik“. Themen waren Liberalismus, Wirtschaft, Wissenschaft, Rassismus, Feminismus, Medizin und vieles mehr. Alle Folgen sind nach wie vor auf dem youtube-Kanal der Stiftung vorhanden.
Künstliche Intelligenzen
Isabella Hermann analysiert die Grundlage jeder heutigen Science-Fiction zur Künstlichen Intelligenz, beginnend mit dem Automaten „Olympia“ in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ (1816) und dem Urbild aller Science-Fiction, Mary Shelleys „Frankenstein or the Modern Prometheus“ (1818). Etwa 125 Jahre später formulierte Isaac Asimov seine Roboter-Gesetze (1942): „So drehen sich die mit der KI-Trope verbundenen Ängste häufig um einen Konflikt zwischen Menschen und Maschinen, ein Phänomen, welches Isaac Asimov als ‚Frankenstein-Komplex‘ bezeichnet hat, als den menschlichen Wunsch, eine künstliche Kreatur zu schaffen, bei gleichzeitiger Angst, dass diese Kreatur zu einer Bedrohung wird.“
Im Star-Trek-Universum wäre das die Alternative „Data“ oder „Lore“. Captain Jean-Luc Picard diskutiert die Frage nach den Aufgaben künstlicher Intelligenzen mit Guinan und kommt mit ihr zum Schluss, dass es sich letztlich um „Sklaverei“ handelt, was der Mensch mit einem Androiden versuche und in die Tat umsetze. Isabella Hermann sieht in der Forschung den Konsens, dass es der größte Wunsch eines Androiden ist, menschlich zu werden. Data versucht sich als Musiker, als Maler, er hat ein persönliches Verhältnis zu seiner Katze, er schafft Töchter (in „The Next Generation“, 1987-1994, und in „Picard“, 2020-2023). Sein Zwillingsbruder „Lore“ verfügt jedoch anders als er über einen Emotionschip, vermag Data auch kurzfristig auf seine Seite zu ziehen – ein Erzählmotiv, das mehrfach genutzt wird, variiert in der Serie „Picard“ – doch endet es stets mit dem Sieg des guten „Data“ über den bösen „Lore“. In ähnlichen Konflikten – so Isabella Hermann – agiert die von Arnold Schwarzenegger dargestellte Gestalt des Terminators (1984, 1999, 2001). Im Blade-Runner-Franchise (nach Philip K. Dicks Roman „Do Androids Dream of Electric Cheep?“ aus dem Jahr 1968, Verfilmungen unter der Regie von Ridley Scott 1982 und Denis Villeneuve 2017) stellt sich eine vergleichbare Frage, beispielsweise im ersten Film im tragischen Tod des um die Anerkennung seines Rechts auf Leben kämpfenden von Rutger Hauer dargestellten Roy Batty.
Die Frage nach der Menschlichkeit Künstlicher Intelligenz wird in der siebten Staffel der „Voyager“-Serie (1995-2001) aus dem Star-Trek-Franchise versöhnlicher gelöst, zumindest in der Perspektive. Das Holographische Medizinische Notfallprogramm (EMH) übernimmt auf der „Voyager“ die Rolle des Chef-Mediziners, entwickelt sich, auch mit von ihm selbst zugefügten Subroutinen, singt Opern, spielt Golf, verliebt sich, hat sogar – es wird mehrfach erwähnt – wohl sexuelle Kontakte. All dies im fernen Delta-Quadranten. Diese Entwicklung bleibt seinen Kollegen im Alpha-Quadranten verwehrt. Diese werden ausrangiert und müssen in Minen Dilithium abbauen. Als der bis zuletzt aus eigener Entscheidungsschwäche namenlos bleibende Doktor einen Holo-Roman über die Missachtung seiner Menschenrechte verfasst, wird dieser Roman unter seinen degradierten Kollegen bekannt, vielleicht sogar Auftakt einer zukünftigen Revolte? Völlig gegenläufig hingegen agiert die Künstliche Intelligenz in der zweiten Staffel von „Discovery“ (die Serie läuft seit 2017). Sie war eigentlich dazu da, Kriege zu verhindern, kann dieses jedoch offenbar nur erreichen, indem sie die Ursache aller Kriege, die Menschen mit Vernichtung bedroht, aber daher letztlich selbst vernichtet werden muss.
All diese Aspekte Künstlicher Intelligenz dürften auf den ersten Blick die Roboter-Gesetze Isaac Asimovs rechtfertigen, denen Isabella Hermann ein Unterkapitel widmet. Mit Alan Turing benennt sie aber auch die Schwierigkeit, „einer KI Regeln fürs Leben zu geben.“ In „2001 – A Space Odyssey“ (1968) gelingt und misslingt dies zugleich. Zumindest für unsere Augen. Was geschieht nach der Abschaltung von HAL, was könnte geschehen, in welcher Welt landet David Bowman, der einzige Überlebende der Crew von „Discovery One“ wirklich? (Interessant wäre ein Vergleich des ebenfalls von Isabella Hermann genannten Romans „Dave“ von Raphaela Edelbauer mit diversen Klassikern der KI-Filmo- und Bibliographie. Wie zufällig ist der gewählte Name der Künstlichen Intelligenz bei Raphaela Edelbauer?)
Letztlich stellt Isabella Hermann in Anlehnung an den Philosophen Markus Gabriel die Frage nach der Freiheit, die erst in den Fehlern eines Menschen sichtbar würde. Dieser Gedanke ließe sich entfalten: das Böse als Zeichen von Freiheit? Isabella Hermann verweist ausdrücklich auf das von Isaac Asimov später hinzugefügte Nullte Roboter-Gesetz, demzufolge ein Roboter weder aktiv zu einer Verletzung eines Menschen beitragen noch eine solche durch Unterlassung hinnehmen dürfe. Damit sind wir aber im Feld der ethischen Güterabwägung, die sich beispielsweise in der Debatte um Güterabwägungen autonomer Steuersysteme für Automobile darstellt. Kann eine Künstliche Intelligenz das Dilemma einer Triage lösen? Auch hierzu gibt es eine Folge in der Voyager-Serie, als Captain Janeway eine Erinnerung des holographischen Doktors löschte, in der er eine Triage durchführte, die Ensign Kim rettete, aber den Tod eines anderen ihm persönlich ferner stehenden Crew-Mitglieds in Kauf nahm. Der Doktor bekommt die Manipulation heraus, wehrt sich und wir sehen, wie er zum Schluss, natürlich mit Unterstützung der Crew, das erlebte Dilemma zu verarbeiten versucht.
All diese Dilemmata thematisiert Isabella Hermann an diversen Beispielen. Sie verweist allerdings auch darauf, wie Künstliche Intelligenzen menschliche Verhältnisse spiegeln. Der Pygmalion-Mythos aus den „Metamorphosen“ Ovids prägt so manches Design: „Diese Sichtweise auf Frauen spiegelt einen Sexismus in der Tech-Welt wider, in der auch die Stimmen von Assistenzsystemen wie beispielsweise Siri oder Alexa häufig weiblich konstruiert werden, obwohl Technik per se kein binäres Geschlecht hat (…).“ Und schon sind wir wieder bei dem Thema der von Picard und Guinan diskutierten „Sklaverei“. Welche Rechte haben Künstliche Intelligenzen? In „The Next Generation“ und in „Voyager“ gibt es jeweils eine Folge, in der die Rechte Datas beziehungsweise des holographischen Doktors vor Gericht verhandelt werden, in beiden Fällen mit zumindest einem Teilerfolg. Data darf nicht zum Zwecke wissenschaftlicher Studien demontiert werden, der Doktor erhält die Rechte des von ihm geschriebenen Holo-Romans.
Universelles Universum?
Der Weltraum ist ein „Sehnsuchtsort“. Der Mond, der Mars, ferne Planeten und Galaxien. Aber auch im Weltraum bleibt der Mensch der Mensch. Gerade die Verfilmung des Romans „Solaris“ von Stanisław Lem (1961) durch Andrej Tarkowski (1972) „steht symbolisch als Bild dafür, dass sich der Mensch auch in den Weiten des Weltraums nicht von seinen Dämonen befreien kann.“ Ein intelligentes Wesen, dass in den Augen der Menschen als unendlicher einen ganzen Planeten bedeckender Ozean erscheint, vermag es, den es beobachtenden Menschen Projektionen ihrer Vergangenheit, ihrer Träume und Ängste vorzuspiegeln, im Grunde eine gigantische und immer wieder neu variierende Fata Morgana. Es ist nicht nur die Grenze des Raumes, sondern auch die Grenze des eigenen Selbst. Auch hier – so Isabella Hermann – sei „2001 – A Space Odyssey“ „bahnbrechend“.
Isabella Hermann findet für diese Sicht eine treffende Formulierung: „Der Weltraum, egal ob als einladender oder abweisender Ort, ist die ultimative Metapher für das Mysterium der menschlichen Existenz. Die Aliens, denen wir im Weltraum begegnen, konstruieren unseren Platz im Universum, wenn sie Feinde, Freude oder gar unsere Vorfahren repräsentieren.“ Geht es auf anderen Planeten gerechter zu? Nicht unbedingt. Isabella Hermann zitiert eine Konversation aus „Star Trek VI – The Undiscovered Country“ (1991). Pavel Chekov und die Klingonin Azebut streiten sich über den Begriff der Menschenrechte. Als Chekov die universelle Gültigkeit der Menschenrechte betont, antwortet Azebut, er solle sich selbst einmal zuhören, was er das sagt: „Menschenrechte“: „Der bloße Name ist rassistisch. Die Föderation ist nichts anderes als ein Homo-Sapiens-Only-Club.“ (Übersetzung NR). Nun bietet das politische System der Klingonen sicherlich nicht das, was eine Demokratie auszeichnet. Chinesische, afrikanische oder arabische Diktatoren dürften eben dieses Argument gegenüber Hinweisen – oder sollte ich sagen: „Anmaßungen“ – des „Westens“ nennen, sie möchten doch bitte die „Menschenrechte“ achten. Über wen sagt die zitierte Szene also etwas aus? Die Menschen oder die Anderen, für die hier die Klingonen stehen? Oder über beide und ihre Art der Auseinandersetzung?
Ganz so universell ist das Universum eben nicht. In der Serie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zum Star-Trek-Franchise (2021-2023) wurde immer wieder angesprochen, dass eigentlich nirgendwo so richtig klar wird, worauf die Föderation eigentlich beruht und wie demokratisch und liberal sie wirklich ist. In der oft leider unterschätzten Serie „Enterprise“ (2001-2005) gründet sich in der letzten Folge die Föderation, auf maßgebliches Betreiben der Menschheit. Die Vulkanier haben sich demokratisiert, ihr zuvor eher autoritäres System wird von einer Gruppe von Freiheitskämpfer*innen unter Führung von T’Pau und mit Unterstützung Captain Jonathan Archers und seiner Ersten Offizierin T‘Pol durch ein die Rechte aller Mitglieder der Gesellschaft achtendes System abgelöst, ohne dass jedoch deutlich wird, wie das System tatsächlich aussehen wird. Diese Entwicklung deutete sich bereits an, als bereits früh, in der ersten Staffel, die Enterprise-Crew ein vulkanisches Kloster als gegen die Andorianer gerichteten Spähposten enttarnt.
Isabella Hermann weist darauf hin, dass die Prime Directive als Gegenstück zum Kolonialismus verstanden werden kann. Ob sie dies tatsächlich ist, wäre eine interessante Frage. Zumindest scheint der Zweck der Achtung fremder Kulturen, sprich Planeten mit ihren jeweilig eigenen politischen Verfassungen, in der Regel prioritär zu sein. Durchhalten lässt sich dies nicht. Insofern wirkt Janeways Entscheidung, Tom Paris zu bestrafen, weil er gegen ihre Weisung einen Planeten vor einer ökologischen Katastrophe retten wollte, geradezu widersprüchlich gegenüber ihrem Verhalten in anderen Kontexten, beispielsweise bei der Zerstörung der Raumstation des Fürsorgers zur Rettung der Ocampa im Pilotfilm, bei ihren Eingriffen zur Rettung von „Unimatrix Zero“ im Reich der Borg oder in der Schlussfolge „The Endgame“, wo sie auch noch gegen die oberste temporale Direktive verstößt, um die Voyager 16 Jahre früher nach Hause zu bringen. Wie vergeblich ein Frieden stiftender Einsatz ist, erlebt in der Originalserie (1964-1969, in dieser Zeit zwei Pilotfilme und drei Staffeln) Captain James T. Kirk mit seiner Crew auf einem Planeten, in dem sich zwei Gruppen bekämpfen, die eine schwarz auf der rechten und weiß auf der linken Körperhälfte, die andere umgekehrt gezeichnet. Der Krieg setzt sich fort.
Mit Recht verweist Isabella Hermann auf die diversen Zeichnungen des Spiegeluniversums, in dem die jeweiligen Crews als Böse auftauchen, in dem – so in „Deep Space Nine“ (1993-1999) und in „Discovery“ ein terranisches Reich mit brutalen Methoden herrscht. Besonders beachtenswert sind zwei Figuren aus dem Terranischen „Empire“ in „Discovery“: Captain Gabriel Lorca in der ersten Staffel, der sich als Akteur des Spiegel-Empires herausstellt und die von Michelle Yeoh gespielte Kaiserin des Empire Philippa Giorgiou, die bis fast zum Ende der dritten Staffel im Universum der Föderation gefangen bleibt, aber vielleicht die in sich widersprüchlichste und gleichzeitig klarste Vertreterin unter Menschen möglicher Herrschaft ist.
Das gesamte System funktioniert nach dem Muster der Externalisierung: „Doch selbst wenn wir glauben, dass im Star-Trek-Universum innerhalb der Menschheit die Menschenrechte voll verwirklicht sind, werden Rassismus und Ressentiments in der serieneigenen Logik schlichtweg ins Weltall verlagert.“ Aber es gibt auch noch eine andere Seite: „Über die Jahrzehnte lässt sich an Star Trek allerdings auch die Emanzipationsgeschichte von Frauen und andern benachteiligten Personengruppen in der Gesellschaft ablesen.“ Es begann mit dem Kuss des weißen Captain Kirk und der Schwarzen Offizierin Nyota Uhura in der Originalserie. Die diverseste Crew hat die „Discovery“, allerdings gibt es bei „Deep Space Nine“ auch mit dem Trill Jadzia Dax – in der siebten Staffel Erie Dax – die erste queere Person im Star-Trek-Universum, deren über 300 Jahre alter Symbiont auf Leben als Mann und Leben als Frau, als Ehemann und Vater, als Frau und Mutter zurückblicken kann. Die zweite Feminismusfolge der Reihe der Friedrich-Naumann-Stiftung thematisiert unter anderem diesen Fall.
Politische Bildung mit Science-Fiction
Die Serie, die die Problemlage der Erde am deutlichsten zeigt und damit vielleicht am ehesten auch das Etikett „Realismus“ verdient, ist nach Isabella Hermann „The Expanse“ (2015-2022): „The Expanse zeigt eine neorealistische Extrapolation von politischen Konstellationen der Gegenwart und Vergangenheit, seien es der militärische und ideologische Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion im Kalten Krieg, Rohstoffausbeutung, Unterdrückung und Emanzipationsbewegungen im Zuge der europäischen Kolonisierung sowie eine Vielzahl von Ressentiments gegenüber Andersartigkeit (….).“ Die Serie hat es immerhin auf neun Staffeln gebracht. Ob die Serie zur politischen Bildung beiträgt oder einfach nur alte Muster repetiert, ist eine andere Frage.
Wer vermag die Welt zu retten? Isabella Hermann analysiert Filme wie „Deep Impact“ (1998), „Armageddon“ (1998), in denen am Ende weiße männliche amerikanische Helden die Katastrophe verhindern. Parodistisches Gegenstück ist „Don’t Look Up“ (2021), wo Merryl Streep eine Art weiblichen Trump spielt, der von dem drohenden Meteoriteneinschlag nichts wissen will, bis zum Scheitern an die wirtschaftliche Ausbeutung der Rohstoffe des Kometen glaubt, dann für sich selbst und alle, die sie für wichtig hält, eine Gelegenheit findet, in den Weltraum zu flüchten, dort aus der Stasis erwacht, um auf dem zufällig entdeckten Planeten von überdimensional großen Vögeln gefressen zu werden. Es hilft alles nichts – so könnte die Botschaft lauten. Es sei denn, man spielt eine Aufnahme des Country-Songs „Indian Love Call“. Dieser lässt in „Mars Attacks“ (1996) die Köpfe der die Erde besetzenden Marsianer platzen. Traditionelle Werte? Vielleicht, aber die Welt ist gerettet.
In „The Day After Tomorrow“ (2004) flüchten US-Bürger*innen als „Kälteflüchtlinge in Richtung Mexiko“. Allerdings weist Isabella Hermann auch darauf hin, dass der Film bestätig, dass die Menschen es immer wieder schaffen können. „Climate Fiction“ ist eine Spielart dystopisch-apokalyptischer Filme. Greta Thunbergs Reden lesen sich – so Isabella Hermann – „wie dystopische Zukunftsszenarien der Science-Fiction“. Die Ausbeutung von Rohstoffen ist Thema in „Dune“ (Romane von Frank Herbert 1965-1985, Film von David Lynch 1984, von Denis Villeneuve 2021) und in „Avatar“ (2009), Überflutungen sehen wir in „Waterworld“ (1995), eine Gesellschaft, die die Frauenrechte wieder abgeschafft hat, in Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ (1985), das inzwischen auch als Fernsehserie adaptiert wurde (seit 2017). Isabella Hermann referiert die Ergebnisse einer Umfrage in Großbritannien zum Film „The Day After Tomorrow“, dass die Zuschauer*innen „zumindest kurzfristig nach dem Kinobesuch besorgter über den Klimawandel und andere Umweltrisiken waren als zuvor, aber Schwierigkeiten hatten, wissenschaftliche Fakten von dramatisierter Science-Fiction zu unterscheiden.“
Wenn die in den Science-Fiction-Romanen und Filmprodukten gezeigten Geschichten konkrete Konflikte unserer Zeit in möglichst drastischer Form präsentieren, fließen offenbar Fiktion und Wirklichkeit ineinander über, wie das bei Allegorien und Metaphern offenbar so ist. Margaret Atwood formulierte lapidar: „Es ist nicht der Klimawandel, es der Wandel von allem.“ (zitiert nach Isabella Hermann, Übersetzung NR). Vielleicht passt dazu auch Isabella Hermanns Formel aus ihrem 2022 erschienenen Essay: „Die Dystopie ist da, die Utopie ist tot – es lebe die Anti-Dystopie“: „Des einen Utopie ist des anderen Dystopie – eine anti-dystopische Haltung stellt sich dabei gegen Extreme der Dystopie und der (Anti-)Utopie und sieht, dass Menschen beides in sich tragen.“
Anders gesagt: Science-Fiction löst die Probleme der Menschheit nicht. Aber sie kann schon dazu beitragen, Utopien, Dystopien und Apokalypsen zu hinterfragen, zu dekonstruieren und Gegenbilder zu formulieren. Im Grunde geschieht das, was Siegfried Kracauer in seinem Buch „From Caligari to Hitler“ (1947) schrieb: das, was wir in den Filmen sehen, wird uns nicht nur von Hollywood (und anderen) vorgesetzt, sondern es ist das, was wir selbst wünschen. Produktion und Rezeption agieren reziprok, im Ansatz dialektisch. Wer das Buch von Isabella Hermann liest, erfährt viel darüber, wie das funktioniert. Ihre Methodik überzeugt.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2023, Internetzugriffe zuletzt am 7. Juni 2023. Das Titelbild wurde von Thomas Franke zur Verfügung gestellt, der eine große Zahl von Science-Fiction-Literatur illustriert hat. Es zeigt einen Ausschnitt aus der von Thomas Franke illustrierten Neuausgabe von Arno Schmidts „Die Gelehrtenrepublik“. Die Rechte für dieses Bild liegen beim Illustrator. Siehe hierzu auch das Interview mit dem Titel „Parallele Welten – Synergetisch gebrochen“.)