Unter Verschluss
Eine szenische Lesung zum Archiv unterdrückter Literatur der DDR
„Erst wenn einem bei dem Wort Zelle nur Organisches einfällt, ist das goldene Zeitalter ausgebrochen.“ (Henry Bereska, Kolberg 8.4.1979, in: Henryk Bereska, Kolberger Hefte, erschienen in: „Die Verschwiegene Bibliothek“, Frankfurt am Main / Wien und Zürich, Edition Büchergilde, 2007)
Diktaturen maßen sich an, Geist und Körper der Menschen zu besitzen. Dies war Thema einer historisch-politisch-literarischen Soirée, die am 19. Oktober 2022 im Gustav-Stresemann-Institut (GSI) in Bonn stattfand, Titel: „Macht über Geist und Körper“. Vorgestellt wurde das von Ines Geipel und Joachim Walther sel.A. aufgebaute „Archiv unterdrückter Literatur der DDR“. Anlass war die angekündigte Neuauflage des im Lilienfeld-Verlag 2015 erschienen Buchs „Gesperrte Ablage“. Die Neuauflage wird im Jahr 2023 vorliegen. Das Buch enthält Biographien und Analysen zu den im Archiv verborgenen Autor*innen, es dokumentiert darüber hinaus auch eine Auswahl ihrer Texte.
Die Veranstaltung vom 19. Oktober 2022 kann auf youtube nachverfolgt werden.
Partner der Veranstaltung waren neben dem GSI der Bonner Verein Wissenskulturen e.V., die Theatergemeinde Bonn, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Universität Bonn und der Demokratische Salon. Die Bundeszentrale für politische Bildung beteiligte sich an der Finanzierung. Im Mittelpunkt stand die szenische Lesung „Unter Verschluss“, deren Skript wir hier veröffentlichen. An der Lesung beteiligten sich Ines Geipel, Petra Kalkutschke, Rolf Mautz und Norbert Reichel (im Folgenden als IG, PK, RM und NR notiert). Ines Geipel und Kerstin Stüssel, Universität Bonn, diskutierten vor und nach dieser Lesung über die Bedeutung die Rolle unterdrückter Literatur in der DDR in Literaturgeschichte, Medien und Öffentlichkeit. Eine Wiederaufführung der szenischen Lesung vom 19. Oktober 2022 ist nach Absprache mit dem Demokratischen Salon möglich, eine Aufführung mit anderen Akteur*innen mit Genehmigung des Demokratischen Salons machbar.
Die Veranstaltung vom 19. Oktober 2022 schloss an eine vorangegangene Veranstaltung vom 21. Januar 2021 an, ebenfalls mit Ines Geipel und Kerstin Stüssel, die unter dem Titel „Verfemte Literatur in der DDR“ dokumentiert wurde. Im Mittelpunkt beider Veranstaltungen standen folgende Fragen: Unter welchen Bedingungen schrieben Autorinnen und Autoren in einer Diktatur, welchen Schikanen waren sie ausgesetzt? Wie konnten sie sich behaupten? Was geschah, wenn ihre Werke vernichtet, sie selbst verhaftet, ins Exil oder in den Tod getrieben wurden? Wie überlebten Autor*innen in einer Diktatur, wie überleben sie und ihre Werke nach dem Fall der Diktatur? Welche Rolle spielte der Wissenschaftsbetrieb der Hochschulen, welche Rolle spielten Verlage und Kulturförderung und welche spielen sie heute? Gibt es Chancen für eine gesamtdeutsche Literaturgeschichte, erleben wir heute eine Renaissance oder eine Restauration?
Wer weitere Texte zum Thema lesen möchte, wird im Demokratischen Salon fündig. Ein vorangegangenes Gespräch mit Kerstin Stüssel wurde im Dezember 2020 veröffentlicht, ein Gespräch mit Ines Geipel im November 2020. Mehrere Essays stellen Autor*innen und Texte vor, zuletzt der Essay „Todeskälte des Blicks“, der im Titel einen Vers von Anna Achmatowa zitiert, außerdem im Januar 2021 der Essay „Die Qualen der Medea“ und im Dezember 2020 „Die Träume des Schmetterlings“. Von Interesse dürfte in diesem Kontext auch die Vorstellung der von Ulrich Mählert und Stefan Wolle kuratierten Ausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung „Leseland DDR“ vom Oktober 2022 sein.
Verhaftung
NR: Rolf-Günter Krolkiewicz wurde am 19. November 1955 in Erfurt geboren. Ausbildung zum Elektronikfacharbeiter, Schauspielstudium, Schauspieler am Hans-Otto-Theater in Potsdam, 1982 Austritt aus der SED. 1984 OV „Bühne“, im Juli 1984 Verhaftung, Urteil: ein Jahr und 6 Monate, Juli 1985 Abschiebung in die Bundesrepublik. Nach der Wende wieder tätig am Hans-Otto-Theater, 1997 – 2004 als Intendant. Er erkrankte an Parkinson, er starb am 5. Oktober 2008 in Phuket (Thailand).
IG: Das Urteil wurde gesprochen, bevor Anklage erhoben worden war. Die inoffiziellen Schnüffler ‚Ernst‘, ‚Rudi‘ und ‚Maria Zimmer‘ wurden in die Spur gesetzt. Am 5. Juli dann die heimliche Wohnungsdurchsuchung, bei der die Texte (‚selbstverfasste Machwerke‘) fotografiert, umgehend gelesen und bewertet wurden: Diskreditierung der Parteiführung, Herabwürdigung des Staatsapparates, Kritik an der planmäßigen Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Verunglimpfung sozialistischer Kulturfunktionäre und Diffamierung des 1. Vorsitzenden des Staates. Drei Tage später Rolf-Günter Krolkiewicz verhaftet, früh um halb zehn, und „dem Untersuchungsorgan zugeführt“. Beim Verhafteten Schock und die panische Angst, spurlos zu verschwinden. Es gelang ihm noch, einen Zettel an die Freundin zu schreiben:
RM: „Liebe Sylvia! Ich bin von der Stasi abgeholt! Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Sei bitte da!!!!!“
NR: 2. Juli 1984, IM-Auskunftsbericht: „Die bei der Lesung vorgetragenen Machwerke des Krolkiewicz mit negativ politischem Inhalt führen die Diskreditierung der Parteiführung und die Herabwürdigung des Staatsapparates herbei. Die inkriminierten Schriften werden sichergestellt. Krolkiewicz wird dem Untersuchungsorgan zugeführt“.
RM: ERINNERUNG EINS
An jenem Tag im Juli
Als sie in der Tür standen
Als sie ins Zimmer traten
Als sie mich links und rechts
Ein Dritter vorneweg
Über den Hof führten
An Briefkästen vorbei
In ihr Auto zerrten
Ging da niemand
Um neun in der Früh
Durch die Stadt
Mit geöffneten Augen
Anstaltsordnung
NR: Gabriele Stötzer-Kachold wurde am 14. April 1953 in Emleben geboren, Ausbildung als Medizinisch-Technische Assistentin, Abendschule, Studium der Germanistik und Kunsterziehung an der PH Erfurt. November 1976 Beteiligung an der Unterschriftenaktion gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, Observation durch das MfS, am 6. Januar 1977 Verhaftung, fünf Monate Untersuchungshaft, sieben Monate Haft in Hoheneck. Erste Texte, „Bewährung in der Produktion“, 1980 private Kunstgalerie, Auftrittsverbote, Ordnungsstrafen, Veröffentlichung in Samisdat-Zeitschriften wie „Mikado“ und „Ariadnefabrik“, Herbst 1989 Gründung der Initiative „Frauen für Veränderung“, 1990 des Erfurter Vereins „Kunsthaus“, 2013 Bundesverdienstkreuz.
IG: Sie erfuhr den tiefen Fall aus der Ordnung und begriff, wie in einer Diktatur auch der gutwillige Ansatz eines reformerischen Engagements gnadenlos kriminalisiert werden kann. Nicht nur die Freiheit wurde ihr genommen, sondern auch ihr Körper enteignet. Doch gerade dort erlebte sie die Kraft der anderen inhaftierten Frauen und zudem zunehmend auch ihre eigene. Sie hatte alles verloren und beschloss, nach der Haftentlassung konsequent mit dem Schreiben zu beginnen. Sie lehnte es ab, nach der Haft in die Bundesrepublik entlassen zu werden. Die Erfahrungen in Hoheneck prägten sie tief, das Trauma war zunächst der Kern ihrer auf sie selbst bezogenen ersten Texte, leuchtet aber immer wieder auch in den späteren Texten auf und findet sich konzentriert in dem 1984 geschriebenen „Das Andere nur angetan“. Es war ihr Gefängnisaufenthalt, der die künftige Autorin schuf.
PK: „Sie befand sich allein, in einem Rechteck von zweieinhalb mal dreieinhalb Metern. Das Fenster bestand aus zwei parallelen, sich überschneidenden Mattglasflächen. Sie stellte sich darunter, um hinauszublicken, aber sie konnte in keiner Verrenkung den Himmel sehen.“
„So hoch wie damals habe ich nie mehr gedacht. Alles Kleine wurde aus einem rausgeschwemmt.“
NR: Stasi-Chef Erich Mielke, Juli 1972: „Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt all jenen, von denen vielfältige Versuche ausgehen, die Linie und die Politik unserer Partei zu entstellen und zu verfälschen. Es darf auch in der Kunst kein Paktieren mit dem Gegner, mit gegnerischer Ideologie und Auffassungen zugelassen werden.“
PK: „Sie hatte gleich zu Anfang die Anstaltsordnung lesen und unterschreiben müssen, dass in der U-Haft weder gesungen, gerufen noch Kontakt mit anderen Inhaftierten aufgenommen werden durfte. / Nachts musste der Kopf unbedeckt sein und die Hände hatten sichtbar auf der Zudecke zu liegen. / Bei jedem Öffnen der Tür war es Pflicht, aufzustehen und sich zu melden.“
„Ich versuchte, die Klopfzeichen der anderen zu entschlüsseln. Es musste irgendein Code sein, mit dem sie sich verständigten. Ich zählte jedes Klopfen, versah es mit einer Zahl und schrieb sie mit Malzkaffee auf die Tischplatte.“
Innenleben
NR: Edeltraud Eckert wurde am 20. März 1930 im damaligen Hindenburg, vormals und heute auch wieder Zabrsze, geboren, 1941 Umzug nach „Litzmannstadt“ (Ƚódź), Flucht nach Brandenburg / Havel, Mitglied der FDJ, Abitur, Immatrikulation an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Mitglied einer jugendlichen Widerstandsgruppe, Verhaftung am 10. Mai 1950, verurteilt zu 25 Jahren Arbeitslager. Haft in Bautzen und Waldheim. Juli 1953 bis März 1954 Erlaubnis, ihre Gedichte und Kompositionen in ein Heft zu übertragen. Tuberkulose, 1954 Hoheneck, am 24. Januar 1955 Skalpierung bei einem Arbeitsunfall, keine medizinische Versorgung, Tod an Tetanus am 18. April 1955.
IG: Die 101 erhaltenen Gedichte von Edeltraud Eckert sind die Intensivexposition für ihr späteres Werk, stehen aber auch exemplarisch für Maß, Kreativität und Eigensinn einer verhinderten Schreibgeneration junger Stimmen in der frühen DDR. Nicht jeder Text war zur Gänze geformt, nicht jeder Stoff dicht und welthaltig, aber jeder Text setzte eine Gegenwelt. Die eigene Sprache als Existenzbeweis. Üblicherweise erhielten die Häftlinge in den Zuchthäusern der frühen DDR kein einziges Stück Papier. Stattdessen memorierten sie ihre Texte während der Haftzeit im Kopf. Die gefangene Kopfsprache als ortlose Schrift. Im März 1954 wurde die inzwischen 24jährige in die Strafanstalt Hoheneck verlegt, in das größte und mit hartem Regiment geführte Frauenzuchthaus der DDR. Schlechteste hygienische Bedingungen, stickige Enge in Schlafsälen mit 120 Gefangenen, sadistische Wärterinnen, harter Kommandoton, schwerste Arbeitsbedingungen für die Frauen.
NR: Strafvollzugsanstalt Waldheim, Sachsen, den 11. April 1951:
PK: „Ihr Lieben! Dank für Brief und Paket. Der Kuchen ein heimlicher Wunsch! Entweder immer Mohn oder öfter Geburtstag! Macht Euch um mich keine Sorgen. Ich gehe hier durch eine harte, aber gute Schule. Deshalb wird das Leben später bewusster und noch schöner. Man muss wohl erst Abstand von sich selbst und den Dingen gewonnen haben, um bereit zu sein für das, was einem bestimmt ist. Macht Euch als keine Sorgen, aber macht Euch auch keinerlei Hoffnungen, etwa auf meine Heimkehr. Ich glaube nur noch an das, was ich sehe. Rauchen werde ich nach wie vor, damit müsst Ihr Euch schon abfinden. Eine Zigarette schadet nichts, gibt aber einen ganzen Tag Freude. Eine gute Idee, mir fünf Bücklinge und Zitronen zu schicken. Euch allen wünsche ich den frohen Mut, den ich selber habe. Wie immer, ganz Eure Traudl.“
NR: Zuchthaus Waldheim, Anordnung für den Empfänger: „Untersuchungs- und Strafgefangene dürfen innerhalb von vier Wochen einmal Post erhalten, die in deutlicher Blockschrift geschrieben sein muss und nicht mehr als 15 Zeilen umfassen darf. Fotos, Bilder und dergleichen sind nicht beizulegen. Bei Nichtbeachtung der Anordnung wird Post nicht ausgehändigt.“
NR: Edeltraud Eckert, Zuchthaus Waldheim, Januar 1953:
PK: EIN BRIEF
Ich weiß nicht viel von mir zu sagen,
nur dass ich lebe, dass ich bin,
und alle Wünsche, die mich tragen,
sind im Verzicht ein Neubeginn.
Als ich euch damals lassen musste,
War ich beinahe noch ein Kind,
Das nichts von all den Tiefen wusste,
Die oft ein buntes Trugbild sind.
Die Menschen, die mich hier umgeben,
stehn grell geschminkt im kalten Licht,
das man das Schicksal nennt. Sie leben
Zumeist mit Masken vorm Gesicht.
So steh ich wartend unter Vielen.
Ich lache mit – und bin nicht froh.
Ich hör und seh mich selber spielen.
Mein Herz ist weit, ist anderswo.
Fluchtversuche
NR: Jutta Petzold (Pseudonym: Ruth Corduan) wurde am 22. Dezember 1933 in Berlin geboren, nach 1945 häufige Ortswechsel und Heimaufenthalte, Abitur 1953, Studium der Germanistik an der Humboldt-Universität Berlin, Abbruch des Studiums, 1957 erste literarische Arbeiten, 1955 Heirat mit Eberhard Hilscher. Sie schließt sich dem Schriftstellerkreis um Arnold Zweig an. 1961/1962 misslungener Fluchtversuch, sie entgeht nur knapp einer Verhaftung, Observierung durch die Staatssicherheit, Arbeit an längeren Prosatexten und Stücken, seit 1965 mehrfach Behandlung in einer psychiatrischen Klinik, Ende der literarischen Produktion, 1976 Scheidung, lebt seitdem in einem Seniorenheim in Berlin-Buch.
IG: Als Werner Kilz im Herbst 1961 die Flucht in den Westen gelang, zerbrach die Künstlergruppe um Kilz, Randow, Bereska, Kuffel, jenes womöglich lebenserhaltende Kreativnetz für Jutta Petzold. Nur Wochen später existierte auch ein Fluchtplan für sie, von Westberlin aus durch Ingeborg Bachmann und Sebastian Haffner vorbereitet. Doch der sorgsam vorbereitete Fluchtversuch missglückte. Nur um Haaresbreite entkam Jutta Petzold der Verhaftung. Ein Fehlschlag im Realen, den sie durch eine Flucht in den Text aufzufangen versuchte. 1964/65 arbeitete Jutta Petzold schließlich an einer etwa 100-seitigen Prosa, die mit den Mitteln der Selbstvertextung einen literarischen Suizid erzählt. „Die Verfolgung. Eine Krankengeschichte“ berichtet vom Tag des Mauerbaus, von Ostberlin am 13. August 1961: Eine Frau beobachtet jede Menge Militärautos, hört Stimmen und laute Kommandos. Sie sieht Polizisten die Straße entlangkommen, die Leute anhalten. Endpunkt der Erzählung ist die Aufnahme der Frau in die Psychiatrie. Ein Übergang, denkt sie ein weiteres Mal. Doch zwischen der Normalität der Psychiatrie und der Unnormalität der Welt, in der sie lebte, gibt es keinen Unterschied mehr. Die Struktur der Prosa wird solipsistisch, der Zugriff total:
PK: „Gepelltes Laub Kirchgenick. Solmitur versuch`s nur. Glaudiärwoitek Rückfall. Sormatik mesodratik. Muskulosamt verfremdeter Effekt. Stanislaus merowingsting Lapiszula todremtokwi halun. Ich kenne deine stille hoffnungslos verlorne Welt. Hatokdedei marbus o sei. Vilfosugen halb astor sehn Jutta ist schön. Mobile steh warneuch komitee. Kristall man sei. Kolnu okei.“
Außenseiter
NR: Eveline Kuffel wurde am 13. Januar 1935 in Hennigsdorf geboren. Entlassung des Vaters aus dem Stahlwerk wegen öffentlicher Kritik an der Parteiführung der SED, Flucht des Vaters nach Westberlin. Buntmetallschiebereien des Bruders, den Eveline Kuffel zweimal begleitet. 1951 Inhaftierung, Einweisung in einen Jugendwerkhof, 1953 Verurteilung wegen Wirtschaftsverfehlung, Lehre als Kartografin, Abbruch der Lehre, Arbeit als Bürohilfskraft, 1954 Immatrikulation an der Kunsthochschule Weißensee, Fachrichtung Plastik, 1958 Relegation, Arbeit in einer Lackiererei, als Kassiererin, 1960 Diplom, Heirat mit Thomas Heidolph, August 1961 Geburt des Sohnes Simon, 1963 Scheidung, Verlust des Sohnes, 1964 Texte, Portraitzeichnungen, Arbeit als Kellnerin, 1971 Unterzungenspeichelkrebs, Tod am 15. Januar 1978 durch Schwelbrand.
IG: Sicherlich war es Eveline Kuffels poetisches Realitätsprinzip, das die Veröffentlichung ihrer Texte in der DDR unmöglich machte, aber auch ihre unmissverständliche Lebenspolitik. Am 16. November 1967 eröffnete die Volkspolizei Prenzlauer Berg, Abteilung K, unter der Registriernummer B 417/67 wegen des „Verdachts der staatsgefährdenden Propaganda und Hetze sowie vermutlicher Verbindung zu verbrecherischen Organisationen oder Dienststellen, nach Paragraph 19 des StGB“ die Kriminalakte ‚Poeten‘ gegen sie. Die Kriminalakte gibt Auskunft über ihre unzweideutige politische Haltung, enthält Hinweise auf verlorengegangene literarische Versuche sowie über ihre Lebenssituation. Eveline Kuffel dürfte ab Mitte der sechziger Jahre keinerlei Illusionen mehr darüber gehabt haben, was sie als selbstständige Künstlerin in der DDR erwartete.
NR: 5. Juni 1968, IM-Auskunftsbericht: „Die Wohnung der Kuffel ist kaum eingerichtet. Meistens ist sie mit Hosen bekleidet. Sie wurde schon dabei beobachtet, dass sie in einer Gaststätte bei einem Glas Bier arbeitet. Kuffel raucht viel, meist Real. Die Genannte steht im dringenden Verdacht der Herstellung schriftlicher Hetze und der Verbreitung derselben im westlichen Ausland. Verletzte Rechtsgrundlage: Verdacht gemäß Paragraf 19 des STGB.“
RM: ZIGEUNERLIED
Weißt du, Mädchen,
was Liebe ist?
Dich liebt nicht der,
der dich küsst,
nicht der,
der dir Treue schwört,
nicht der,
der damals höflich deine Tasche trug.
Dich liebt der,
der deinen Eimer,
gefüllt mit Dünnschiss
Kotze und Pisse ohne Zaudern in die dreckige
Außentoilette kippt und die noch säubert.
Es ist der,
wenn du hungrig bist,
ein Stück aus seiner Lende schneidet, es brät
und lächelnd schaut,
wie es dir schmeckt.
Nicht der, der dich küsst Mädchen,
nicht der, der damals deine Tasche trug,
nicht der dir Treue schwört.
Der, der deinen Dreck aufs Scheißhaus trug
ohne Zaudern,
der dir nahm die blöde Scham,
der ist es Mädchen,
der dich liebt!
NR: Stasi-Chef Erich Mielke, Juli 1972: „Wir müssen grundsätzlich sehen, dass sich der ideologische Klärungsprozess unter Künstlern und Kulturschaffenden sehr differenziert vollzieht. In diesem Klärungsprozess scheidet sich in gewissem Maße die Spreu vom Weizen.“
NR: Jutta Petzold:
PK: „Am Tag zu schreiben und nachts zu bleiben. Fapis morun kandis was tun. Verlier den Otto, dein kleines Hotto. Umgib mit Schleiern die Sonderfeiern. Miskorwita o dulada. Sibirskonu falukitu. Misorbetrit o wegzogzit. Vergiss den Wald, dort ist es kalt. Umgib mit Mauern das stetige Trauern. Verlier den Kram, der mit dir kam.“
NR: Gabriele Stötzer:
PK: „Dieses Niederfallen, Zubodengehen, diese dunklen Felder meiner Biografie. Ich wollte an die Kunst glauben als außerstaatliche Lebensqualität.“
Hineingeworfen
NR: Radjo Monk, geboren wurde er am 17. Januar 1959 als Christian Heckel in Hainichen in Sachsen geboren. Ausbildung zum Facharbeiter für Holztechnik und Dekorationsbau an den Städtischen Bühnen Karl-Marx-Stadt, Theatertechniker, 1976 erste Texte, 1978 NVA, danach Zimmermann, Desinfekteur, Pförtner, Hausmeister, Museumsassistent, ab 1979 Überwachung, OV „Joker“, 1983 Verdacht auf Republikflucht, Das MfS verhindert das Studium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig. Ab 1988 freier Autor, seit 1990 Künstlername Radjo Monk, Reisen, Veröffentlichung, Film-Experimente, Installationen, Klangskulpturen, enge Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Edith Tar.
IG: „Hineingeboren“ wurde Rado Monk 1959 als Christian Heckel in Hainichen. Die Hineingeborenen empfanden ihr Dasein im Mauerstaat mit wachsendem Alter nicht selten als staatsbürgerliche Zwangsmitgliedschaft. Die frühen Achtziger waren in der DDR die Jahre, in denen viele der kreativen Jungen wie Christian Heckel ihre eigene Kultur betrieben, unter dem Dach der Kirche, in selbstvervielfältigten Zeitschriften, in kleinen Zirkeln Gleichgesinnter und Gleichfrustrierter. Allein das Aussteigen, das ja kein aktiver Widerstand war, galt bereits als „feindlich negativ“. Der erste Hieb ereilte den jungen Dichter, als er sich im Jahr 1983 nach Ungarn aufmachte und aus dem Zug heraus von DDR-Grenzern auf tschechischer Seite verhaftet wurde. Man unterstellte ihm Fluchtabsichten und begann die berüchtigten Dauerverhöre mit Drohungen und Verlockungen. Als er nicht gestand, was er nicht geplant hatte, stand er, zurückgeschickt nach Hause, frühmorgens auf dem Bahnhof in Bad Schandau und sah die Welt, in die er hineingeboren war.
RM und PK im Wechsel:
ich bin gut | ich bin böse |
ich bin das Gute überhaupt | ich bin das Böse überhaupt |
ich bin das wirklich Gute | ich bin das wirklich Böse |
ich bin das absolut Gute | ich bin das absolut Böse |
ich bin großzügig | ich bin kleinlich |
ich bin gütig | ich bin abweisend |
ich bin geduldig | ich bin zwanghaft |
ich bin tolerant | ich bin selbstsüchtig |
ich bin zärtlich | ich bin brutal |
ich bin warm | ich bin kalt |
ich muntere auf | ich mache mies |
ich bin wie die Liebe | ich bin wie der Hass |
ich bin der Gipfel | ich bin der Abgrund |
ich esse und trinke | ich hungere und durste |
ich atme und küsse | ich ersticke und beiße |
ich erwecke | ich vollstrecke |
ich will dich anschauen | ich will dich durchschauen |
ich will dich fühlen | ich will dich verführen |
ich will dich befreien | ich will dich besitzen |
NR: Jutta Petzold:
PK: „Oft, wenn sie die Dicke der Mauern betrachtete, dachte sie: „Das kann doch nicht wahr sein.““
PK: „Später erzählten ihr andere Gefangene, dass die Behaarung durch ein spezielles Mittel hervorgerufen würde, das dem Gefangenenkaffee zugesetzt sei. Sie nannten es Hängulin.“
PK: DER SINN
Das Wasser fließt,
Die Wolken ziehen,
Der Wind weht,
Das Licht leuchtet,
Die Leiber pulsen,
Die Bäume grünen,
Die Kinder spielen,
Die Ärzte heilen,
Weinen und eilen!
Fragmente
NR: Thomas Körner wurde am 3. November 1942 in Breslau geboren, 1945 Flucht nach Sachsen, aufgewachsen bei Dresden, 1961 Studium in Berlin, drei Semester Medizin, acht Semester Jura, experimentelle Gedichte, Stücke und Prosa, Arbeit als Krankenpfleger, Fensterputzer, Richterassistent und als Librettist für Paul Dessau. Seit 1970 Arbeit am neunteiligen Fragmentroman „Das Land aller Übel“, 1980 Flucht in die Bundesrepublik, 1985 bis 1988 Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, seit dieser Zeit Arbeit als Übersetzer, Bearbeiter und Autor für das Musiktheater, Librettist und Dramaturg. Von seinem Fragmentroman wurde ein Teil mit dem Titel „Das Grab des Novalis – Dramatisierter Essay“ im Jahr 2007 in „Die Verschwiegene Bibliothek“ veröffentlicht.
IG: Körners Fragment-Roman ‚Das Land aller Übel‘ ist das lange und gründlich geplante und über Jahrzehnte konsequent ausgeführte Projekt, in das Innere einer Ideologie vorzustoßen, die das 20. Jahrhundert so wesentlich geprägt hat. Diesen glühenden Kern, der über Jahrzehnte das Leben von Millionen Menschen beherrscht und epochale Illusionen sowie gigantische Verbrechen hervorgebracht hat, mit allen Mitteln der Kunst aufzubrechen und in seine Teile zu zerlegen. Der Gegenstand ist ernst, zu ernst, als dass er ohne satirischen Zugriff zu bewältigen wäre, und so sieht man hinter dem klar strukturierten Konzept dieser literarischen Generalinventur einer heillosen Heilsversprechung die Konturen von Petronius, Rabelais, Grimmelshausen.
NR: Thomas Körner, Zwei Porträts – eine Stimme
RM und PK im Wechsel:
B: hm
A: ja
B. warum
A: ach
B: du
A: und ich
B: dachte einer
A: von ihnen
B: leidest du
A: neuerdings
B: na
ICH BIN FROH (zusammen)
B: dass ich dich getroffen habe
A: ich muss
B: mit dir reden
A: es geht
B: um
A: die schichtauslastung
B: bei uns
B: junge
A: das ist ein ding
B: die machen uns
A: schwierigkeiten
B: mensch
A: ich
B: sage
A: dir
B: probleme
A: lauter
B: probleme
A: das wird
B: allerhöchsteeisenbahn
A: dassdamalvonobenruntereinereinmachtwortspricht
A: ich weiß nicht
B: harry aber
A: wir
B: haben
A: nun
B: die neuen schlitten
A: oder
B: nicht
WIR HABEN SIE (zusammen)
A: und jetzt
B: stehen
A: sie
B: acht stunden
B: ja
A: bitte
B: hier
A: sind sie
B: konkret
A: ausgearbeitet
B: hiebundstichfest
A: aber
B: wer
A: weiß
B: welches
A: es
B: ist
A: dann gib her
B: da
A: siehst du
B: da
A: Onkel Harry
B: richtig
A: täglich
B: und länger
A: was sagst du
B: aber
A: ist das denn möglich
B: es ist
A: so
B: und
A: ich
B: sage
A: keine sechzig
B: prozent also
A: das ist
B: mir unerklärlich
A: es wurde
B: lang
A: und breit
B: darüber
A: geredet
B: ja
UND ES KAMEN VERNÜNFTIGE VORSCHLÄGE (zusammen)
A: von uns
A: gedacht
B: nein
A: es geht
B: ja
A: nicht mehr
B: du musst
A: selbst
B: nein
A: besser du
B: geh
A: gleich
B: zu queck
A: damit
B: damit
NR: Thomas Körner
RM: „Sie fragte sich, ob Krieg und Knast das gleiche seien. Weil man in beides ging, um für etwas zu kämpfen und wenn man zurückkam, war einem eine Schuld in den Körper hineingewachsen, über die man nie richtig würde reden können, die man nie wieder loswurde.“
Zersetzung
NR: Günter Ullmann wurde am 4. August 1946 in Greiz geboren. Abitur und Facharbeiterbrief als Maurer in Gera, 1965 Gründung der Band Yellow Birds, 1965 Auftrittsverbot wegen „sozialismusfremden, englischen Gesangs“. 1965 Bekanntschaft mit Ibrahim Böhme. Komponist, Texter, Maler, Dienst in der NVA, 1968 Verhaftung wegen Solidaritätsbekundung mit dem Prager Frühling, 1969 Heirat, Studium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ wurde abgelehnt. 1977 massive Verhöre durch die Staatssicherheit wegen Protestschreiben zur Ausbürgerung Biermanns und Kunzes, Suidzidversuche, psychiatrische Behandlung, 1990 Arbeit im Kulturamt und im Heimatmuseum Greiz, 2004 Ehrung durch die Deutsche Schillerstiftung Weimar. Er starb am 9. Mai 2009 in Greiz.
IG: 1965 war auch Manfred, später Ibrahim, Böhme nach Greiz gekommen und wurde über Nacht zum Motor des Kulturlebens der Stadt. Ein Mann der großen Inszenierungen. Durch ihn wurden die Diskussionen im Kreis intensiver, die Texte welthaltiger, die Nächte kürzer. Tolstoi und Dostojewski, Solschenizyn und Freud, Religion und Utopie, Kafka und Rilke, seine Idee von der Palastrevolution. Dann das Jahr 1968. Ein Protest, für den Günter Ullmann für Stunden vom Tanzsaal weg verhaftet wurde. Der umtriebige Ibrahim Böhme, bald Kreissekretär des Kulturbundes, später Komet an der Spitze der Ost-SPD und beinah erster ostdeutscher Ministerpräsident nach 1989, kommunizierte, inspirierte, organisierte, zelebrierte, förderte. Jede seiner Veranstaltungen geriet ihm zum Spektakel. Lokale Parteigrößen spielte er mit erfundenen Lenin-Zitaten an die Wand. Bei Reiner Kunze ging er ein und aus. Er brachte die Wachen und Aufsässigen der Stadt zusammen, um sie im selben Atemzug zu bespitzeln und zu verraten. Günter Ullmann, der davon ausgehen musste, dass der Geheimdienst sein Innerstes kannte, begann damit, aus Zeitungen Gesichter auszuschneiden, die denen seiner Freunde ähnelten – für ihn ein Menetekel des Verrats. Er zerschnitt imKeller seines Hauses Drähte – für ihn Abhöreinrichtungen. Er ließ sich alle Zähne ziehen – für ihn implantierte Wanzen.“
RM: JAHRE SIND STAUB
jeder tag ist ein
messer
am kind
NR: 7. März 1976: „Durch den IM „Paul Bonkarz“ wurde bekannt, dass Ullmann Verhaltensweisen zeigt, die vergleichbar sind mit einem Verfolgungswahn durch die Stasi, eine Selbstüberschätzung seiner literarischen Fähigkeiten und einem ungesunden Misstrauen gegenüber Freunden und Bekannten.“
- Oktober 1979: „Zu erreichen ist die psychische Destabilisierung der feindlich-negativen Person Ullmann. Ziel der Zersetzung ist Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung.“
- Dezember 1989: „Der feindlich-negative Stützpunkt ist liquidiert.“
NR: Günter Ullmann
RM: KINDHEIT
die brotsuppe auf dem tisch
die kirschen hinterm zaun
die welt ein fisch
das herz ein clown
RM: HINTERHOF
der winter bleibt
klein
die sonne hat
vier ecken
NR: Gabriele Stötzer:
PK: „Die Anstaltskleidung: ein graues Kostüm, drei graue Blusen, einen grauen Pullover, einen grauen Kleiderrock, ein paar Schuhe, Fünf mal Unterwäsche, zwei BH, einen Strumpfhaltergürtel, Strümpfe, zwei Nachthemden. Für Herbst und Winter gab es einen dicken grauen Mantel, ein paar graue Handschuhe, einen grauen Schal und ein graues Kopftuch.“
Rote Striche auf der weißen Haut
Löcher in Armen und Brüsten
Zernarbte Bäuche
Das Schlucken von Löffeln
Durch die Scheibe gehen
Die Versuche, sich die Adern aufzuschneiden, wurden Schnippeln genannt.
NR: Stasi-Schulungsmaterial: „Bewährte Mittel und Methoden der Zersetzung sind: Telefonanrufe, kompromittierende Fotos, z. B. von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen, die gezielte Verbreitung von Gerüchten, gezielte Indiskretionen, systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge, Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive, Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung.“
NR: Jutta Petzold:
PK: ENTRÜMPELER
Die Winde, sie küssen und rauschen
Die Schwäne auf tauiger Flut.
Die Mauern, sie können nicht tauschen.
Der Himmel ist manchmal auch gut.
Er bringt uns die Stürme und Schliefen
Und jagt unser schwankendes Schiff.
Die Wolken, die Lider, die schiefen,
Wir sichten das kommende Riff.
Hei Steuermann, Ho! Auf die Wanten!
Solange der Mast nicht zerbricht.
Und klettern wir auch in den Spanten,
solange uns leuchtet das Licht.
Dialoge der Wahrheit
NR: Heidemarie Härtl wurde am 22. Dezember 1943 in Oelsnitz geboren, Vater NVA-Offizier, viele Umzüge, Abitur, Facharbeiterlehre für Wasserbau, Studium für Bauwesen in Dresden, 1967 bis 1970 Studium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Begegnung mit Gert Neumann, 1969 Geburt des Sohnes Holden. 1970 Exmatrikulation wegen „provokatorischer Ansichten zur Literatur“. Arbeit als Stanzerin, Korrektorin in der Blindenbücherei in Leipzig, 1973 bis 1975 Zirkelleiterin der „Schreibenden Pioniere“ im Haus der Jungen Pioniere. 1977 einzige Veröffentlichung: „Ach, ich zog den blauen Anzug an“. Mitarbeit an der Samisdat-Zeitschrift „Anschlag“, 1987 Lesereise mit Gert Neumann in die Bundesrepublik, Rückkehr in die DDR alleine, Herbst 1989 Begegnung mit Ibrahim Böhme, 1991 Scheidung. Nach Offenlegung der Stasi-Vergangenheit Ibrahim Böhmes Einlieferung in die Psychiatrie, ab 1991 Unterricht von kreativem Schreiben. Sie starb am 23. November 1993 in Leipzig.
IG: Heidemarie Härtl fand durch die zwanzig Jahre dauernde, intensive, ja symbiotische Bindung mit Gert Neumann zu ihrer Literatur und zu einer klaren Haltung gegenüber der Diktatur der in Dienst genommenen Wörter. Schreiben und Liebe als ein intimer Rückzugsraum, als Enklave im empfundenen Nichts, als Experiment in gelebter Zweiheit. Ihnen war alles Literatur: das Schreiben existentiell, die langen Gespräche über ein gemeinsames tragfähiges Schreibkonzept, ihren „Wahrheitsdialog“, wie sie das nannten, das Hereinholen der Weltliteratur und der Moderne in das karge Sprachterritorium DDR, das Etablieren der Poesie als Überlebensraum, das Anknüpfen an die gekappten Traditionen autonomen und sprachkritischen Schreibens vor den beiden deutschen Diktaturen, die Verteidigung ihres Denkens und Schreibens, ihrer sich immer klarer konturierenden eigenständigen Sprache, auch ihrer Liebe und ihres gemeinsamen Kindes gegen die mannigfaltigen Nachstellungen des gewalttägigen Staates. Ihr Credo: die poetische Würde des Lebens, eine „Poetik des Widerstandes“, gegen die Diktatur der sogenannten schwarzen Wörter, von Wörtern wie Observation, Ideologie, Macht, Zensur.
NR: 21. Januar 1975, IM-Auskunftsbericht: „Die Verunsicherung der Verdächtigten Härtl zeigte sich auch im Zusammenhang mit einer Maßnahme unserer Diensteinheit in ihrem Wohnobjekt. Dazu wurden alle Bewohner des Hauses unter einer Legende außerhalb des Objektes gebunden. Zu einer Dekonspiration der Maßnahme kam es nicht. Die Verdächtigte stellte jedoch Mutmaßungen darüber an, ob die Häufung bestimmter Geschehnisse an diesem Tag Zufall war oder nicht.“
NR: Heidemarie Härtl:
PK: „Die Form des Tages gibt zu wenig her. Ich verlange Transzendenz. Ich bin nicht inspiriert. Ich trinke Kaffee und hoffe. Das ist es. Ich muss nachdenken. Ich brauche Zeit.“
NR: 30. März 1976, IM-Auskunftsbericht: „Inoffiziell wurde bekannt, dass die Härtl geheime Lesungen organisiert und durchführt. Wo finden diese Lesungen statt? Wer nimmt daran teil? Welchen Inhalt haben sie? Wer hat Kenntnis davon? Wo kann Beweismaterial liegen? Welche IMs sind da, um Beziehungen zu Härtl aufzubauen?“
NR: Heidemarie Härtl:
PK: „Sie fasste alle Empfindungen des Tages zusammen: eine gelbbraune Sonne, ein Lüftchen, ein Gesprächsfetzen. Mehr wünscht man sich doch nicht. Menschen mit Wimpern und gewölbten Fingernägeln, mit Haut wie der eigenen. Menschen, die in der Lage sind, das zu sehen – die Härchen auf den Armen zum Beispiel.“
NR: 12. Dezember 1969, Gutachten des Leipziger Literaturinstituts „Johannes R. Becher“: „Die Prosa der Härtl ist mit der Kulturpolitik der DDR nicht zu vereinbaren und von einer agnostizistisch, ideologisch-ästhetischen Position geprägt. Ihr Schreiben verfälscht den Menschen, ist einschichtig, undifferenziert und nicht entwicklungsfähig.“
Stille
NR: Ralf-Günter Krolkiewicz, Mein Taubentraum:
PK: „Das ist Karl. Karl schweigt. Seit zehn Jahren ungefähr. Manchmal in der Nacht spricht er im Schlaf. Da erwach ich sofort, bin gleich hellwach. Aber ich versteh nix. Er murmelt nur undeutlich, wälzt sich, als kämpfe er, als verteidige er sich gegen etwas, das ihm Angst macht. Gestern hab ich ihn so genommen, an den Schultern, hab ihn geschüttelt, ihn angebrüllt: Rede du, schweig mich nicht noch länger an! Das hält ja keine Sau aus. Ich hab dir doch nichts getan. Doch er, sitzt wie tot auf dem Sofa, immer auf derselben Stelle, ein Kissen unterm Hintern. Geht nicht aus dem Haus. Steht um sechs Uhr in der Früh auf, raucht eine, trinkt Kaffee. Um acht ein Marmeladenbrot und noch einen Topp Kaffee, die nächste Zigarette. Um halb zwölf will er Mittag. Einmal hab ich einfach nix gekocht. Wollt sehn, was er tut, wie er reagiert. Vielleicht sagt er ja was. Nein. Er hat den Aschenbecher nach mir geworfen, den vollen. Oft sieht er mich tagelang nicht einmal an. Das ist Terror. Schweigen und Nichtansehn. Zum Mittag halb zwölf will er sein Bier. Nach dem Essen raucht Karl. Dann machen wir den Fernseher an, wenn was kommt. Meistens kommt ja nix. Feiertags und sonntags kommen immer alte Filme. Die haben wir beide gern. Abendbrot um halb sechs. Dann noch zwei Zigaretten. Das ist alles. So leben wir, und so sterben wir, wenn’s an der Zeit ist. Die Luft wird dünn. Die ernsten Jahre liegen hinter uns, dachten wir mal. Nun kommen die heiteren. Die Kinder sind aus dem Haus. Er hat sich drauf gefreut, hat immer geschwärmt, alt zu werden mit mir. Das ist nicht so leicht, wies aussieht. Alte Bilder sieht er sich noch immer gern an, manchmal sehr, sehr lang. Er sitzt und hält sie, und ganz langsam, zuerst bemerkt man es kaum, beginnt die Hand, die das Photo hält, zu zittern. Am Ende so heftig, dass er das Bild weglegt. Er hält mir die Hand hin. Ich denk, ich soll sie streicheln. Doch er will ein Taschentuch, um sich die Augen zu wischen. Obwohl ich mich dann zumeist ärger, dass ich den alten Schafskopp immer bedienen soll, wein ich jedesmal mit. Ich hab ihn oft gefragt, was ihm durch den Kopf geht beim Photoschaun. Ja, fragen kann ich ihn schon. Ich bekomm nur nie eine Antwort. Nicht wahr, Karli? Hat große Kinder, große Enkel, die manches gern besprechen würden, mit ihrem Vater und Großvater, bevors den nicht mehr gibt, weil er Fünfundsiebzig wird, kommenden Dezember, und bald sterben könnt, in dem Alter. Hast du darüber mal nachgedacht, du, mit deinem Eselskopp? Der Enkel fragt nach deinen Ideen? Warum sie zugrunde gehen? Da ist dein Schweigen mit einem Mal klug. Kommst nämlich um ehrliche Antworten herum, die du verabscheust wie der Papst das Bordell. Was hättstn dem gesagt, dem Enkel? Ich habs für dich getan. Ich hätt geschrien an deiner Stelle, hätt ich die Antworten gehört, die ich dem Enkel gab. Dass das nicht deine Idee waren, denen du nachgelaufen bist, dein Leben lang. Dass dein Leben ein einziger Irrtum war, und dass du nur deshalb schweigst, um das nicht zugeben zu müssen. Und was ich dem Enkel nicht sagen wollte, dir sag ich’s jetzt, da dein Weg auch meiner ist, deine Irrtümer auch meine: Dass ich gern mit dir drüber reden würde. Ich bin eine alte Frau, ich darf das erzählen, dass Karl mal ein ganz Wilder war. Er wollt gleich am ersten Abend. Hat mir immer am Kleid genestelt. Aber ich wollt tanzen. Er kam frisch von irgendeiner Schulung. War ganz ausgehungert nach Frauen. Aber ich hab mich im letzten Moment rausgewunden, hab ihm gesagt, ich sei unpässlich. Da wollt er mich mit der Zunge. Das liebe er vor allem. Also noch vor Marx und Engels. Hab ich ihm paar gescheuert. Aber nur weil’s mir peinlich war vor den andern, die das gehört haben, dass er mein Blut lecken wollt. So war mein Karl. Dreist und frech, ein hoffnungsvoller Kader. Aber geendet hats, als unser Sohn vierundachtzig ins Gefängnis musste. Sonst wärs immer höher hinaufgegangen. Karl war der Liebling der Partei. Das war er dann auf einmal nicht mehr, obwohl er sich distanziert hat, von Robert seinem Sohn. Wir haben uns losgesagt von diesem Kind, das so aus der Art schlug, Spottverse zu dichten auf das, was uns heilig war. Im Ernst! Sie lachen. Ich tu ihnen leid. Die Alte ist ja von vorgestern. Bin ich vielleicht. Aber vorgestern war auch ein Tag. Und jetzt red Karli, fang vorsichtig an, mit meinem Namen. Ich will noch einmal in diesem Leben hören, wie mein Name klingt, wenn du ihn aussprichst. Ich will, dass du redest Mann, dass du`s Maul aufmachst wie früher. Beschimpfen könntst du mich. Drecksau, Schlampe, mir doch egal. Ich machs Fenster auf, breite die Arme aus und flieg wie ne Taube durch den schmutzigen Himmel. Ich flieg und flieg, bis ich über die Wälder komm. Und bevor ich überleg, wo ich hinwill, bin ich wach, sehe Karli an, wie der schläft. Sieht so unglücklich aus. Wenn man nur wüsst, was hinter so einer Stirn vor sich geht. Man müsste das aufmeißeln können, da oben. Besser wär ne Schrift wie am Kino, die draußen anzeigt, was drinnen los ist. Vorausgesetzt die Dinger sind auf Wahrheit gestellt und nicht zu beeinflussen. Siehste Karl, dann kauft ich jede Woche neue Batterien für deine Leuchtschrift, und alles wär in Ordnung mit uns. Aber bis das erfunden ist, gibts uns beide nicht mehr. Bis dahin müssen wir uns mit Reden behelfen. Aber du schweigst Karl. Und deshalb geh ich jetzt hinaus aus deinem Schweigetod, ins Wörterleben. Kann ja weghörn, wenns mir zuviel wird, aber das glaub ich nicht. Ich werd das trinken wie süßen Schnaps. Und wenn ich Lust hab auf Schweigen und Stille komm ich dich besuchen. Hörst du, Karli?“
Biogramme der Beteiligten
Petra Kalkutschke (*1961 in Lauchhammer / Brandenburg) ist Bühnen-, Film und TV-Schauspielerin. Ihre Ausbildung absolvierte sie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Ostberlin. Von 1983 bis 1986 war sie fest engagiert am Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt und zog dann nach Westdeutschland. Von 1991 bis 2003 war sie festes Ensemblemitglied am Schauspiel Bonn und war hier in zahlreichen Rollen zu erleben. Seitdem arbeitet sie frei an diversen freien und städtischen Bühnen in ganz Deutschland. Außerdem ist sie regelmäßig in TV-Serien und in Kinospielfilmen zu sehen. In dem Film „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ in der Regie von Dominik Graf, der im Sommer 2021 bei der Berlinale uraufgeführt wurde, spielte sie eine Hauptrolle als Fabians Mutter. Kalkutschke ist außerdem häufig bei musikalischen Lesungen zu Gast, u.a. in einer eigenen Reihe im Bonner Kulturzentrum Brotfabrik.
Rolf Mautz (*1946 in Bad Godesberg) ist neben einigen TV-Arbeiten überwiegend Bühnenschauspieler. Seine Ausbildung absolvierte er an der Schauspielschule Bochum und war danach u.a. in Köln, Frankfurt, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Berliner Schaubühne, am Schillertheater und am Staatstheater Darmstadt engagiert. Er arbeitete mit zahlreichen bekannten Regisseuren wie Luc Bondy und Peter Stein und berühmten Schauspielern wie Bruno Ganz, Ulrich Wildgruber und Burghart Klaußner zusammen. Von 1992 bis 2003 war er Ensemblemitglied am Theater Oberhausen und wechselte dann mit dem Intendanten Klaus Weise nach Bonn, wo er bis 2013 zum Ensemble gehörte. Zum Abschied erhielt er den Thespis-Preis der Freunde der Kammerspiele Bad Godesberg. Danach gastierte er u.a. am Stadttheater Klagenfurt, am Vorarlberger Theater Bregenz und am Burgtheater Wien. 2001 schrieb Sibylle Berg für ihn das Drama „Herr Mautz“, das mit ihm in der Titelrolle in Oberhausen uraufgeführt und in Bonn wiederaufgenommen wurde. Rolf Mautz ist also einer der raren Schauspieler, die zu Lebzeiten bereits eine Bühnenfigur wurden. 2021 veröffentlichte er seine Autobiografie unter dem Titel „Vor der Hacke ist es immer dunkel“.
Kerstin Stüssel (*1962 in Bielefeld) ist seit 2010 Professorin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Sie ist Expertin für deutschsprachige Gegenwartsliteratur und eine Grenzgängerin zwischen Ost und West, manchmal auch zwischen Literatur und Politik. Im Jahr 2020 ist der von ihr gemeinsam mit Johannes F. Lehmann herausgegebene Band „Gegenwart denken. Diskurse, Medien, Praktiken“ (Düsseldorf, Wehrhahn Verlag) erschienen. Ihre Habilitationsschrift trug den Titel „In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart“ (Tübingen: Niemeyer 2004). Sie lebt in Bonn und in Dresden. Im Demokratischen Salon finden Sie ein Interview mit ihr unter dem einfachen Titel „Gegenwartsliteratur“.
Ines Geipel (*1960 in Dresden) studierte in Jena Literaturwissenschaften und flüchtete 1989 in die Bundesrepublik. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Publizistin und ist seit 2001 Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Mit Joachim Walter sel.A. baute sie das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ auf, das in der Bundesstiftung Aufarbeitung zu finden ist. In „Die Verschwiegene Bibliothek“ veröffentlichten Sie Texte von 10 Autor*innen. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die von Ines Geipel geschriebene Biografie von Inge Müller, ihr Buch „Die Welt ist eine Schachtel“, „Zensiert, verschwiegen vergessen“ und gemeinsam mit Joachim Walther „Gesperrte Ablage“, das im Jahr 2022 neu aufgelegt wird. Lesenswert sind auch ihre gleichermaßen historischen und zeitkritischen Bücher „Generation Mauer“, „Umkämpfte Zone“ und im Jahr 2022 „Schöner neuer Himmel“. Im Demokratischen Salon finden Sie Rezensionen ihrer Bücher, ein Interview mit dem Titel „Die dritte Literatur des Ostens“ und mehrere Essays zu den in „Die Verschwiegene Bibliothek“ veröffentlichten Autor*innen, zuletzt unter dem Titel „Todeskälte des Blicks“.
Textnachweise und Rechte
Die Rechte aller Texte liegen bei Ines Geipel beziehungsweise bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die von Ines Geipel vorgetragenen Texte sind nachlesbar in „Gesperrte Ablage“ (eine Neuauflage erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2023). Sie wurden für die Lesung von Ines Geipel leicht angepasst, sie hat auch die Textauswahl vorgenommen. Die Biogramme der Autor*innen wurden weitgehend „Gesperrte Ablage“ entnommen und von Norbert Reichel bearbeitet. Die Biogramme von Petra Kalkutsche und Rolf Mautz verfasste Elisabeth Einecke-Klövekorn, Vorsitzende der Theatergemeinde Bonn, die Biogramme von Ines Geipel und Kerstin Stüssel sowie die moderierenden Teile dieser Dokumentation Norbert Reichel.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im November 2022.)