This Land is (y)our Land

Ein Gespräch mit dem Radiojournalisten Michael Kleff über Politik in der Musik

„Der Swing als Welthaltung. Nicht die preußischen Achtelnoten, nein, es gab eine Hinwendung zu übergebundenen Triolen, die eine neue Dimension in das rhythmische Gefüge einzubringen imstande waren. Das war sexy. Sexy war auch die Gitarre. Es entstand eine globalisierte Jugendkultur, verwurzelt im Blues der Sklaven Amerikas und aus den Neuansätzen der Folkbewegung vor allem durch Woody Guthrie. Ein kultureller Aufbruch (….).“ (Hans-Eckardt Wenzel in seinem Vorwort zu dem von ihm gemeinsam mit Michael Kleff herausgegebenen Buch „Kein Land in Sicht – Gespräche mit Liedermachern und Kabarettisten der DDR, Berlin, Ch. Links Verlag, 2019)

Hans-Eckardt Wenzel, der sich bei seinen Auftritten einfach „Wenzel“ nennt, hat in seinem Vorwort zu den von Michael Kleff geführten Interviews, die alle kurz nach dem Mauerfall, der Wende, stattfanden, emphatisch die Macht der Musik, die Macht der Liedermacher beschrieben. Lieder sind Seismographen politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen: „In den Liedern lasen sich mit archäologischem Blick, ähnlich dem in die Erdschichten, die Indizien des wirklichen Lebens auffinden, in ihren Variationen oder Veränderungen des Gestus, in ihrer Kraft zur Verführung, denn sie begleiten den Menschen atemnah vom ersten bis zum letzten Ton auf seinem Weg.“ So auch die Lieder der Liedermacher:innen in der DDR. Diese begannen mit der von einem kanadischen Kommunisten inspirierten Hootenanny-Bewegung, konnten von der FDJ trotz aller Bemühungen nicht vereinnahmt werden und bewirkten in den 1980er Jahren die Aufbruchstimmung, die letztlich zum Fall der Mauer führte. Wenzel benennt explizit die Wirkung der US-amerikanischen Musikszene, auch in der DDR.

Michael Kleff und Nora Guthrie. Foto: Richard Limbert. Im Hintergrund ein Plakat eines Auftritts von Pete Seeger im Tschechow-Theater auf der Krim 1964, organisiert vom Kulturministerium der Ukraine.

Der Radiojournalist, Autor und ehemalige Chefredakteur des Magazins „Folker“ Michael Kleff ist einer der profiliertesten Chronisten dieser „globalisierten Jugendkultur“, die nicht nur in der DDR wirkte. Er wird jetzt sein umfangreiches Archiv journalistischer Arbeit, die Michael-Kleff-Research-Collection (MKRC), Dokumente aus 35 Jahren journalistischer Arbeit, der Lippmann+Rau-Stiftung in Eisenach übergeben (Stand zum Zeitpunkt des Interviews, siehe Aktualisierung im Nachtrag). Im MKRC-Audioarchiv finden sich rund 2.000 zwischen 1983 und 2021 entstandene Tondokumente, Interviews, Rundfunksendungen und Rundfunkbeiträge.

Michael Kleff ist mit Nora Guthrie, der Tochter von Woody Guthrie, verheiratet. Er lebt in Bonn und in Mount Kisco (New York).

Die Michael-Kleff-Research-Collection

Norbert Reichel: Deine Sammlung zeigt, dass und wie Musik, Kultur, Gesellschaft und Politik untrennbar miteinander verbunden sind. Ein Schatz für unser kollektives demokratisches Gedächtnis.

Michael Kleff: So habe ich mir das gedacht. In den letzten Jahren habe ich mich hauptsächlich damit beschäftigt, das Archiv zugänglich zu machen. Alles wurde digitalisiert, es gab 40 Archivkisten, die professionell aufgearbeitet werden mussten. Ich habe mit Tiffany Collanino zusammengearbeitet, die das Woody-Guthrie-Archiv mit aufgebaut hat. Ich selbst hätte nicht gewusst, was ich tun sollte. Als wir angefangen haben, kam sie bei mir vorbei und sah all die schönen grünen, blauen, gelben IKEA-Ordner. Davon hatte ich etwa 70 oder 80 im Heizungskeller stehen. Sie sah hinein und sagte, bevor wir über irgendetwas reden, holen wir die alle erst einmal aus diesem Raum heraus. Das werde ich nie vergessen (lacht). Das musste alles erst einmal gesichert werden, bevor wir uns darüber unterhielten. Metall raus, Plastik raus, weg mit den Folien.

Mir ging es darum, dass 35 Jahre meiner journalistischen Arbeit für Leute zugänglich sind, die an solchen Themen arbeiten. Da sind 40 oder 50 Stunden Interviews mit Pete Seeger dabei. Die sind sicherlich nicht alle gleich gut. Ähnlich ist es mit anderen Musikern, mit Konstantin Wecker, Hannes Wader, die ich alle interviewt habe, immer mit dem Blick auf Politik. Viele Interviews wurden auch schon transkribiert.

Ein Teil der Sammlung ist auch die Harold Leventhal Collection. 1963 produzierte Harold Leventhal (1919-2005) das erste Konzert von Bob Dylan in der New Yorker Town Hall. Zu den von ihm präsentierten Künstlern gehören zum Beispiel auch Nana Mouskouri und Jacques Brel. Die acht Archivboxen enthalten Dokumente aus den Jahren 1949 bis 2003, darunter Manuskriptfragmente einer Autobiografie, Briefwechsel (unter anderem mit Marlene Dietrich), Fotos, Konzertflyer und Konzertplakate.

Die offizielle Übergabe der Sammlung soll im Frühjahr 2025 im Rahmen einer Konferenz mit dem Arbeitstitel „Von der Macht des Gesangs – Auf den Spuren von Liedern in der Geschichte“ erfolgen. Ich bin froh, dass die Lippmann+Rau-Stiftung mein Archiv übernommen hat. So gibt es in Eisenach einen Ort, zu dem man fahren kann, um das Archiv zu nutzen. Das ist eine ganze Menge Material für jemanden, der sich für eine bestimmte Phase politischer Geschichte interessiert, für den Journalismus, für die Wissenschaft, für alle, die sich für Musik und Politik interessieren.

Norbert Reichel: Ihr hattet vor der offiziellen Übergabe auch besprochen, wie ihr die Sammlung zukünftig in der Öffentlichkeit platziert.

Michael Kleff: Mit Lippmann+Rau habe ich besprochen, dass es nach der offiziellen Übergabe eine Konferenz geben sollte. Es soll um die Frage gehen, was ist ein politisches Lied, was soll es tun, was kann es, was soll es nicht? Aber auch die Frage, welche Rolle spielen analoge Archive in einer digitalen Zeit? Ein ganz wichtiges Thema! Manchmal hat man den Eindruck, dass die Dinge, wenn sie nicht im Internet zu finden sind, nicht existieren. Das ist natürlich falsch. Tiffany, meine Archivarin, hat immer wieder geschaut, was es von meinen Sachen im Internet noch gibt. Da gab es zum Beispiel das ein oder andere Exemplar einer der von mir gesammelten Fachzeitschriften bei einer Universität.

Tiffany sagte, da liegt die Bedeutung: Es gibt Wissen, das online nicht verfügbar ist. Es gibt Material, das du nur findest, wenn du es aus der Kiste holst. Dieses Thema soll mit Ausstellungen verbunden werden, denn zu vielen Dingen, zu denen ich gearbeitet habe, DDR-Liedermacher, Waldeck, gibt es ja Ausstellungen. Einmal im Jahr ließe sich eine Ausstellung machen, mit einer Hörstation. Wir haben auch überlegt, in dem örtlichen Kino eine Woche lang Filme zu zeigen, spät um Zehn, die das Thema Musik und Politik enthalten. Es gibt den Wenzel-Film „Glaubt nicht was ich singe“, den Film „Free to Rock“ über Rockmusik in der UdSSR und die Frage, wie sie dort Veränderungen bewirkt hat, Filme wie „Pete Seeger – The Power of Song“ oder „BBC-Arena – Woody Guthrie“ und nicht zuletzt „Woody Guthrie – This Machine Kills Fascists“. Wir wollen versuchen, das Archiv auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Ursprünglich war geplant, das alles im September 2024 durchzuführen, es wird aber jetzt auf März 2025 verschoben. Partner ist die Musikhochschule in Weimar, die im September nicht verfügbar gewesen wäre. Das gibt mir auch noch etwas mehr Zeit für die Vorbereitung.

Die Sammlung macht ja keinen Sinn, wenn sie nicht verfügbar ist. Ich habe ja auch noch ein Fotoarchiv, das zwar digitalisiert, aber noch nicht katalogisiert ist. Die ersten Interviews sind noch auf Kassette, da gibt es keinen Time-Code. Ich muss überall noch mal durchgehen und dann reinschreiben, welcher Musiker von wann bis wann zu hören ist, Jackson Brown von Minute sowieso, Harry Belafonte dann von Minute sowieso bis Minute sowieso. Da wird noch manche Flasche Rotwein vor dem Computer getrunken werden. Das macht schon sehr viel Freude, weil du dabei merkst, was du alles im Leben gemacht hast. Da sind schon ein paar Highlights dabei.

Michael Kleff interviewt Joan Baez. Newport 1985. Courtesy Michael Kleff Research Collection.

Norbert Reichel: Ich erlaube mir einfach an dieser Stelle die Auswahl der Leute zu nennen, die du interviewt hast, die auch in der Presseerklärung vom September 2023 genannt waren, eine beeindruckende Liste, im Grunde etwa 50 Jahre politische und musikalische Zeitgeschichte. David Amram, USA, Eric Andersen, USA, Joan Baez, Harry Belafonte, USA, Theodore Bikel, USA, Ruben Blades, Panama, Bärbel Bohley, Deutschland, Billy Bragg, England, Oscar Brand, Kanada/USA, Jackson Browne, USA, Annekathrin Bürger, Deutschland, J.J. Cale, USA, Bruce Cockburn, USA, Judy Collins, USA, Ry Cooder, USA, Barbara Dane, USA, Franz Josef Degenhardt, Deutschland, Ani DiFranco, USA, Donovan, Schottland, Lila Downs, Mexiko/USA, Steve Earle, USA, Katja Ebstein, Deutschland, Ramblin Jack Elliott, USA, Mimi Fariña, USA, Bela Fleck, USA, Hubert von Goisern, Österreich, Gerhard Gundermann, Deutschland, Arlo Guthrie, USA, Eva-Maria Hagen, Deutschland, Francoise Hardy, Frankreich, Chris Hedges, USA, Hana Hegerová, Tschechische Republik, Jaroslav Hutka, Tschechische Republik, Janis Ian, USA, Jablkon (Ingo Bellmann), Tschechische Republik, Flory Jagoda, Kanada, John Kay (Steppenwolf), Deutschland/USA, Alison Krauss, USA, Stephan Krawczyk, Deutschland, Marta Kubisowa, Tschechische Republik, Ute Lemper, Deutschland, Harold Leventhal, USA, Anna Lomax Wood, USA, Mike Love (Beach Boys), USA, Peter Maffay, Deutschland, Miriam Makeba, Südafrika, Greil Marcus, USA, Manfred Maurenbrecher, Deutschland, Gisela May, Deutschland, Kate & Anna McGarrigle, Kanada, Barry McGuire, USA, Laureena McKennitt, Kanada, John Mellencamp, USA, Natalie Merchant, USA, Sue Mingus (Charles Mingus), USA, Bill Monroe, USA, Tom Morello, USA, Gianna Nannini, Italien, Graham Nash, England, Bob Neuwirth, USA, Randy Newman, USA, Ivan Novac (Laibach), Slowenien, Odetta, USA, Gisela Oechelhaeuser, Deutschland, Kurt Ostbahn (Willi Resetarits), Österreich, Ivrica Paden (Azra), Kroatien, Tom Paxton, USA, Bill Payne (Little Feat), Tomaz Pengov, Slowenien, Erika Pluhar, Österreich,Jalda Rebling, Deutschland, Leon Redbone, Kanada, Achim Reichel, Deutschland, Tim Robbins, USA, Dave van Ronk, USA, Buffy Sainte-Marie, Kanada, Ed Sanders (The Fugs), USA, Susan Sarandon, USA, Pete Seeger, USA, Michelle Shocked, USA, Stoppok, Deutschland, Chris Strachwitz, USA, Christian Ströbele, Deutschland, Dieter Süverkrüp, Deutschland, Rachid Taha, Algerien/Frankreich, Studs Terkel, USA, Barbara Thalheim, Deutschland, Michael Timmings (Cowboy Junkies), Kanada, Suzanne Vega, USA, Hannes Wader, Deutschland, Konstantin Wecker, Deutschland, Bettina Wegner, Deutschland, Wenzel, Deutschland, Brian Wilson (Beach Boys), USA, Izzy Young, USA, Townes van Zandt, USA.

Politik und Musik sind untrennbar

Norbert Reichel: Politik und Musik sind die zentralen Themen in deinem journalistischen Leben, untrennbar miteinander verbunden.

Foto: Michael Kleff.

Michael Kleff: Angefangen habe ich allerdings in der Politik. Musik war damals erst einmal nur ein Hobby. Zu Beginn war ich bei ddp als Parlamentskorrespondent. Später habe ich als Stringer, als freier Journalist, für das Düsseldorfer Büro von ap gearbeitet. Hinzu kam der Deutschlandfunk mit der Sendung „Informationen am Morgen“, so etwa Anfang 1985. Nach dem Besuch des Newport-Folk-Festivals im Herbst des Jahres stieg ich dann auch in den Musikjournalismus ein. Und dann kam irgendwann der Punkt, von dem an ich immer zweigleisig gefahren bin, die Politik jedoch nicht mehr für Nachrichtenagenturen, aber für den Rundfunk.

Meine Erfahrungen aus fünf Jahren als Mitarbeiter im Büro von Gerhart R. Baum waren dabei sehr hilfreich. Wenn du mit jemandem aus der Politik Interviews führt, kennst du das Spiel. Manche fangen an, bevor ich etwas zu Ihren Fragen sage, möchte ich doch …. Ich habe dann gesagt, lass uns das gar nicht machen. Ich war auf Ihrer Seite, ich kenne das, aber ich will jetzt eine Antwort.

Meine Arbeit über Musik habe ich immer politisch verstanden. Mein Interesse galt dem Musiker, der Musikerin, der Frage, warum sie das machen, welche Aussage dahintersteht, ob sie mit der Musik etwas erreichen wollen. Auch bei der Politik ging es um mehr: ich hatte eine Art kulturpolitischen Ansatz. Es ging mir nicht um die Statements, die wir aus den Nachrichten kennen, sondern um den Zusammenhang. Ich wollte wissen, warum jemand als Politiker bestimmte Dinge sagt und macht. Die beiden Bereiche haben sich gegenseitig befruchtet.

Norbert Reichel: Vielleicht nennst du einfach ein paar Beispiele.

Pete Seeger. Newport 1989. Foto: Michael Kleff.

Michael Kleff: Aus der amerikanischen Geschichte ragen Woody Guthrie und Pete Seeger heraus. Sie haben Musik nicht um der Musik willen gemacht, sondern haben die Musik als ein Werkzeug eingesetzt, um Geschichten zu erzählen, die etwas über die Gesellschaft aussagen. Pete Seeger gehörte mit seiner Musik zu denen, die entweder Leuten, die gekämpft haben, Mut machen oder sie trösten wollten, wenn sie den Kampf verloren hatten. Es gab immer einen direkten Zusammenhang zu gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen. Es war nie l’art-pour-l’art.

Norbert Reichel: Wie verbreitet war eine solche Einstellung?

Michael Kleff: Ich will jetzt nicht sagen, dass das eine Mehrheitskultur war. Aber wenn wir uns die Geschichte der Gewerkschaften anschauen, sehen wir, dass diese immer eng mit Musik verbunden war. Die beiden Namen, die ich genannt habe, haben dabei eine große Rolle gespielt. Beispielsweise in der McCarthy-Ära. Damals wurden Auftritte von Leuten wie Pete Seeger verboten, ihre Musik wurde in den Radiosendern nicht mehr gespielt. Sie sind dann in Kirchen aufgetreten, bei Sommerlagern, bei Gewerkschaften und haben dort ihre Arbeit fortgeführt. Ich möchte nicht von Minderheit sprechen, aber es war auf jeden Fall kein Mainstream.

Norbert Reichel: Vielleicht auch ein Lebensstil?

Arlo Guthrie, Joan Baez, Ramblin Jack Elliot. Newport 1985. Foto: Michael Kleff.

Michael Kleff: Auf jeden Fall. Woody Guthrie ist ein gutes Beispiel. Seine Lieder waren keine erdachten Geschichten, sondern erlebte Geschichte. Wenn er auf den Güterzügen mitfuhr, in den 1930er Jahren, erlebte er, wie es den Menschen ging, den Migranten, den Wanderarbeitern, die auf den Feldern arbeiteten. Alles, was er besungen hat, hat er auch gesehen. Er hat mal gesagt: „All you can write you can see.“ Du kannst nur über etwas schreiben, das du auch gesehen hast. Bei Pete Seeger war das ähnlich.

In der deutschen Szene gibt es für die Verbindung von Musik und Politik das Beispiel der Burg Waldeck. Der Ort war eigentlich nur mit der Bündischen Jugend verbunden, Wandervogel und Ähnlichen. Zwischen 1964 und 1969 fanden dort fünf Festivals statt. Dort hat sich die deutsche Liedermacherszene konstituiert, Namen wie Hannes Wader, Dieter Süverkrüp, Reinhard Mey. Die hatten dort ihre Anfänge genommen. In den fünf Jahren, in denen Waldeck ein Großereignis war, ist das Festival auch immer politischer geworden. Es gab die Auseinandersetzung mit Hanns-Dieter Hüsch. Es gab einige Leute, die sagten, hört auf zu singen, wir müssen diskutieren. Es gab eine rege politische Auseinandersetzung im Umfeld mit Musik.

Norbert Reichel: Hannes Wader und Reinhard Mey haben 2022 noch „Le temps des cerises“ zusammen gesungen, das Lied der Pariser Kommune. Die deutsche Szene, die du beschreibst, nahm in den 1960er Jahren ihren Anfang. Woody Guthrie und Pete Seeger waren ja schon deutlich früher aktiv.

Michael Kleff: Woody Guthrie ist 1967 gestorben, Pete Seeger war noch bis in die 2000er Jahre aktiv. In den späten 1980er Jahren war er das letzte Mal in Deutschland, in Essen, vorher in Ost-Berlin. In Essen habe ich ihn interviewt.

Norbert Reichel: Die 1960er Jahre waren in den USA die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, auch mit Namen wie James Baldwin, Nina Simone, Martin Luther King verbunden, die auch in Deutschland, in Europa Gehör und Resonanz fanden. Es gab im Grunde in den USA eine Schwarze Szene, daneben eine weitgehend weiße Szene, die Hippie-Szene, die Anti-Vietnam-Demonstrationen, Woodstock. Aus meiner Sicht ist Joan Didion die beste und authentische Chronistin dieser Zeit. Sie spricht von zwei verschiedenen Amerikas, die ihren eigenen Code hatten, ihre eigene Musik.

Konstantin Wecker auf dem Zelt Musik Festival 2017 in Freiburg im Breisgau. Foto: joergens.mi. Wikimedia Commons.

Michael Kleff: Beide Szenen hatten aber eines gemeinsam: die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Ich räume ein, mein Schwerpunkt war schon die weiße Szene. Das waren die Leute, die ich kennengelernt habe, auch die Singer-Songwriter in den USA, die in die Fußstapfen von Woody Guthrie oder Pete Seeger getreten sind. Es hat sich natürlich vieles verändert. Für Leute wie Pete Seeger war ihr Einsatz immer existenziell. Alles, was er machte, bedrohte sein Leben, seine Existenz. Heute können alle machen was sie wollen. Vielleicht wird man auf dem ein oder anderen Sender nicht gespielt. Aber es gibt in dem Sinne keine Bedrohung der Existenz mehr. Das ist auch in Deutschland so. Ein Konstantin Wecker kann singen was er will – da sagen dann die „Herrschenden“ (bewusst in Anführungszeichen!), was stört es mich, wenn der Hund den Mond anbellt. Daher sehe ich auch bei vielen deutschen Akteuren eher Attitüde als Haltung. Viele Künstler haben einen politischen Song auf der CD, aber das ist es dann auch. Die totale Verbindung mit einem Anliegen sehe ich kaum noch. Konstantin Wecker ist für mich eine der großen Ausnahmen. Er versteht seine Kunst durch und durch als Engagement für Veränderung.

Norbert Reichel: Ich bin mir nicht ganz so sicher, ob deine Analyse mit der Attitüde statt Haltung immer stimmt. Ich denke jetzt nicht an das Phänomen Taylor Swift, deren Lieder fast alle völlig unpolitisch sind, die aber aufgrund ihres musikalischen Erfolgs erheblichen Einfluss auf die US-amerikanische Politik nehmen kann. Taylor Swift zeigt Haltung, sie hat natürlich Möglichkeiten, sich politisch zu äußern, die andere nicht haben, einfach weil sie ein Star ist. Aber es gibt auch in Deutschland schon einige Songs, die schon sehr politisch sind. Mein Sohn fasst immer wieder mal die jährlichen Songs und Alben nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Relevanz zusammen, 2023 unter dem Titel „It’s not me, it’s everybody“, 2022 unter dem Titel „Apokalypse oder Revolution, unter Bezug auf einen Song der Gruppe „Ja, Panik“. 2022 setzte er Nottbeck City Limits von Muff Potter auf Platz 1 seiner persönlichen Charts. Mal abgesehen von der im Titel enthaltenen auch nicht so ganz unpolitischen Reminiszenz: Hier geht es um die Arbeitsverhältnisse in einer Großschlachterei irgendwo bei Osnabrück, wie ich finde eine heftige Mischung zwischen Ironie und Zynismus: „Erst die Nahrungsmittelproduktion / Dann das Fressen und dann die Moral / Und wir singen unser Lied“. Die Arbeitsbedingungen in der Schlachterei werden im Detail beschrieben, ziemlich unappetitlich.

Michael Kleff: Du hast schon recht. Es gibt eine Menge politischer Lieder. Ich vermisse nur eine engere Verbindung der Musiker mit politischen Bewegungen. Man könnte natürlich die Frage stellen, ob es in unserer Zeit noch politische Bewegungen gibt. Das war in den USA in den 1950er, in den 1960er Jahren ganz deutlich. Es gab kaum eine Demonstration, bei der nicht ein Musiker vorneweg ging und gesungen hat. Das erlebt man heute kaum noch.

Arlo Guthrie. Newport 1985. Foto: Michael Kleff.

Norbert Reichel: Das war bei den großen Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten ja auch so. Da traten Herbert Grönemeyer oder BAP auf.

Michael Kleff: Mein Schwager Arlo Guthrie war auch da und hat dort gesungen. Bei der Hofgarten-Demonstration sollte eigentlich Pete Seeger kommen. Er wollte jedoch nicht fliegen. In dem Buch, das Roland Appel und ich zur Geschichte der Deutschen Jungdemokraten gemacht haben, ist auch ein Foto mit Arlo auf dieser Demonstration zu sehen.

Subtile Texte im Osten – Narrenfreiheit im Westen

Norbert Reichel: „Kein Land in Sicht“ – das war der Titel eines Buches, in dem du mit Hans-Eckardt Wenzel 27 deiner Interviews mit Liedermacher:innen und Kabarettist:innen aus der DDR veröffentlicht hast. Deine Interviews waren alle vom Beginn der 1990er Jahre, das Buch erschien dann 2019 bei Ch. Links. Ich habe das Buch mit Vergnügen rezensiert, ein tolles Zeitdokument, dass zeigt, was viele Menschen in der Transformationszeit der frühen 1990er Jahre dachten, was sie hofften, was befürchteten. Inzwischen gibt es auch einige Filme, die ich gerne empfehle, „Gundermann“ von Andreas Dresen (2018), „Bettina“ von Lutz Pehnert (2022), den Dokumentarfilm „Wenzel – Glaubt nie was ich singe“ von Lew Hohmann (2023). Politik und Musik sind nicht voneinander zu trennen. Wie würdest du politische Lieder in Ost und West miteinander vergleichen? Wo sind die Unterschiede?

Michael Kleff: Erst einmal ganz allgemein: Politische Lieder hatte in Deutschland eine lange Tradition, die aber durch den Nationalsozialismus abgebrochen wurde, sodass sich nach dem Krieg in Ost und West anschließend unterschiedliche Traditionslinien eröffneten. Im Westen wurde vor allem auf nordamerikanische Traditionen zurückgegriffen. Im Osten waren es Bertolt Brecht und Ernst Busch, die die Grundlagen für die weitere Entwicklung legten.

Mir wurde der Unterschied zwischen Ost und West so richtig bewusst, als ich 1988 beim Nürnberger Bardentreffen war. Ein Jahr vor der Wende. Es gab ein gemeinsames Konzert mit Konstantin Wecker aus der Bundesrepublik Deutschland, Barbara Thalheim aus der DDR und Erika Pluhar aus Österreich, unter der Überschrift „3 mal deutsch“. Weitere Künstler waren das Duo Sonnenschirm (Dieter Beckert & Jürgen B. Wolff) sowie Jürgen Eger, Detlef Hörold und Pension Volkmann. Mir ist aufgefallen, wie anders doch die Poesie und die Texte der Lieder aus der DDR waren. Man hatte immer den Eindruck, dass das, was gesagt werden soll, eigentlich nicht gesagt wird, aber dass man, wenn man genau zuhört, es versteht.

Foto: Michael Kleff.

Irgendwann habe ich dann auch verstanden, warum das so ist. In der DDR saßen die StaSi-Leute immer in der ersten Reihe und schrieben mit. Deshalb mussten sie eine Technik entwickeln, mit der sie Kritik an Staat und Verhältnissen der DDR äußern konnten, sodass jeder durch die Bilder verstand, was sie meinten. Das war im Westen immer einfacher. Ein Hannes Wader, ein Konstantin Wecker mussten sich nicht verstecken, weil sie alles sagen konnten, was sie wollten.

Es war subtiler in der DDR. Das hat mich fasziniert und war der Anlass, warum ich mich mehr mit den Liedern aus der DDR beschäftigen wollte.

Norbert Reichel: War diese Strategie in der DDR nicht auch wirkungsvoller?

Michael Kleff: Du meinst mit Blick auf die Gesellschaft? Gute Frage. Wirkungsvoller in dem Sinne vielleicht, dass die Leute, die auf die Konzerte gingen und denen das wichtig war, auf diese Art und Weise einen Zusammenhalt finden konnten, auch eine gewisse Ermutigung, dass man nicht alleine ist.

Ich kann mich erinnern, ich glaube, es war am Todestag von Franz Josef Degenhardt, im Jahr 2011, ich war zufällig im alten WDR-Funkhaus, im Büro der Musikredaktion. Es kam ein Anruf aus der Politik, wir brauchen etwas über Degenhardt. Da saß ich nun und die Redakteurin sagte, der Michael Kleff ist hier, der könnte mal rüberkommen. Ich bin dann auch rübergegangen, da saßen junge Redakteur:innen, von denen wohl niemand wusste, dass man Franz Josef ohne Bindestrich schreibt, die aber auch kein Gefühl für ihn hatten. Jemand sagte, das interessiert doch heute niemanden mehr. Ich habe gesagt, das liegt daran, dass Sie ihn nicht spielen, weil er vielleicht zu aufrührerisch ist, und weil er einfach im Laufprogramm der Sender nicht vorkommt.

Das war eigentlich immer das Problem. Es fand im Nachtprogramm statt, auch im Deutschlandfunk, das nahm kaum jemand wahr außer einer kleinen Gruppe von Experten und Fans.

Norbert Reichel: Die Aufführungspraxis in Ost und West unterschied sich ebenso. In der DDR wurden die Lieder, über die wir sprechen, auch nicht im Radio gespielt.    

Michael Kleff: Das ist richtig. Es gab für die Auftritte auch einen Ausweis, ohne den man nicht auftreten durfte. Da gab es dann das örtliche Künstlerkomitee, das entschied, wie man eingestuft wurde, mit welchem Grad von Professionalität, was wiederum Einfluss auf das Honorar hatte. Das hatte auch etwas für sich. Die Leute mussten schon beweisen, dass sie ihr Instrument beherrschten, dass sie handwerklich gut waren. Im Westen war das nicht notwendig. Es gab nicht diesen formalen Anspruch, dass man was kann. Ich glaube, dass viele DDR-Künstler:innen handwerklich einfach besser waren als ihre Kolleg:innen im Westen.

Norbert Reichel: Im Westen musste man seine Musik, seine Lieder verkaufen. Das ist die Kommerzialisierung von Musik, die es vielen aus der DDR nach der Wende auch schwer machte, im neuen Gesamtdeutschland Fuß zu fassen. Ich frage einmal zugespitzt: Wie politisch ist Reinhard Mey wirklich? Ein Lied wie „Über den Wolken“ wurde in der DDR ganz anders verstanden als im Westen. Seine Osttournee kam nicht zustande, weil er gedrängt wurde, dieses Lied nicht zu singen. Das hatte er abgelehnt. Aber primär politisch war das Lied nicht, obwohl er genau wusste, was er da von der DDR verlangte. Es gab natürlich nicht nur Reinhard Mey, auch einige andere, die ein großes Publikum gewannen, aber ich glaube nun nicht, dass das Publikum ihnen wegen der politischen Anklänge zuhörte. In Abwandlung eines Satzes von Andrei Tarkowski möchte ich sagen, viele lauschten, aber hörten nichts.

Michael Kleff: Über die Musik von Reinhard Mey kann man sicherlich streiten. Aber man muss sagen, dass er immer bereit war, seine Stimme herzugeben, gegen den Irakkrieg, als er mit Wecker und Wader auftrat. Er hat auch das Lied „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ gesungen. Er war immer da, wenn man ihn gebraucht hat. Das muss man ihm lassen. Bei seinen Konzerten – da wurde von Jung bis Alt alles abgedeckt.

Joan Baez, Tom Paxton. Newport 1985. Foto: Michael Kleff.

Ähnlich ist das bei Bruce Springsteen in den USA. Der unterstützt alle möglichen politischen Sachen, aber in seinen Konzerten sind auch all die Rednecks. Die ignorieren seine politischen Ansichten. Bruce Springsteen geht den ganz dünnen Grat, weder die einen noch die anderen zu vergrätzen. Bei der Musikmesse „South by Southwest“ in Austin (Texas) hat er einmal die Grundsatzrede gehalten, sich auch auf Woody Guthrie bezogen. Er hat aber auch gesagt, so konsequent wie Woody Guthrie bin ich nicht, dazu liebe ich mein Auto zu sehr. Er hat deutlich gemacht, dass er nicht so weit gehen würde, dass seine Existenz gefährdet wird. Das fand ich zumindest sehr ehrlich.

Norbert Reichel: Mal sehen, wie es mit Taylor Swift weitergeht. Aber das ist ein anderes und noch gar nicht abschließbar bewertbares Thema. Zumindest scheinen Trump & Co. zu befürchten, sie könne zur Wahl von Joe Biden aufrufen. Die politische Wirkung von Megastars sollten wir auf keinen Fall unterschätzen.

Michael Kleff: Das ist auch in der Geschichte eine Eigenart der Liedermacher, der Bänkelsänger. Sie zogen durch das Land, sangen was sie dachten, mussten aber nicht befürchten, dass man sie einsperrt. In der DDR war das anders, weil das auch ein anderes System war. Da musste man sich anders positionieren.

Norbert Reichel: Für viele Künstlerinnen und Künstler aus der DDR war der Schritt in den Westen schwer. Nicht nur nach 1989, auch schon zuvor für diejenigen, die ausgebürgert wurden. Ein Wolf Biermann ist da sicherlich eine Ausnahme. Er hatte sein Publikum, eine hohe Popularität, wurde eingeladen, konnte im Fernsehen auftreten. Aber nach 1989 war das politische Lied auch im Westen nicht mehr so interessant, unabhängig davon, ob jemand aus dem Westen oder aus dem Osten kam.

Michael Kleff: Dem würde ich zustimmen. Aber das hat meines Erachtens etwas mit der gesellschaftlichen Stimmung zu tun. Was ist in den 1990er Jahren auf den Straßen passiert? Ich kann mich nicht erinnern, dass damals politisch viel geschah. Die Schlachten waren geschlagen und sie waren verloren. Die DDR-Leute mussten sich nach der Wende auf die andere Struktur einstellen. Es gab keine Kulturhäuser mehr, nicht mehr die garantierten Honorare. Die staatliche Förderung war vorbei. Sie waren jetzt dem Markt ausgeliefert. Im Westen kannte sie niemand, denn wer hat im Westen Künstler:innen aus der DDR gespielt? Beim Nürnberger Bardentreffen waren immer mal welche eingeladen, aber im Radio? Barbara Thalheim und Bettina Wegner vielleicht?

Norbert Reichel: Und im MDR?

Michael Kleff: Ich denke, da müssen wir zwischen Fernsehen und Radio unterscheiden. Das Fernsehen ist eine Katastrophe. Wenn ich ab und zu mal durchzappe und dann sehe, was die an Schlagern produzieren, bin ich fassungslos. Der Rundfunk macht durchweg gute Musiksendungen, ich möchte sagen, fast schon die besten in der ARD-Landschaft. Sie haben Redakteur:innen, die sich dafür interessieren.

In den Gesprächen, die ich kurz nach der Wende geführt habe, habe ich bei allen die Verunsicherung gespürt. Bei einigen habe ich auch gemerkt, dass sie sich irgendwie wieder wie im Osten fühlten, beispielsweise vom Kabarett, Leute von der „Distel“, die dann feststellten, ich kann ja schon wieder nicht sagen, was ich will. Die Kritik an der Politik passt so nicht. Ich fand das schon interessant, dass einige mit der neuen Freiheit so viel nicht anfangen konnten, sich zumindest nicht wohl dabei fühlten.

Norbert Reichel: Déjà-Vu?

Michael Kleff: Déjà-Vu. Einer der Interviewpartner formulierte das genau so.

Norbert Reichel: Durch meine Zusammenarbeit mit Ines Geipel habe ich gelernt, dass es in der Literaturszene nicht anders war. Es gibt viele Autorinnen und Autoren, denen sie mit Joachim Walther sel.A. in der „Verschwiegenen Bibliothek“ und in ihren biographischen Büchern ein Forum geschaffen hatte. Viele sind noch unentdeckt, es lagern etwa 70.000 Manuskriptseiten in der Bundesstiftung Aufarbeitung, die noch entdeckt werden müssen. Aber sie erzählte mir auch, dass einige inzwischen politisch in eine merkwürdige Richtung abgedriftet wären, wie auch manch andere in Ostdeutschland. Manche scheinen sich wieder zu fangen, aber die Gefahr des Abdriftens lässt sich nicht wegdiskutierten. Ähnliche denkwürdige Entwicklungen gab es im Alter ja auch bei Mikis Theodorakis. Hast du bei Musikerinnen und Musikern auch solche Entwicklungen festgestellt.

Michael Kleff: Nicht in der Richtung, dass sie dann in die von dir angedeutete Richtung gegangen wären. Da war es eher so – Wenzel ist ein gutes Beispiel – dass sich an ihrer politischen Haltung nichts geändert hat, aber sie haben festgestellt, dass man bei aller Freiheit, die man jetzt hat, dennoch weiterkämpfen muss. Es ist nicht so, als sei Kritik am System erwünscht. Man hat nur mehr Möglichkeiten es zu sagen, ohne dass man von irgendwelchen Sicherheitskräften aufgehalten wird. Die Grundhaltung hat sich nicht geändert, aber sie haben einen anderen Gegner.

Wenzel und Band in Freiberg (Sachsen). Foto: Malenki. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Vielleicht ein gutes Beispiel: „Stacheldraht, Elektrozaun“ von der CD „Widersteh solang du’s kannst“. Das sollte man zur aktuellen Migrationsdebatte täglich spielen!

Michael Kleff: Wenzel bringt seine Einstellung im Vorwort zu „Kein Land in Sicht“ auf den Punkt. Man musste im Grunde immer klarstellen, wie man es mit dem DDR-Staat hält. Gefordert wurde immer eine Distanzierung. Das aber war etwas, das nicht geht. Wenn man die DDR kritisiert hat, heißt das aber noch lange nicht, dass man den neuen Staat Bundesrepublik nicht kritisiert.   

Bildungsauftrag in 30 Sekunden

Norbert Reichel: Zurzeit haben wir in allen Kanälen, gerade den öffentlich-rechtlichen, in den dritten Programmen, auf Phoenix, ständige Wiederholungen von Rückblicken über die 1960er, die 1970er, die 1980er Jahre und so weiter, dies auch in eigenen Reihen bezogen auf die DDR. Vorgestellt werden aus Sicht der Redaktionen typische Lieder und Prominente kommentieren, was diese Lieder einmal oder vielleicht auch jetzt noch für sie bedeuten.

Michael Kleff: Ich bin auch einmal gefragt worden, zu einer solchen Produktion des WDR etwas zu sagen. 30 Sekunden. Ich habe gesagt, das geht nicht. Da waren Leute wie Degenhardt Thema. Wie soll ich einem Publikum, das von Degenhardt nichts weiß, in 30 Sekunden erzählen, welche Bedeutung er als Person und mit seinen Liedern hatte? Dazu brauche ich mehr Zeit. Ich habe dann eine Minute bekommen. Dann kamen Schobert & Black.

Norbert Reichel: Ihr „Beutelgesang“ ist eine wunderbare Beschreibung der Geschichte des Kapitalismus: „Es werde Beutel und es ward‘ Beutel“. Hört sich ein wenig auch wie „Beute“ an wie sie es aussprechen.

Michael Kleff: Die machten Comedy, als Comedy noch Inhalt war. Ich sah das und erzählte etwas über die beiden, nannte die Namen, Wolfgang „Schobert“ Schulz und Lothar „Black“ Lechleiter. Der Produzent brach sofort ab, der hieße „Lechleitner“ mit „n“, er zeigte mir den Wikipedia-Eintrag, in dem das damals aber falsch stand. Das Problem liegt einfach daran, dass solche Sendungen von Leuten gemacht werden, die keinerlei Vorwissen haben. Es muss eben mal locker rübergebracht werden. Aber der tiefere Zusammenhang wird oft vermieden.

John Lee Hooker. Newport 1989. Foto: Michael Kleff.

Mir fällt auch so eine journalistische Tendenz auf, alles müsse sich selbst erklären. Die Rolle des Journalisten wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Der O-Ton, die eingespielte Musik, müssten für sich stehen. Das finde ich falsch. Es gibt viele Dinge, die man in einen Zusammenhang stellen muss. Ein Beispiel: Ich kann nicht Sufi-Musik spielen und darauf setzen, dass die sich von selbst erklärt. Ich befürchte, da geht es wieder um Kunst um der Kunst willen. Auf diese Art und Weise habe ich beim Deutschlandfunk eine Sendung verloren, im Rahmen von „DRadio Wissen“ (heute: „Deutschlandfunk Nova“), eine Sendung, einmal im Monat, zu „Weltmusik“. Ich konnte lange machen was ich wollte, aber dann wurde ich zum Chef von „DRadio Wissen“ gerufen, der mir sagte, man wolle die Sendung abschaffen, da würde zu viel erklärt. Die Jugend bräuchte etwas, das sich aus sich heraus selbst versteht.     

Norbert Reichel: Bildungsauftrag Erziehung zum Konsumenten?

Michael Kleff: Könnte man so sagen.

Norbert Reichel: Und das im Kontext der aktuellen Debatten um die Neuausrichtung der öffentlich-rechtlichen Sender.

Michael Kleff: Mit einem einzigen Kulturprogramm! Ein Buch bekommt dann eine Rezension, das reicht dann auch. Was da auf uns zukommt, das ist eine Katastrophe.

Barbara Thalheim in Waldeck 2017. Foto: Rs-Foto. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Der Deutsche Kulturrat versucht dagegen zu halten, aber ich bin nicht sehr zuversichtlich. Das ist mit politischen Sendungen ja so ähnlich. Ich ärgere mich immer wieder, dass im Winter alle zwei Wochen der Presseclub ausfällt, weil Biathlon oder Skispringen stundenlang live gezeigt werden muss. Der Internationale Frühschoppen auf Phoenix, der als Ersatz läuft, hat ein ganz anderes Konzept. Ich finde, wir brauchen beides. Und als Kulturmagazin gibt es zu einer Zeit vor 22 Uhr nur die 3sat-Kulturzeit. Das führt zu Traditionsverlust, Gedächtnisverlust. Man versteht viele Dinge doch erst, wenn man weiß, wie sie entstanden sind, wie sie sich mit der Zeit veränderten.

Michael Kleff: Es verschwindet auch eine vielfältige Betrachtungsweise. Der NDR hat ein anderes Kulturprogramm als der BR oder der WDR oder der MDR. Ich finde es wichtig, dass man verschiedene Dinge, verschiedene Meinungen hören kann. Das ist der Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen. Das wird zerstört, wenn man alle Kulturprogramme zusammenlegt.

Norbert Reichel: Vielleicht gibt es dann noch einen Spartensender im Verborgenen.

Michael Kleff: Was auch nicht dem Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen entsprechen würde. Ich habe viele Jahre mit Kollegen die Sendung Al Globe auf Radio Brandenburg (heute ORB) gemacht. Nach der Wende bis 1996. Montag bis Samstag jeden Vormittag zwei Stunden, Untertitel: „Weltmusikalisches Kulturmagazin“. Wir haben immer versucht, Musik und Politik zu verbinden. Beispiel: Bundeswehr in Kanada, die trainierten in Gegenden, die Gebiete der Native Americans waren. Wir haben einen Korrespondentenbericht gemacht. Ich hatte die Möglichkeit, drumherum Musik der kanadischen Ureinwohner zu spielen. Wir haben versucht, das miteinander zu verbinden. Die Musikfarben waren ganz unterschiedlich. Wir waren immer überrascht. Das war das Besondere an der Sendung: Es gab nicht immer denselben Frequenzbereich.

Das ist das Gute am öffentlichen Rundfunk, dass es Überraschendes gibt, etwas zu entdecken. Das wird aber immer mehr abgebaut. Vom WDR weiß ich, dass auch Moderatorenstimmen auf eine bestimmte Frequenz reduziert werden. Jede:r Moderator:in hat eine Karte, die dann eingesteckt wird. Die Stimme wird so auf eine bestimmte Frequenz eingenordet. Hintergrund ist, dass die ganze Sendung eine immer gleiche Stimmung vermitteln soll. Die Leute sollen so davon abgehalten werden, den Sender zu wechseln.

Norbert Reichel: Homogenisierung, Abschleifen aller Ecken und Kanten. Ein anderer Begriff, der mir dabei einfällt, ist Folkorisierung. Wenn ich Musik von Native Americans, Sufi-Musik, Klezmer und was auch immer spiele, aber nicht weiß, was ich da eigentlich spiele. Ich nenne mal ein Beispiel: Shantel hat das Verdienst, dass er viele vorher unbekannte Gruppen aus Ost- und aus Südosteuropa, auch Gruppen von Minderheiten, beispielsweise von Roma, in Deutschland bekanntgemacht hat. Das war sogar einige Jahre lang ein regelrechter Boom. Aber ohne Erklärung versteht niemand den Hintergrund, das Besondere an dieser Musik. Ein Film wie „Crossing the Bridge“ von Fatih Akin über Musik in und aus der Türkei ist da schon erheblich differenzierter (auch wenn man sich über die Vermarktung streiten mag).

Michael Kleff: Damit sind wir wieder bei deiner Grundsatzfrage, wie ich Politik mit Musik verbinde. Wenn ich Klezmer spiele, wenn ich Kora-Musik aus Afrika spiele, muss ich den Zusammenhang erklären. Das war immer mein Anliegen. Ich habe im Deutschlandfunk auch viele Jahre die World-Music-Charts Europa vorgestellt. Mir war das egal, wer auf Platz 1 oder 2 oder 5 oder 10 stand. Mir war es wichtig, die Hintergründe zu erklären, warum macht der das.

Es gibt aber schon noch Orte, an denen das stattfindet, beispielsweise beim Rudolstadt-Festival. Neben den Konzerten gibt es da immer viele Workshops, in denen solche Fragen bearbeitet werden können. Auch Zeitschriften wie der „Folker“ versuchen das, eben nicht nur Starportraits zu machen, sondern die Sache auf die Region zu beziehen, wo das stattfindet. Auch die Balkanbands muss man erklären, mit all ihren Hintergründen, und wie und warum sich Plattenfirmen draufstürzen, um das zu vergolden.

Die Leute müssen lauter werden

Norbert Reichel: Kulturpolitik ergeht sich in Haushaltsdiskussionen, laut sind aber die neuen Rechten. Ich denke, wir brauchen so etwas wie eine aktive Gegenöffentlichkeit. Da könnten Musiker:innen einiges beitragen. Unter deinen Interviewpartner:innen sind eine ganze Menge, die das könnten. Aber wer steht heute für das Erbe von Woody Guthrie oder Pete Seeger in den USA? Bruce Springsteen, der sein Auto liebt?

Tom Morello bei Occupy Wall Street 2011 in New York City. Foto: David Shankbone. Wikimedia Commons.

Michael Kleff: Das war die Metapher für das, was er nicht aufgeben will. Aber es gibt schon Beispiele für jemanden, der für dieses Erbe einsteht: Tom Morello, der bekannt wurde über die Band Rage Against the Machine. Als Solokünstler siehst du Tom Morello mit seiner Gitarre bei jedem Streik, beispielsweise zuletzt bei den Streiks in Hollywood. Er ist ein großer Woody-Guthrie-Interpret. Wenn er „This Land is your Land“ singt, klingt das nicht nach Evangelischem Kirchentag, bei ihm ist das Lied ein Kampflied für die Streikenden. Auf der weiblichen Seite ist Ani DiFranco eine von den Künstlerinnen, die ganz engagiert auf der Bühne stehen. Besonders laut sind die Hip-Hop-Szene und die Rap-Szene.

Die Folkies sind alle etwas zu leise. Ich finde, die Zeiten heute brauchen mehr Tom Morello. Leise geht nicht mehr. Man kann das vergleichen mit Fridays for Future in Deutschland. Die waren brav. Jetzt haben wir die Letzte Generation, die sich an die Straße kleben. Das ist der letzte Schritt nach jahrelangem Schreiben von Briefen an die Politik, Flugblatt verteilen. Die Leute müssen lauter werden.

Die Vorstellung, dass ein Trump wieder gewählt werden könnte, müsste eigentlich dazu führen, dass alle Musiker auf der Straße sind. Das sind sie aber nicht. Ich frage in der Tat, ob es eine Musiker-Initiative gibt, die sich vor November organisiert. Vor der ersten Wahl von Obama gab es eine große Musikerinitiative, die sich organisierte, große Konzerte gab. Seit dieser Zeit gibt es das nicht mehr.

Norbert Reichel: Ich hoffe darauf, dass – ähnlich wie in Polen – die Frauen dafür sorgen, dass Trump nicht gewählt wird.

Michael Kleff: Vor allem aber wäre es gut, wenn die Demokraten aus ihrem Sessel hochkämen und mit einer eindeutigen Botschaft in den Wahlkampf gehen. Aber es gibt keine klare Parole. Warum haben die Demokraten keine klare Parole? Trump hat „Make America Great Again“. Das wirkt. Ein Politikberater, der für den Brexit warb, der den Brexiteers zum Erfolg verhalf, Dominic Cummings, erfand den simplen Spruch „Take Back Control“, dann „Make Brexit Work“. Die Demokraten sollten den engagieren und ein Konzept entwickeln lassen! Ich bin fassungslos, es ist erschütternd. Die Musiker müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie eine Verantwortung haben. Warum treffen die sich nicht alle, erst einmal irgendwo in einem Hinterzimmer? Die haben alle ein eigenes Publikum, die stehen alle für Demokratie. Aber jeder nur für sich. Die müssten sich eigentlich treffen und mit einem gemeinsamen Konzept auf die Straße, auf die Plätze gehen.

Norbert Reichel: Und als Motto würde ich vorschlagen: „Let‘s make freedom work“. Bei den aktuellen Demonstrationen gegen AfD und Rechtsextremismus sehe ich auch keine Musiker. Die Demonstrationen im Bonner Hofgarten hatten wir schon erwähnt. Ich kann mich auch gut an die Konzerte der damaligen Zeit erinnern, die weltweit übertragen wurden, Live Aid, das Konzert für Nelson Mandela, alles in den 1980er Jahren. Aber das war auch die Zeit der „globalisierten Jugendkultur“, von der Wenzel im Vorwort eures Liedermacher-Buchs spricht. Und es war nicht nur „Jugendkultur“, ich würde von einer Protestkultur sprechen, die gleichzeitig eine Zukunftsbotschaft hatte. Für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit.

Michael Kleff: All das findet heute nicht mehr statt. Es gab Konzerte gegen Nuklearenergie in den 1970er Jahren, es gab das große Konzert von George Harrison für Bangladesch 1971 in New York City. 2008 fand das große Konzert in Washington D.C. für Barack Obama statt, ein solches Konzert müsste jetzt gegen Trump stattfinden.

Norbert Reichel: Nun liegt das Problem vielleicht auch darin, dass Joe Biden niemanden so recht vom Stuhl reißt.

Michael Kleff: Das ist wieder einmal das Demokraten-Problem. Im Grunde genommen hat Biden ja auch in einem Punkt nicht so ganz die Wahrheit gesagt. Er sagte vor der Wahl, er wolle als Interimspräsident antreten. Einen Tag nach der Wahl hatte ihm wohl das Schlafzimmer im Weißen Haus so gut gefallen, dass er seine Meinung geändert hat.

Norbert Reichel: Vielleicht spielt auch die schwache Popularität der Vize-Präsidentin eine Rolle?

Michael Kleff: Da streiten sich die Kommentatoren, ob ihr diese zurückhaltende Rolle nicht vielleicht aufgezwungen wurde. Traditionell steht der Vizepräsident immer in der zweiten Reihe, aber ich habe den Eindruck, dass Kamala Harris in die fünfte Reihe geschoben wurde. Aber das ist für mich auch schwer zu sagen, was da tatsächlich stimmt. Auf jeden Fall ist es ein Riesenproblem. Aber ich sage es noch einmal: wir brauchen eine große und gemeinsame Initiative der Musik.   

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 7. Februar 2024. Das Titelbild zeigt das Finale des Newport Folk Festival 1985, Foto: Michael Kleff.)

Nachtrag am 1. Mai 2024:

Trotz mehrjähriger Vorbereitung und mehrerer öffentlicher Ankündigungen wird die Michael Kleff Research Collection jetzt doch nicht nach Eisenach gehen. Nach den Gründen für die überraschende Wendung gefragt, sagte Michael Kleff, dass sich das Lippmann+Rau-Musikarchiv nach einer gemeinsamen Sitzung im April nicht in der Lage sah, für die Sammlung in seiner Ansicht nach erforderlichen Weise Verantwortung zu übernehmen. Der Stiftungsvorstand habe ihm mitgeteilt, dass man die, sich aus einem bereits im November des vergangenen Jahres vorgelegten, für Archive üblichen Übernahmevertrag ergebenden Zusagen, nicht geben könne. Man sehe auch keine Notwendigkeit, eine solch spezielle, komplexe Vereinbarung zur treffen. Die Behauptung, Inhalte und Konzepte der Michael Kleff Research Collection seien nicht im Detail klar gewesen, wies Kleff zurück. Beides – Inhalte und Konzepte – sei seit einigen Jahren bekannt gewesen. Er habe es bei mehreren Treffen vor Ort in aller Ausführlichkeit erläutert und die Presse – sowohl Printmedien als auch der Rundfunk – hätte darüber ebenso ausführlich berichtet. Vor diesem Hintergrund habe Kleff keinen Grund für weitere Gespräche gesehen und entschieden, von dem Angebot zurückzutreten, seine Sammlung dem Lippmann+Rau-Musikarchiv zu überlassen. Er wolle jetzt in aller Ruhe nach Alternativen suchen.