Wiederentdeckungen mit dem Lilienfeld Verlag
Axel von Ernst über das Programm und die Stärken unabhängiger Verlage
„Alles Erzählen ist nur eine Annäherung. Über die Geschichte (Historie), über die Beweggründe von Menschen, sogar über die eigenen Erinnerungen lässt sich nur schwer Gewissheit erlangen. Gleichzeitig ist da ein unstillbares Verlangen, es immer wieder zu versuchen – dennoch.“ (Julia Schoch, Einige ungeordnete, mitunter widersprüchliche Gedanken zur Frage ‚Wer darf wie über die Vergangenheit schreiben?“, in: Charlotte Gneuß, Hg., Diktatur und Utopie – Wie erzählen wir die DDR, in: Neue Rundschau 134/4, 2024, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2024)
Erinnern ist Wiederentdecken, sich einer vergangenen Zeit vergewissern, Wiedervergegenwärtigung. Texte wieder zu lesen, die eigentlich schon (fast) vergessen zu sein scheinen – das wäre sicherlich hilfreich, doch wo findet man Texte, die vor längerer Zeit veröffentlicht, inzwischen vergriffen und zum Teil sogar nicht einmal mehr antiquarisch erhältlich sind? Auch nicht als pdf im Internet. Der Düsseldorfer Lilienfeld Verlag hat sich die Wiedervergegenwärtigung solcher Literatur zur Aufgabe gemacht. Seit 2007 sorgen Viola Eckelt und Axel von Ernst dafür, dass Bücher wieder neu aufgelegt werden, die uns im besten Sinne des Wortes das Erinnern erleichtern. Natürlich spielt dabei der neue Kontext der Veröffentlichung eine Rolle, denn wer Texte liest, Gedichte, einen Roman, Tagebücher, die vielleicht vor 100 Jahren geschrieben, vor 90 Jahren veröffentlicht, seit 70 Jahren vergriffen waren, muss sich nicht nur den Text selbst vergegenwärtigen, sondern auch die unterschiedlichen autobiographischen wie gesellschaftlichen und politischen Kontexte vergangener Zeiten im Kontrast zur heutigen Zeit, in der wir diese Texte wieder entdecken und lesen, reflektieren.
Der Lilienfeld Verlag ist ein unabhängiger Verlag. Er macht seit 2007 Programm. In dem hier dokumentierten Gespräch hat Axel von Ernst das Anliegen der unabhängigen Verlage vorgestellt. Anlass war die im Jahr 2024 erschienene erweiterte Neuauflage des Buches „Gesperrte Ablage“, das Ines Geipel und Joachim Walther im Jahr 2015 veröffentlichten. Dieses Buch war ebenso Gegenstand dieses Gesprächs wie weitere Bücher von Karen Gershon, Franz Hessel und Moacyr Scliar. Julia Schoch formuliert eine auf den ersten Blick eingängige Hypothese, die sich auf diese und viele andere wieder entdeckte oder noch wieder zu entdeckende Bücher anwenden ließe: „Wir bewohnen unsere Vergangenheit, wie man Träume bewohnt.“ Und sie stellt klar: „Die Literatur ist nicht der Ort, an dem wir versuchen sollten, verlässlich in Erfahrung zu bringen, wie etwas gewesen ist. Wobei die Betonung auf verlässlich liegt.“ Lesen ist eben Annäherung. Auch Schreiben. Und Verlegen von Büchern!
Anliegen und Qualität der unabhängigen Verlage
Norbert Reichel: Der Verlag wurde 2007 als unabhängiger Verlag gegründet. Was für eine Zeit war das damals für Sie und andere unabhängige Verlage?
Axel von Ernst: Wir haben im Jahr 2007 mit vier Büchern angefangen. Wir sind von Anfang an in der Gruppe der Independent-Verlage angetreten, um Bücher zu machen, die Wiederentdeckungen sind. Damals gab es eine Bewegung der Independent-Verlage, beispielsweise mit Blumenbar oder dem Verbrecher Verlag. Junge frische Verlage, die einen neuen Impuls gegeben haben. Es gab schon die Kurt Wolff Stiftung und weitere Initiativen, die das Ziel verfolgten, für die unabhängigen Verlage einen Auftritt zu entwickeln, der mehr Einfluss im Buchhandel, in der Presse, im Publikum erlaubt. Es war damals schon schwer für unabhängige Verlage. Ich kam als Autor mit diesen Kreisen über Literaturzeitschriften in Kontakt, in denen ich veröffentlicht habe, oder über Lesungen, und so konnten wir uns anschließen.
Die meisten dieser Verlage boten neue Literatur an, Lyrik, die Jetzt-Zeit. Wir hatten einen anderen Ansatz. Meine Partnerin und Mit-Gründerin Viola Eckelt ist Germanistin, ich selbst bin auch Germanist. Wir haben uns für die Literatur der 1920er Jahre, für die Literatur im Exil interessiert. Das wollten wir in unserem Verlag herausbringen. Wir dachten auch daran, etwas zum 19. Jahrhundert zu machen. Das mussten wir jedoch leider zurückstellen, weil das im Buchhandel nicht so lief. Unser Schwerpunkt wurde das 20. Jahrhundert, teilweise noch vor dem Ersten Weltkrieg, in der Regel aber die 1920er Jahre bis hin in die 1980er Jahre. Wir verlegen viel internationale Literatur, auch von Autorinnen und Autoren, die in ihren eigenen Ländern nicht so bekannt sind, aus Brasilien, Argentinien, aus den USA oder auch aus Russland.
Wir veröffentlichen vor allem Prosatexte, weniger Lyrik, Texte, die heute noch relevant sind, keine Texte, die nur historisch interessant sind. Wir wollen Texte verfügbar machen, die heute noch Geschichten erzählen und so auch ein breiteres Publikum erreichen. „Breit“ muss man bei einem unabhängigen Verlag natürlich in Anführungszeichen setzen, denn ein so breites Publikum wie die Konzernverlage werden wir mit diesen Titeln nicht erreichen. Dennoch denken wir schon etwas größer. Die Grundauflage bei uns sind etwa 1.500 Exemplare. Das ist aus der Sicht eines kleinen Verlags schon groß gedacht.
In dem Kreis der unabhängigen Verlage sind wir sehr freundlich aufgenommen haben. Das zeichnet diese Verlage auch aus. Der große Teil derjenigen, die als unabhängiger Verleger:innen Bücher machen, tun dies aus Idealismus. Als Geschäftsfeld ist das – wenn ich das sagen darf – eine Katastrophe. Der Idealismus hat etwas damit zu tun, dass wir alle in den unabhängigen Verlagen Literatur vermitteln wollen. Das ist ein Feld, in dem sehr viel zu gewinnen ist, an Menschlichkeit, Freundlichkeit, an Zielen, die erreicht werden sollen, an Aufmerksamkeit für Marginalisiertes. Die Menschen, die das tun, sind besondere Menschen, und sie gehen auch so miteinander um. Auf der ersten Buchmesse, an der wir 2007 teilnahmen, wurden wir sofort vorgestellt, an Journalist:innen zum Beispiel. Es gibt auch sehr offene Buchhandlungen, das könnte mehr sein, aber das hängt auch mit deren finanziellen Bedingungen zusammen. Buchhandlungen müssen sehen, dass sie finanziell zurechtkommen. Aber dennoch bleiben manche hartnäckig und präsentieren sehr stark unabhängige Verlage.
Besonders wichtig war die Pressearbeit mit den Kontakten in die Öffentlichkeit. Sigrid Wilhelm hat für uns damals den Presseverteiler aufgebaut, 300 Adressen zusammengetragen, persönliche Kontakte organisiert. Darauf fußt unser heutiger Erfolg nach wie vor. Schon mit unserem ersten Programm hatten wir eine gute Presseresonanz. Die erste Welle machte uns schon so bekannt, dass wir uns auch trotz mancher Schwierigkeiten bis heute halten können, auch mit Texten von Namen, die noch nie jemand gehört hatte. Aber es wird immer schwieriger. Das Problem liegt nicht an den Verlagen, sondern in der Gesellschaft. Dort findet eine Entwicklung statt, die – ich muss das so sagen – bildungs- und kulturfeindlich ist. Das Feuilleton bricht zusammen, wird immer weiter eingekürzt. Es gibt immer weniger professionelle freie Kritikerinnen und Kritiker. Die Wirkung der alten Zeitungen kann im Internet nicht aufgefangen werden. Es gibt tolle Blogs, die das versuchen. Das ist wichtig, wurde aber früher auch kritisiert, als eine Art Selbstermächtigung, denn – so hieß es – nur die Feuilletons dürften so etwas machen. Heute bröckelt das Feuilleton, es wird auch sehr stark von den Konzernverlagen dominiert. Die marktgängigen Titel werden in den Vordergrund gestellt. Auf der Liste der Titel für den Deutschen Buchpreis finden sich nur selten Titel aus unabhängigen Verlagen, es waren im Jahr 2024 zwei von zwanzig Titeln und die waren übrigens aus Österreich und der Schweiz, nicht aus Deutschland. Es ist ungefähr so, als wenn bei einer Bestenliste von Käsesorten nur Supermarktkäse angeboten würde. Bei Büchern fällt uns das nicht auf, die wichtigsten Bücher kommen scheinbar aus den Konzernverlagen. Diesmal kamen sieben der 20 Titel allein aus der Holtzbrinck-Gruppe.
Vielfalt sichtbar machen
Norbert Reichel: Ich frage mich manchmal nach den Auswahlkriterien der Mitglieder der Jury des Deutschen Buchpreises.
Axel von Ernst: Marketing-Werbung spielt eine wichtige Rolle, bedingt durch die Macht der Konzerne, die Diskussion zu bestimmen. Es wird viel Werbung geschaltet, die Presseabteilungen bereisen die Redaktionen der großen Zeitungen. Das können kleine Verlage nicht leisten. Sie haben auch einzelne Kontakte, können aber nicht flächendeckend und so intensiv agieren. Durch dieses enge Zusammenwirken wird Bedeutung erzeugt. Das beeinflusst uns alle und wir denken – ich schließe mich selbst nicht aus: Das sind die bedeutenden Titel. Das heißt nicht, dass es schlechte Bücher sind, aber es heißt im Umkehrschluss auch nicht, dass die Bücher, die nicht im Vordergrund der Feuilletons stehen, schlechte Bücher wären. Die Gefahr besteht, dass die Konzerne und Großverlage erst einmal geschäftlich denken und ein Down-Trading stattfindet, sodass sie immer stromlinienförmigere Sachen veröffentlichen, um Umsatz zu machen. Das heißt, sie müssen Literatur verlegen, die sich gut verkaufen lässt. Das Geld entscheidet, was wir für wichtig halten und welche Qualität angeboten wird. So sinkt leider auch das Niveau.
Wir schaffen aber auch ein Gegengewicht. Ich bin Vorstand des Vereins Hotlist, einem Wettbewerb, der ein Gegengewicht zum Deutschen Buchpreis bilden soll und jährlich in jedem September zehn Bücher auszeichnet, die bei unabhängigen Verlagen erscheinen. Den Wettbewerb gibt es seit 2009. Die Preisverleihungsveranstaltung findet im Literaturhaus in Frankfurt statt.
Norbert Reichel: Damit tun Sie auch etwas gegen die große Gefahr des Aktualismus. Da wird etwas gerade einmal hochgehypt und schon hat man den Titel dazu, schnell geschrieben, schnell verlegt, oft auch auf Kosten einer ordentlichen Recherche, vor allem im Sachbuchsektor. Und wenn das einmal läuft, dann läuft das auch mehrfach. Ich dachte gerade daran, welche Auflageziffern Bücher von Autoren wie Thilo Sarrazin oder Dirk Oschmann schaffen. Literatur hat es da schon schwer, sich in solche Wellen der Aufmerksamkeit einzuklinken.
Axel von Ernst: Das ist ein gefährliches Feld. Manchmal ist Aktualismus aber auch ein Vorteil. Ein Beispiel: Schwarze Literatur. Aber was musste alles passieren, damit die Konzerne sich damit befassten? Morde, große Demonstrationen, Black Lives Matter, und erst dann wurde das interessant. Das war Thema in der Gesellschaft und schon suchten alle großen Verlage junge Schwarze Autorinnen und Autoren, brachten Klassiker der Harlem Renaissance heraus. Da gab es eine Welle. Das ist Aktualismus, der funktioniert.
Norbert Reichel: Zwei Jahre später ist das oft schon wieder vorbei.
Axel von Ernst: Das ist die Gefahr. Vorher hatten nur kleine Verlage Schwarze Autor:innen, Schwarze Theorie im Programm. Es gibt zwei kleine Verlage in Münster, Edition Assemblage und Unrast. Oder den Berliner Orlanda Verlag, der zum Beispiel Schwarze mit feministischer Literatur oder mit queerer Literatur verbindet. Wenn eine solche lukrative Welle abebbt, werden diese Verlage ihre wichtige Arbeit auch weiter tun, so lange sie können.
Die unabhängigen Verlage bilden Vielfalt ab. Diese Vielfalt habe ich selbst erst wahrgenommen, als wir unseren Verlag gegründet haben. Vor allem habe ich verstanden, welcher Reichtum von unabhängigen Verlagen geschaffen wird.
Norbert Reichel: Das ging mir genauso. Erst seit ich mein Internetmagazin aufgebaut habe, wurde mir klar, wie viele tolle unabhängige Verlage es gibt und was für vielfältige und spannende Programme die bieten. Sie machen Vielfalt sichtbar oder vielleicht sollte ich sagen (nach)lesbar.
Axel von Ernst: Es gibt so viele unterschiedliche Dinge. Da gibt es Verlage, die sich mit bestimmten Szenen beschäftigen. Es gibt Verlage, die Traditionen pflegen, Verlage, die Lyrik machen. All diese Verlage sind für viele Autor:innen wichtig, denn bei Konzernverlagen hat man mit bestimmten Titeln keine Chance. Es gibt natürlich auch einige unabhängige Verlage, die 10.000er-Auflagen schaffen.
Abzusehen ist, dass unabhängige Verlage unter den jetzigen Bedingungen vermehrt sterben werden. Einige tun sich jetzt zusammen, beispielweise bei Bedey Media, wo sich 18 Verlage unter einem Dach zusammengetan haben. Der Kampa-Verlag hat jetzt mehrere Verlage unter seinem Dach aufgenommen, darunter auch sehr bekannte Namen wie Jung und Jung, Schöffling, Dörlemann, im unabhängigen Bereich umsatzstärkere Verlage. Aber viele Verlage geben auch einfach auf, Verlage, die im Feuilleton für ihre Projekte hoch gelobt werden, können nicht weitermachen, manche auch, weil die Verlegerin, der Verleger ein gewisses Alter erreicht haben und keine Nachfolge finden. Es ist nicht attraktiv, so etwas zu übernehmen, viel Arbeit ohne davon wirklich Gewinn zu haben.
Plädoyer für eine strukturelle Verlagsförderung
Norbert Reichel: Die Förderung von Vielfalt wäre meines Erachtens eine grundlegende Aufgabe staatlicher Kulturförderung.
Axel von Ernst: Wir kämpfen gerade für eine strukturelle Verlagsförderung. In der Schweiz und in Österreich gibt es das, auch in anderen Ländern.
Norbert Reichel: Wie steht die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien dazu?
Axel von Ernst: Sehr positiv. Sie hat im Haushalt 2023 bereits Gelder dafür bereitgestellt. Ein Hauptproblem sind jedoch die Bundesländer. Es handelt sich auch um eine Länderzuständigkeit und die einzelnen Länder haben sehr unterschiedliche Vorstellungen. Es gibt eben Länder, in denen es viele Verlage gibt, wie in Berlin oder in Bayern, andere, in denen es nur wenige Verlage gibt. Aber das ist falsch gedacht. Das Geld würde ja nicht nur an die Verlage gehen, sondern an eine ganze Szenerie, an Übersetzer:innen, an Graphiker:innen, an Buchbindereien, an Druckereien. Es würde eine ganze Struktur erhalten bleiben und die gibt es in allen Bundesländern. Da ist noch einiges an Lobbyarbeit erforderlich.
Es gibt allerdings auch den Gedanken, dass Verlage Wirtschaftsunternehmen sind und daher keine Kulturförderung bekommen könnten.
Norbert Reichel: Dann dürfte ich kein Theater mehr unterstützen.
Axel von Ernst: Kein Theater, keine Oper, kein Kino. Abgesehen davon gibt es Wirtschaftsförderung.
Norbert Reichel: Es geht um die Frage, was einer Gesellschaft wirklich wichtig ist. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich Literatur auf das reduziert, was in Abiturprüfungen abgefragt werden könnte.
Axel von Ernst: Eigentlich hat Literatur einen guten Ruf, aber wie sieht es mit den Leser:innen aus? Es gab ja diese sogenannte „Leserschwundstudie“ aus dem Jahr 2018. Das war ein großes Schockmoment. Es wurde festgestellt, dass zwischen 2012 und 2017 etwa sieben Millionen Leser:innen verschwunden waren. Das hatte man nicht am Umsatz gemerkt, weil die Bücherpreise angestiegen waren, auch teurere Bücher gekauft wurden. Untersucht wurden die Gründe: Es lag an den neuen technischen Möglichkeiten, die Leute schauen im Bett vorm Schlafengehen lieber in ihr Smartphone oder schauen Serien. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass es nach wie vor eine große Sehnsucht nach Büchern gibt, dass das Buch auch als etwas Schönes verehrt wird und dass es eine große Sehnsucht gibt, mal wieder in Ruhe zu lesen. Im Kinder- und Jugendbuchbereich ist der Buchverkauf nicht zurückgegangen, vor allem die mittleren Generationen kaufen weniger.
Norbert Reichel: Vielleicht kommt es nicht nur darauf an, dass man liest, sondern auch darauf, was man liest. Ich erinnere mich an eine merkwürdige Äußerung des China-Experten Klaus Mehnert (China nach dem Sturm, Stuttgart, DVA, 1971). Er bewunderte, wie die Kinder in Maos Reich lesen lernten. Sie lernten an Maos Schriften. Klaus Mehnert meinte, es sei doch letztlich egal, an welchen Texten man das Lesen lernte, Hauptsache, der Analphabetismus werde beseitigt.
Bei der Frankfurter Buchmesse 2024 gab es eine eigene Halle für „New Adult“. Beworben wurde das auf der Seite der Buchmesse wie folgt: „Du liebst aufregende Love Stories, die am College oder in geheimnisvollen Welten spielen? Du kanntest die Bücher schon, bevor sie Serienhits auf Netflix wurden? Und auf BookTok bist du immer auf der Suche nach dem neuesten ‚Enemies To Lovers‘-Roman?“ Im Grunde eine neue Variante von Populärliteratur oder vielleicht sollte ich sagen populärer Literatur.
Ein Beispiel staatlicher und ein Beispiel kommerzieller Literaturförderung.
Axel von Ernst: Ich denke schon, dass es schöner ist, wenn jemand sich hinsetzt und einen dicken Fantasy-Schmöker liest und genießt, als wenn er oder sie sich den ganzen Tag mit Quiz-Shows vor dem Fernseher oder Klicks auf dem Smartphone vergnügt. Das Problem liegt eigentlich darin, dass auch Menschen, bei denen es mal anders war, nicht mehr lesen, Menschen, die studiert haben, oder dann, wenn sie lesen, aber auch ausschließlich Fantasy und Krimis lesen.
„Gesperrte Ablage“ – die Dritte Literatur des Ostens
Norbert Reichel: Bei der Vorstellung ausgewählter Bücher aus dem Lilienfeld Verlag würde ich gerne mit „Gesperrte Ablage“ beginnen, das Sie 2015 veröffentlicht und dann im Jahr 2024 neu aufgelegt haben. Ines Geipel und Joachim Walther haben sich für eine Literatur eingesetzt, die aus ideologischen Gründen in der DDR unterdrückt und verfemt, aber auch nach der Friedlichen Revolution weitgehend ignoriert wurde. Ines Geipel spricht von der „Dritten Literatur des Ostens“. Die „Verschwiegene Bibliothek“, die in der Büchergilde Gutenberg veröffentlicht wurde, war auf 20 Bände geplant, wurde aber nach zehn Bänden eingestellt, weil das Interesse erlahmte. Da haben Sie mit „Gesperrte Ablage“ in eine Lücke hineininvestiert. In diesem Buch findet man Biographien, Textbeispiele von über 100 Autorinnen und Autoren, deren Texte zu einem großen Teil nach wie vor im Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur darauf warten, entdeckt und gewürdigt, möglichst auch gedruckt zu werden. Zu entdecken sind noch etwa 70.000 Manuskriptseiten.
Axel von Ernst: Publikum und Markt sind hart. Aber das Publikum kann für alles gewonnen werden. Davon bin ich fest überzeugt. Aber es gibt Beschränkungen. Und es gibt natürlich auch eine Tendenz des Skandals. Wo stecken Provokationen? Ein Buch wie das von Dirk Oschmann provoziert natürlich außerordentlich, das funktioniert, darüber kann man Fernsehsendungen machen, Interviews, Talk-Shows. Dann gibt es den Trend, eher Täter darzustellen, in allen historischen Bereichen. Am interessantesten sind die Monster. Das ist auch mit der DDR so. Es gibt viele Bücher über Bonzenfamilien, über kommunistische Biographien, auch im Filmischen, da ist die StaSi interessant. Siehe „Das Leben der Anderen“. Damit gewinnt man einen Oscar. Und die Täter werden besonders menschlich und verständnisvoll dargestellt. Da beginnt die Verharmlosung.
Es gibt nur wenige Ausnahmen. Dazu gehört zum Beispiel Steffen Mau, aber vor allem Ines Geipel. Sie sagt provozierende Dinge, die Widerstand hervorrufen, aus meiner Sicht Wahrheiten, nimmt dafür auch viel Gegenwind in Kauf. Jetzt wieder in „Fabelland“, das 2024 bei S. Fischer erschien. Ines Geipel kämpft gegen Klischees an, die sich festgefressen haben und sich möglicherweise nur über Jahrzehnte wieder auflösen lassen. Es gibt die Fakten-Welt der Historiker:innen, in der die Dinge klarer liegen, die aber etwas anderes ist als die Welten der Menschen mit den verschiedensten Bezügen zur DDR.
Norbert Reichel: Zu diesem Thema empfehle ich gerne das Buch „Tausend Aufbrüche“ von Christina Morina. Sie hat keine Geschichte der Bürgerrechtsbewegung geschrieben, auch keine Geschichte der Transformationszeit, sondern eine Geschichte von Menschen, die sich in den ersten Jahren nach der Friedlichen Revolution gegenüber staatlichen Stellen und Repräsentanten geäußert hatten. Das waren noch andere Zeiten: Damals brauchte man Papier, auf das man etwas schrieb, dann einen Briefumschlag, auf den man eine Briefmarke kleben musste, den Brief musste man dann in den Briefkasten werfen. Da gab es schon einige Barrieren, die heute im Zeitalter der sogenannten „sozialen Medien“ und Kommentarspalten geschleift worden sind.
Axel von Ernst: Ich bin bei diesem Thema eigentlich aus eigenem Trauma heraus etwas unwillig, weil mein Hintergrund auch ein Ost-Hintergrund ist. Meine Mutter kommt aus Düsseldorf, ist ihrem Mann in den Osten gefolgt, dann wurde die Mauer gebaut und sie kam nicht mehr zurück in den Westen. Es hat 27 Jahre gedauert, bis sie unter Schwierigkeiten mit mir zusammen wieder in den Westen zurückkam. Ich selbst bin 1971 geboren und bis zu meinem 15. Lebensjahr in der DDR aufgewachsen und kann daher beurteilen, was Ines Geipel erzählt und wer welchen Unsinn erzählt. Interessant ist natürlich, dass ich als jemand, der jetzt aus Düsseldorf kommt und dann mit dem Namen „von Ernst“ ohnehin sehr westdeutsch zu sein scheint, nie als Ost-, sondern immer als Westdeutscher gesehen werde. Dann höre ich zuerst, dass ich als Westdeutscher mir kein Urteil darüber erlauben dürfte, was in Ostdeutschland geschehen sei und geschieht. Irgendwann sage ich dann, woher ich kam, und bekomme dann zu hören, ich wäre ja so früh weggegangen. Und tatsächlich habe ich diese Umbruchszeit nur aus der Ferne mitbekommen.
Norbert Reichel: Fazit letztlich, Sie können sagen was Sie wollen, Ihnen wird die Ostkompetenz abgestritten, sofern es so etwas überhaupt gibt, zumindest setzen manche voraus, dass es so etwas gibt.
Axel von Ernst: Man kann nicht alles, was schiefläuft, beziehungsweise schiefgelaufen ist, einfach pauschal dem Westen vorwerfen. Es sind Folgen der Diktatur. Ines Geipel schreibt unter anderem auch genau dies in ihren Büchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln.
Die „Gesperrte Ablage“ ist für unseren Verlag eigentlich ein ungewöhnliches Buch. Wir veröffentlichen keine Sachbücher, sondern Literatur, die lange nicht lieferbar war, die bisher nicht übersetzt worden ist. Wir haben die „Gesperrte Ablage“ aber gemacht, weil viele der dort genannten Autorinnen und Autoren ja gar nicht in normaler Form wiederentdeckt werden können, weil sie nie verlegt wurden. Das Buch erzählt ihre Geschichten.
Norbert Reichel: Manche Texte findet man nur in der „Gesperrten Ablage“. Zum Beispiel Texte von Jutta Petzold. Insofern ist Ihr Buch gleichzeitig Sachbuch und Literatur.
Axel von Ernst: Die „Gesperrte Ablage“ erzählt, was nicht stattgefunden hat. Das ist auch typisch für Ines Geipel. Sie schafft eine Gegenerzählung. Wenn man über kritischere DDR-Literatur spricht, hören Sie immer die gleichen Namen, Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Heym. Aber das ist nicht die DDR-Literatur. Da gibt es noch etwas ganz anderes. Die Autorinnen und Autoren, die Ines Geipel vorstellt, wurden extremer und sehr hart bekämpft.
Norbert Reichel: Eine Autorin, die auch in der „Verschwiegenen Bibliothek“ und in der „Gesperrten Ablage“ eine wichtige Rolle spielt, jetzt aber wiederentdeckt wird, ist Gabriele Stötzer. Wir sehen sie in dem Film „Die Unbeugsamen 2“, wir lesen Interviews mit ihr, sehr lesenswert ein Doppelinterview mit Gabriele Stötzer und Christa Nickels in der Süddeutschen Zeitung. Andererseits bleibt eine Autorin wie Edeltraud Eckert, die Ines Geipel meines Erachtens sehr treffend „die Sophie Scholl des Ostens“ nennt, leider nach wie vor wenig bekannt.
Axel von Ernst: Das ist Lyrik, und die Frau ist tot, kann keine Interviews mehr geben. Das macht es schwierig. Wir wollen mit Ines Geipel darüber nachdenken, was wir in solchen Fällen noch mehr tun können. Es findet sich jedenfalls viel überraschende literarische Qualität im Archiv, und all das mit den Lebensgeschichten, die zeigen, wie hart die DDR wirklich war.
Auch der westliche Blick ist manchmal schwierig. Heute gibt es zum Beispiel Interesse an DDR-Design. Als das aber in der DDR entstand, war es eigentlich immer schon veraltet, spießig, gar nicht so niedlich, wie der naive Blick es manchmal sieht; auch diese Designs waren Teil und Ausdruck des Zwangssystems. Die Ostalgie kenne ich aber auch, es ist so eine Art Kindheitsnostalgie. Ich war einmal in Leipzig in einer Bar, da gab es DDR-Schulessen, Jagdwurst und Makkaroni, und ich habe mich gefreut, es mal wieder zu schmecken. Das war nämlich fast das Einzige, was in der Schule schmeckte. Aber das hat mit der DDR eigentlich nichts zu tun, damit verbindet sich ein Kindheitsgefühl. Oft wird hier etwas verwechselt. Manche sagen z. B., wir haben doch damals so schön gefeiert. Das war sicherlich schön, aber macht das die DDR besser? Die war und blieb eine ekelhafte Diktatur.
Norbert Reichel: Anna Kaminsky, die Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, sagte in unserem Gespräch für den Demokratischen Salon: „Kommode Diktaturen gibt es nicht.“ Das hatte Günter Grass mal über die DDR gesagt und viele glauben das noch heute. Wer bedroht wurde, fand die DDR alles andere, aber nicht „kommod“.
Axel von Ernst: Es gehörte zur Atmosphäre dazu, dass alle bedroht waren. Das gehörte zur Diktatur. Es war ein Gefängniskomplex. Ich bin da traumatisiert, ich habe mitbekommen, wie meine Mutter gequält wurde, wie ihr nach einem Ausreiseantrag gedroht wurde, man würde mich ihr wegnehmen und in ein Heim stecken. Sie wurde beleidigt, mit Gefängnis bedroht, so richtig mit Lampe ins Gesicht: „Warum wollen Sie ins imperialistische Ausland?“ Der Mann, der sie verhört hat, bekommt jetzt wahrscheinlich seine schöne Beamtenpension, wählt AfD, freut sich, wenn er der Demokratie eins auswischen kann, und erzählt wahrscheinlich, dass er nichts mehr sagen darf in der „Demokratur“.
Norbert Reichel: Dabei sollte er sich lieber fragen, warum ihm jemand nur widerspricht, wenn er sagt, was er sagen will. Ins Gefängnis will ihn niemand stecken.
Axel von Ernst: Meine Mutter hat den Ausreiseantrag 1983 gestellt, wir mussten viereinhalb Jahre warten. Die Bekanntgabe fand in einer Telefonzelle statt. Meine Mutter wurde in meiner Heimatstadt Tangermünde in eine Telefonzelle bestellt. Sie wusste nicht, worum es ging. Das Telefon klingelte. Der Mann sagte als erstes: „Sie können sich freuen, Sie werden Ihren Sohn“ (gemeint war mein älterer Bruder) „und ihre Enkel nicht mehr wiedersehen.“ Das hieß übersetzt: Sie dürfen ausreisen. Diese Art der Kommunikation gehörte dazu. Sie wurde auf diese Art und Weise alle zwei Monate verhört. Das reichte, um sie fertigzumachen. Meine Mutter erschrak sich noch in Düsseldorf immer, wenn das Telefon klingelte. Sie zuckte extrem zusammen. Wenn ich dann lese, was andere an noch Schlimmerem durchmachten … All das hat Ines Geipel dokumentiert. Sie selbst hat es auch erleben müssen. „Zersetzungsmaßnahmen“, so hieß das.
„Das Unterkind“ – Das allmähliche Verschwinden der Sicherheit
Norbert Reichel: Als zweites Buch würde ich gerne „Das Unterkind“ mit Ihnen besprechen, eine Übersetzung aus dem Englischen, obwohl die Autorin Karen Gershon aus Bielefeld kommt. In Bielefeld hieß sie noch Käthe Löwenthal. Sie ist mit den sogenannten Kindertransporten der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine entkommen und hat später in England Bücher geschrieben und veröffentlicht, darunter das autobiographische Buch „A Lesser Child“. Das Nachwort schrieb Naomi Shmuel, Tochter der Autorin. Es wurde 1992 von Sigrid Daub übersetzt und erschien damals bei Rowohlt. Das Buch dokumentiert neben den autobiographischen Wirren eines Kindes und Teenagers schonungslos vor allem zwei Dinge:
- Das Erste: Es geschieht etwas Schreckliches, aber die Betroffenen merken zunächst nicht, was sich da zusammenbraut. Es erinnerte mich ein wenig an den Roman „Badenheim“ von Aharon Appelfeld, in dem die Jüdinnen und Juden dieser Kurstadt zunächst auch nicht ahnen, was für ein Schicksal ihnen von der Staatsmacht zugedacht ist. In „Badenheim“ besteigen sie den Zug und jemand sagt, die Reise könne nicht weit gehen, wenn die Waggons so schmutzig sind.
- Das Zweite: das Tempo, in dem sich seit dem 30. Januar 1933 der Terror entwickelte. Es dauerte keine zwei Monate und es war absehbar, wohin die Schikanen gegen Jüdinnen und Juden, gegen Andersdenkende, gegen Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen, gegen Christ:innen, die sich gegen die Nazis stellten, führen würden. Am 1. April 1933 wurden jüdische Geschäfte boykottiert und die Bevölkerung machte mit. Am 7. April 1933 wurde das Gesetz mit dem euphemistischen Titel „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verkündet, das zur Entlassung aller jüdischen Angehörigen des öffentlichen Dienstes führte, in den Schulen, den Hochschulen, der Verwaltung. Ausgenommen waren zunächst nur die Kriegsteilnehmer, die sogenannten „Frontkämpfer“, aber auch das änderte sich schnell.
Das Buch gehört zu den Wiederentdeckungen, denen Sie sich mit dem Lilienfeld Verlag verpflichtet sehen.
Axel von Ernst: Es gehört auch zu den Büchern einer marginalisierten Literatur. Im Hinblick auf die deutsche Literatur betrifft das in hohem Maße Literatur, die im Exil entstanden ist. Da gibt es noch einige Entdeckungen zu machen. In diesem Kontext bin ich auf Karen Gershon aufmerksam geworden. Sie hatte ein Buch mit dem Titel „Wir kamen als Kinder“ geschrieben. Sie selbst war über einen Kindertransport gerettet worden. Nach dem Krieg, Anfang der 1960er Jahre, hatte sie andere Kinder der Kindertransporte gebeten, ihre Erlebnisse zu schildern. In welchen Pflegefamilien wart ihr? Welche beruflichen Karrieren habt ihr gemacht? Welche Schwierigkeiten gab es? Und so weiter.
Dieser Chor der Kinder der Kindertransporte beeindruckt, weil er ein Gesamtbild gibt und zeigt, was diesen Kindern eigentlich angetan worden ist. Zunächst denken wir, tolle Sache, die sind gerettet worden. Aber die haben ihre Eltern zum letzten Mal auf dem Bahnsteig gesehen, sie kamen in eine fremde Welt, wurden auf irgendwelche Familien verteilt, kamen in völlig andere Lebensverhältnisse als die, in denen sie bisher aufgewachsen waren. So kamen Kinder aus einer Arztfamilie zu Bauern. Es wurde willkürlich verteilt. So haben sich auch die Leben verändert. Einige Kinder, die als Kleinkinder gerettet wurden, schildern, wie sie später ihre Eltern wiedergesehen haben, die aus der KZ-Haft gerettet wurden, schwer beschädigt, physisch wie psychisch. Es gibt auch einige positive Geschichten, weil manche Kinder Glück gehabt haben, in eine gute Familie kamen, die ihnen eine gute Ausbildung schaffen konnte. Aber sie alle hatten das Trauma der Trennung von den Eltern.
Ich habe mich zuerst nach diesem Buch erkundigt und mich dann informiert, was es sonst noch von Karen Gershon gab. Es gab Bücher von ihr auf Deutsch in einem kleinen Verlag, dem Alibaba-Verlag, der später hauptsächlich Kinderbücher gemacht hat, ein Verlag, den es nicht mehr gibt. Dieser Verlag hatte in den 1980er Jahren „Wir kamen als Kinder“ veröffentlicht, Rowohlt dann in den 1990er Jahren „Das Unterkind“. Ich habe mir die Bücher kommen lassen, und ich dachte, diese Frau muss wiederentdeckt werden.
Karen Gershon hat Lyrik geschrieben, sie war eine Frau, die sich mit Sprache befasste. Sie blieb auch in der Art, wie sie schrieb, sehr trocken, das ist vielleicht das westfälische Erbe. Sie erzählt in keiner Weise romantisch, sie erzählt knallhart alle Probleme, die psychischen Verstrickungen junger Mädchen. Das Buch ist auch eine Art Coming-of-Age-Roman im Rahmen dieser politischen Entwicklungen. Und dann diese Familiengeschichte. Vor allem der Vater, der eigentlich Architekt ist, nicht mehr als solcher arbeiten kann, gezwungen ist, seine Familie mit vielen kleinen Nebenjobs über Wasser zu halten. Die Familie verarmt immer mehr, kommt immer mehr herunter. Gleichzeitig wird die Familie extrem diskriminiert, auf der Straße, die drei Töchter in der Schule.
Norbert Reichel: Eine Freundin zieht sich zurück und sagt eines Tages: „Ich bin ein deutsches Mädchen, ich spiele nicht mehr mit dir.“
Axel von Ernst: Bei jedem Buch, das man über den Holocaust liest, ist etwas Neues dabei, das noch einmal im Kopf etwas aufploppen lässt, das man nicht wusste. Viele meinen, sie wüssten alles, weil sie die Leichenberge in Auschwitz im Fernsehen gesehen hätten. Aber das war das Ende. All die alltäglichen Diskriminierungen, die Schikanen und deren Zuspitzung, die Auschwitz möglich machten, sollte man kennen, wenn man wissen will, wie eine Diktatur funktioniert.
Ein Punkt, der für mich in diesem Buch besonders eindrücklich war, war die Bedeutung der Synagogen. Da wurden eben nicht nur Häuser angezündet, im „Unterkind“ wird erzählt, wie die Synagoge immer mehr zum letzten verbliebenen sicheren Ort für die jüdische Bevölkerung wurde. Da konnten sich alle noch sammeln, dorthin konnte man sich zurückziehen, auch diejenigen, die sonst mit Religion eigentlich wenig zu tun hatten. Dieser letzte sichere Ort wurde angezündet. In dem Buch wird deutlich, was das heißt. Der letzte Boden wurde unter den Füßen weggezogen.
Norbert Reichel: Ich wage die Analogie, dass dies zeigt, was es bedeutet, Israel als Safe Space zu verstehen. Dies ist mit dem genozidalen Terrorangriff der Hamas zerstört worden.
Axel von Ernst: Das zeigt das Buch von Karen Gershon. Es ist auch schön, dass sich die Stadt Bielefeld als Heimatstadt von Karen Gershon für diese Entdeckung so offen gezeigt hat. Die Autorin hat sich immer als Bielefelderin bezeichnet. Jetzt wird in Bielefeld ein Platz nach ihr benannt. Ihre Töchter waren in Bielefeld zu Besuch und wurden herzlich empfangen, im Gegensatz zu den 1990er Jahren, als sie auch schon einmal in Bielefeld waren, ihnen aber die Türen vor der Nase zugeschlagen wurden, als sie die Orte besuchen wollten, wo ihre Familie gelebt hatte. Diesmal wurden sie selbstständig von der Familie eingeladen, die jetzt in der Wohnung wohnt, wo die Familie von Karen Gershon, die Löwenthals, gewohnt hatten. Ein ganz anderer Zugang. Mich hat es, doch mit Glück erfüllt, dass sich da bei uns wohl etwas im Zugang zur Geschichte verändert hat, allen anders wirkenden aktuellen Wahlergebnissen zum Trotz.
Norbert Reichel: Ich würde mich freuen, wenn noch weitere Bücher von Karen Gershon in Ihrem Verlag erscheinen würden.
Axel von Ernst: Das ist auch so geplant.
„Heimliches Berlin“ und „Kafkas Leoparden“
Norbert Reichel: Sie haben drei Romane von Franz Hessel veröffentlicht: „Heimliches Berlin“, „Pariser Romanze“ und „Der Kramladen des Glücks“.
Axel von Ernst: Franz Hessel hat eine kleine Gemeinde, die ihn kennt und schätzt, vornehmlich durch seine Flâneur-Geschichten: „Spazieren in Berlin“, das ist ein Buch, das nicht bei uns, sondern im Verlag für Berlin und Brandenburg erschienen ist. Der Roman „Heimliches Berlin“ ist eine wunderbare Ergänzung. Darin gibt es auch eine Flâneur-Passage, die ich bei Lesungen immer vortrage. Es geht in dem Roman um Ereignisse in den 24 Stunden eines einzigen Tages und einer einzigen Nacht im Jahr 1924. Er wurde 1927 veröffentlicht. An diesem einen Tag findet das gesamte 1920er-Jahre-Berlin statt. Marlene Dietrich tritt auf, auch wenn ihr Name nicht genannt wird. Sie singt in einer Bar. Sexuelles Durcheinander, Verarmung, Politik, Aufbruchstimmung, Antisemitismus, Aufkommen rechter Bewegungen, all das in diesen etwa 130 Seiten.
Wir sind durch den Düsseldorfer Professor Bernd Witte auf die Romane aufmerksam geworden. Die Romane waren in der Bibliothek Suhrkamp erschienen und er hatte die Bände betreut und Nachworte verfasst. Er gab auch Seminare über Franz Hessel. Viola schaute irgendwann einmal nach, was mit diesen Büchern ist, und stellte fest, dass sie lange nicht mehr lieferbar waren. Wir haben dann beschlossen, Franz Hessel in unser Programm aufzunehmen. Auch die anderen Romane, „Kramladen des Glücks“, u. a. ein Bild der Münchner Gesellschaft im Jahr 1913, „Pariser Romanze“, ein großartiger Paris-Bohème-Roman, verkaufen sich gut. Das hängt meines Erachtens vielleicht mit den drei Städten zusammen und der Zeit, in der sie spielen.
Norbert Reichel: Die 1920er und 1930er Jahre interessieren ohnehin viele Menschen. Anders wäre der Erfolg der inzwischen zehn Romane von Volker Kutscher mit den Hauptpersonen Gereon Rath und Charlotte Ritter nicht erklärbar, verfilmt in der Serie „Babylon Berlin“, wenn auch zum Teil mit deutlichen Abweichungen vom literarischen Original. Aber Volker Kutscher schreibt bei aller Qualität seiner Recherchen und all seiner historischen Genauigkeit aus der Gegenwart der 2000er und 2010er Jahre über eine vergangene Zeit. Ich kann daher nur empfehlen, Franz Hessel zu lesen und dann vielleicht weitere Berlin-Romane und -Reportagen der damaligen Zeit zu entdecken.
1924 starb Franz Kafka, sodass wir irgendwie in der Zeit bleiben, wenn wir über „Kafkas Leoparden“ sprechen, eine Perle in Ihrem Angebot, eine Übersetzung aus dem Brasilianischen. Der Autor ist Moacyr Scliar. Ich hatte „Kafkas Leoparden“ in Ihrer schönen Ausgabe im Jahr 2013 erworben, als Brasilien Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Außerdem haben Sie seinen Roman „Die Ein-Mann-Armee“ veröffentlicht, beide Romane aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt. Schade, dass beide Bücher zurzeit nicht lieferbar sind, aber das kann sich ja noch ändern? Wie haben Sie diesen Autor entdeckt?
Axel von Ernst: Das Buch kam über Michael Kegler, den Übersetzer, zu uns. Übersetzer wissen, was wir machen, und wenden sich dann an uns. Manche schreiben uns an, manche sprechen uns auf Buchmessen an. Übersetzer:innen kennen sich gut in den Ländern aus, aus denen sie Bücher übersetzen. Michael Kegler wurde mehrfach ausgezeichnet. Er wusste, dass Moacyr Scliar in Brasilien ein Klassiker ist. Er hatte auch ein Lieblingsbuch, die „Ein-Mann-Armee“, die allerdings von Karin von Schweder-Schreiner übersetzt worden war. Da sagte er, es gäbe noch „Kafkas Leoparden“. Das Buch sei noch nie übersetzt worden. Um das Buch gab es einmal einen kleinen Skandal im Zusammenhang mit „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel. Scliar hat sich beschwert, dass einiges in diesem Buch bei ihm plagiiert worden sei. Das war aber eine Nebensache, Michael Kegler empfahl den Ton, den Humor, das Politische, das Spezielle des Jüdisch-Brasilianischen des Autors, das wäre etwas für uns. Wir haben uns darauf eingelassen, und er hat es fantastisch übersetzt. Das ist auch das Schöne am Verlag. Wir treffen tolle Leute mit vielen tollen Ideen. Die bringen immer wieder neue Autorinnen und Autoren, es entsteht ein Netzwerk von Erfahrungen mit Dingen, die man sonst nie entdeckt hätte. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es einen jüdisch-brasilianischen Schriftsteller gibt, der sich mit jüdischem Leben in Brasilien beschäftigt und dann auch noch mit Trotzkismus. Trotzki ist natürlich auch ein zwiespältiger Fall. Er hat eine Diktatur aufgebaut, mit all ihrem Terror, wurde dann von seinen eigenen Leuten herausgeworfen und landete selbst im Exil. Diese Ambivalenz haben wir auch bei Scliar.
„Kafkas Leoparden“ beginnt in der Ukraine, in einem jüdischen Stetl, in der Armut und der Repression, da begeistern sich Leute für den Sozialismus und einer wird durch einen merkwürdigen Umstand beauftragt, einen Menschen in Prag aufzusuchen, mit dem er Kontakt aufnehmen soll. Ein Geheimauftrag Trotzkis. Da beginnt die Reise des Benjamin Kantarovich, der Hauptperson des Romans, und sie endet nach einem Treffen mit Kafka in Prag, den er für die Kontaktperson hält, der es aber nicht ist, in Brasilien. Dort hat die Geschichte noch Folgen in der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur in den 1960er Jahren. Der Text von Kafkas Leoparden begleitet die Personen bis in diese Zeit, ein kleines Blatt Papier als Dreh- und Angelpunkt, von Kafka unterschrieben, das der Geheimdienst für einen Code halten wird. Subversiv oder Blödsinn? Das ist die Alternative. Wertvoll oder Blödsinn? Das ist die Alternative, die Gesellschaft und Politik bezogen auf die unabhängigen Verlage zu entscheiden haben.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2024, Internetzugriffe zuletzt am 26. November 2024. Titelbild: Bibliothek in Dublin, Foto: Hans Peter Schaefer.)