Liebe Freund:innen des Demokratischen Salons,

Ihnen allen wünsche ich für das Jahr 2024 alles Gute, für Sie persönlich wie für die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit. Möge die liberale Demokratie gestärkt werden! Wir alle können dazu beitragen. Wie eine liberale Demokratie schleichend abgeschafft werden könnte, hat Ronen Steinke am 28. Dezember 2023 in der Süddeutschen Zeitung beschrieben. So wie er es beschreibt muss es nicht kommen. Die Wahlen in Estland, Polen und Spanien waren Lichtblicke, die Wahlen in der Slowakei, in den Niederlanden, in Bayern und in Hessen eher nicht. Im Jahr 2024 werden das Europaparlament, drei Landtage, die Parlamente in Mexiko, Österreich, Taiwan, den USA und wahrscheinlich auch im Vereinigten Königreich gewählt. Überall sollte gelten: Liberale Demokratie ist unteilbar, eine Demokratie, die Menschen ausschließt, sich illiberal verformt, ist keine Demokratie.

Das Editorial der Dezemberausgabe 2023 des Demokratischen Salons fragt, durchaus in dem genannten Kontext: „Wer hat den Farbfilm vergessen?“. Es beschäftigt sich mit der Frage, was die sogenannte politische Farbenlehre mit Weihnachtsbäumen zu tun hat (Rubrik: Liberale Demokratie). Und natürlich finden Sie in diesem Newsletter Empfehlungen zum Besuch von Veranstaltungen und Ausstellungen sowie Leseempfehlungen und Hintergrundinformationen.

Die acht neuen Texte im Demokratischen Salon:

  • Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, spricht über Angst und Verunsicherung vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland. Der Titel der Dokumentation des Gesprächs greift einen Satz von Edgar Keret auf: „Wir leben in dunklen Zeiten“. Thema sind auch die Mühen, gemeinsame Erklärungen auch mit den muslimischen Gemeinden zu formulieren, und nicht zuletzt die Enttäuschung über das empathielose Verhalten vieler Linker, die das Leid der Ermordeten und Entführten vom 7. Oktober sowie ihrer Familien nicht sehen zu wollen scheinen: „Wir haben eine unheilige Allianz von links und rechts.“ (Rubriken: Antisemitismus, Jüdischsein)
  • Am 9. November 2023, dem 85. Jahrestag des Nazi-Pogroms von 1938, sprach Zwi Rappoport in Dortmund über den 7. Oktober 2023 und die Folgen: Nie wieder ist jetzt! Er erinnerte auch an den Mordanschlag vom 9. Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle und fragte, einen Gedanken von Ralph Giordano aufgreifend, ob „die deutsche Gesellschaft nicht im Begriff ist, eine dritte Schuld auf sich zu laden.“ Das traurige Fazit: „Wir fühlen uns weitgehend alleingelassen.“ Die Rede darf im Demokratischen Salon dank der Genehmigung des Jüdischen Echos Westfalen (J.E.W.) veröffentlicht werden. (Rubriken: Antisemitismus, Shoah)
  • Meltem Kulaçatan hat zur Deutschen Islamkonferenz eine Studie zu den muslimischen Perspektiven auf Muslimfeindlichkeit vorgelegt, die sie im Lichte des Massakers der Hamas vom 7. Oktober 2023 neu bewertet. Sie wendet sich Wider die Empathiesperre gegenüber den Opfern sowie die pauschale Verurteilung aller Muslim:innen, die eine „Gesprächssperre“ Sie berichtet von Anrufen von Muslim:innen, die ihre Solidarität mit Jüdinnen:Juden bekunden möchten, aber auch von Stereotypisierungen und heftigen Anfeindungen berichten bis hin zu genozidalen Morddrohungen. Diskriminierungserlebnisse durchziehen alle Lebensbereiche. (Rubriken: Islam, Migration)
  • Jürgen Wiebicke, Hörer:innen von WDR 5 über „Das philosophische Radio“ bekannt, schreibt Bücher, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Er berichtet über seine Erfahrungen in der Dokumentation unseres Gesprächs mit dem Titel „Gute Orte und die Lust zu streiten“. Er erlebt Menschen als „helfensbedürftig“ (Klaus Dörner) und offen für demokratischen Streit. Er sucht mit ihnen Wege aus den üblichen „Angstgesprächen“ heraus zu einer „Wahrhaftigkeit“. Politiker:innen gewännen, wenn sie die bestehenden Probleme benennen und sich mehr in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen hineindenken würden. (Rubriken: Liberale Demokratie, Treibhäuser)
  • Benjamin Kuntz hat mit mehreren Kolleg:innen zwei Bücher herausgegeben, die „Zeitzeugen der medizinischen Forschung“ vorstellen, 51 Biographien vorwiegend von jüdischen Wissenschaftler:innen, die aufgrund der NS-Gesetzgebung vom 7. April 1933 ihre Stellung im Robert-Koch-Institut (RKI) oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen verloren. Der Band „Erinnerungszeichen“ dokumentiert die Biografien der zwölf im RKI entlassenen Wissenschaftler:innen, der Band „39 Charakterköpfe“ jüdische Wissenschaftler sowie nichtjüdische Wissenschaftler, die an der Entlassung mitwirkten. Die Biografien ergeben ein authentisches Bild der Zeitgeschichte. (Rubrik: Shoah)
  • Michael Hänel belegt in seinem Essay „Vergifteter Frieden – Der lange Schatten des Jahres 1981“ die nach wie vor latente Naivität der deutschen Friedensbewegung. Die Sowjetunion ging unter, aber das Russland Putins mobilisiert seine Bündnispartner im „Westen“ nach demselben Muster, imperial, mit Mitteln der Geheimdienste, der Desinformation, gegen NATO und USA, gegen das westliche Europa (zu dem heute auch die meisten Länder des untergegangenen Warschauer Pakts gehören). Unter anderem am Beispiel Erhard Epplers zeigt der Autor, wie sich die Bilder des Jahres 1981 und des Jahres 2022 ähneln. (Rubriken: Osteuropa, Weltweite Entwicklungen)
  • Norbert Reichel plädiert im Essay „Kontextualisierung im Kontext“ für eine Geschichtskultur, die die Vielfalt der Erinnerungen ebenso anerkennt wie die Besonderheit der Shoah. Der Essay bewertet zwei Sammelbände: Meron Mendel in „Singularität im Plural“ und Stephan Grigat mit drei Co-Herausgebern in „Erinnerung als höchste Form des Vergessens?“ bieten Argumente zur Auflösung einer Opferkonkurrenz von Shoah und Kolonialverbrechen. Die Autor:innen der beiden Bücher hinterfragen und analysieren die Verwendung von Begriffen wie „Singularität“, „Präzedenzlosigkeit“, „Völkermord“, „Staatsräson“, „Opfer“ und „Täter“. (Rubriken: Shoah, Opfer und Täter:innen)
  • In dem Essay „Projektionen und Spiegelungen – Das gefährliche Gemisch des israelbezogenen Antisemitismus“ stellt Norbert Reichel den bereits 2004 erschienenen, 2018 ergänzten Sammelband „Neuer Antisemitismus?“ vor, den Christian Heilbronn, Doron Rabinovici und Natan Sznaider im Jahr 2023 neu aufgelegt haben. Der Band präsentiert sich als Forum widerstreitender Positionen und zeigt, wie völkisch und christlich legitimierende Rechte, antikolonialistische Linke und Islamisten antisemitisch agieren und dabei alte Muster über die Umwegkommunikation des Antizionismus neu beleben. (Rubriken: Levantinische Aussichten, Antisemitismus)

Zur Illustration diesmal ausgewählte in diesem Newsletter angesprochene Buchcover, vielleicht auch als Anregung, den ein oder anderen jahreszeitlich erhaltenen Gutschein mit einer dieser Empfehlungen einzulösen.

Veranstaltungen, Ausstellungen, Wettbewerbe:

  • „Wir werden wieder tanzen“: „Um 6.29 Uhr kam der Horror.“ Dies ist die Überschrift des Berichts von Sabine Brandes vom 14. Dezember 2023 in der Jüdische Allgemeinen über die Ausstellung 6.29 in Tel Avivs Messe-Expo, die an die 360 Ermordeten des Supernova-Festivals erinnern soll. Die Ausstellung ist „eine akribische Nachstellung des Festivals“. Zu sehen sind Fotos sowie Originalgegenstände, sogar Sand vom Ort des Festivals, die Tonausrüstung des ermordeten Tontechnikers Matan Lior, Tische voller Schuhe, Rucksäcke, Sonnenbrillen, Puderdosen und Lippenstifte, ein Schminktäschchen mit dem Aufdruck ‚Berlin‘. (…) Die Ausstellungsbesucher durchlaufen komplexe Emotionen, wenn sie entlang der Installationen laufen, die durchgehend in ein Halbdunkel getaucht sind.“ Aber: „Am Ausgang ist es plötzlich hell und bunt. An der Wand hängt ein Poster in allen Farben des Regenbogens. ‚We will dance again‘ steht in farbigen Buchstaben darauf: ‚Wir werden wieder tanzen‘.“ In derselben Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen berichtet Sabine Brandes von Mia Schem, eine der fünf inzwischen freigelassenen Geiseln des Nova-Festivals. Sie trägt ein Tattoo mit den Worten „Wir werden wieder tanzen“.
  • Science Fiction: In den Räumen des Kulturrings Berlin-Treptow trifft sich jeden zweiten Donnerstag im Monat der SF-Club Andymon. Das nächste Treffen findet am 11.  Januar 2024 statt. Der Club bietet Informationen und Austausch über aktuelle Themen der Science Fiction, neue Publikationen und Filme, Jahrbücher und Zeitschriften sowie Debatten mit Autor:innen über Texte und Filme vergangener Zeiten. Einige der teilnehmenden Autor:innen, beispielsweise Karlheinz Steinmüller und Hans Frey haben ihre Bücher auch bereits im Demokratischen Salon vorgestellt, nicht zuletzt im Hinblick auf ihre historisch-politische Bedeutung in der Geschichte und für Zukunftsszenarien. Organisator der Treffen ist Wolfgang Both, dessen Buch „Rote Blaupausen – Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien“ 2021 bei Beck erschien.
  • Jüdisch sein in der DDR: „DDR am Dienstag“ ist der Titel einer Veranstaltungsreihe bis zum 14. Januar 2024 anlässlich der Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ im Jüdischen Museum Berlin in der Lindenstraße. Geboten werden Biografien, Lesungen, Künstlergespräche, Performances. Anmeldung ist nicht erforderlich, ein Ticket für die Ausstellung reicht aus. Außerdem gibt es einen begleitenden Podcast.
  • Ede und Unku: Das Jugendbuch „Ede und Unku“, das im Jahr 1931 die kommunistische Autorin Grete Weiskopf verfasste, war in der DDR Pflichtlektüre. Heute kennt es kaum noch jemand. Der Arbeiterjunge Ede und das Sinti-Mädchen Unku haben wirklich gelebt. Am 27. Januar 2023, 17 – 19 Uhr, erinnert eine Veranstaltung im Dokumentations- und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma in Heidelberg, Bremeneckgasse 2, an ihre Geschichte. Der Musiker Janko Lauenberger und die Journalistin Juliane Grimm-von Wedemeyer haben sich auf Spurensuche begeben. Unkus deutscher Name war Erna Lauenburger, sie war Jankos Urgroßcousine und wurde 1944 in Auschwitz von den Nazis ermordet – zusammen mit dem Großteil ihrer Familie. Nun erzählt er Unkus wahre Geschichte sowie seine eigene Geschichte als Sinto in der DDR sowie im wiedervereinigten Deutschland. Der Eintritt ist frei.
  • Jugendwettbewerb „Umbruchszeiten. Deutschland im Wandel seit der Einheit“: Der von der Bundesstiftung Aufarbeitung ausgelobte Wettbewerb richtet sich an Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren aller Schulformen und lädt sie ein, sich auf historische Spurensuche für die Jahre 1989/90 zu begeben. Einsendeschluss ist der 1.  Februar 2024. Die Preisverleihung findet in Berlin statt. Es gibt 30 Preise bis zu 3.000 EUR. Das Schwerpunktthema lautet „Gesellschaft in Bewegung“: „Jugendliche können sich mit ganz verschiedenen Arten von Bewegung befassen: Welche Geschichte verbirgt sich hinter einem Umzug zwischen Ost und West? Was bedeutete die Wiedervereinigung für Menschen, die als Gast- oder Vertragsarbeiter/-innen nach Deutschland gekommen waren? Wie veränderten sich politische Strömungen wie die Frauen- oder Umweltbewegung?“ Weitere Informationen auf der Internetseite des Wettbewerbs beziehungsweise dem Flyer des Wettbewerbs.
  • Zukunftsszenarien: Das Szenarioprojekt „Neue Horizonte 2045 – Missionen für Deutschland” zielt auf die gemeinsame Entwicklung positiver Narrative für eine gelingenden Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Das Jahr 2045 ist das Jahr, in dem Deutschland laut der Klimagesetzgebung klimaneutral sein soll. Es geht aber nicht „nur“ um Klimaneutralität, sondern gleichermaßen um sozialen Zusammenhalt, der mehr sein muss als das alte Wohlstandsversprechen. Das Team des Projektes beabsichtigt, Zielkonflikte, die in allen Handlungsfeldern existieren, herauszuarbeiten, um kompromissfähige Transformationspfade und Missionen im Dialog mit den jeweiligen Stakeholdern für das Jahr 2045 zu entwickeln. Der Prozess wird mit dem Open Forsight-Ansatz interdisziplinär angelegt, ist aber offen für Kritik und Experimente. Auch die Leser:innen des Demokratischen Salons sind eingeladen, die vorliegenden D2045-Szenarien in einem verdichteten Verfahren (mit nur 20 Fragen) zu bewerten. Dabei ist es möglich, die eigenen Eintragungen unmittelbar im Kontext der bestbewerten Szenarien als Chart zu sehen. Hier geht es zum Fragebogen. Am 7. Februar 2024, 18.30 bis 20 Uhr werden anlässlich der 29. Futures Lounge die Szenarien vorgestellt und diskutiert.
  • Displaced Persons: Das Münchner Stadtmuseum bietet noch bis zum 7. Januar 2024 die Ausstellung „München Displaced – Heimatlos nach 1945“. Es geht um das vergessene Schicksal und die Erzählungen von etwa 100.000 Displaced Persons (DPs) in der Nachkriegszeit in München. Das Jüdische Museum München bietet bis zum 17. März 2024 die parallele Ausstellung „München Displaced – Der Rest der Geretteten“.
  • Streit als Kulturgut: Bis zum 4. Februar 2024 ist in den Franckeschen Stiftungen zu Halle die Ausstellung „Streit, Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute“ zu sehen. Einen reich bebilderten Katalog haben Claudia Weiß und Holger Zaunstöck herausgegeben. In der September-Ausgabe 2023 von Politik & Kultur hat Holger Steinstöck ein ausführliches Portrait der Ausstellung veröffentlicht.
  • 85. Geburtstag von Gerhard Schneider: Anlässlich seines 85. Geburtstags hat Gerhard Schneider die Ausstellung „In den Strudeln der Zeit“ im Zentrum für verfolgte Künste weitgehend selbst kuratiert. Sie ist dort bis zum 11. Februar 2024 zu sehen. Die Sammlung Gerhard Schneider wurde in einem Gespräch mit Jürgen Kaumkötter unter dem Titel „Der Tod hat nicht das letzte Wort“ (so auch der Titel eines Buches von Jürgen Kaumkötter) im Demokratischen Salon vorgestellt. Sie präsentiert eine große Zahl leider oft übersehener und ungewürdigter Künstler:innen.
  • Literaturwettbewerb Klimazukünfte: Das Klimahaus Bremerhaven und der Hirnkost Verlag haben den Literaturwettbewerb Klimazukünfte ins Leben gerufen. Unterstützt wird der Literaturwettbewerb durch VS Bundesvorstand, Writers For Future, Respekt! – Die Stiftung. Finanziert wird er von Sylvia Mlynek und Fritz Heidorn aus Oldenburg. Der Preis wird in den Kategorien für Kinder und Jugendliche sowie für Erwachsene vergeben: „Der Literaturpreis KLIMAZUKÜNFTE 2050 soll Menschen jeden Alters, professionelle wie nicht-professionelle Autor:innen anregen, sich mit dem Klima und möglichen Zukünften auseinanderzusetzen und diese literarisch vorzustellen. Möglich sind alle Formen der literarischen kurzen Auseinandersetzung mit dem Thema, sei es Prosa oder Lyrik, als Science-Fiction-Erzählung, Dystopie oder Utopie, als Fabel oder Märchen. Auch Graphic Novels und Slam-Poetry-Texte sind willkommen. Wichtig ist, dass die Schreibenden eine eigene Erzählform finden, die ihre Gedanken und Gefühle zugänglich machen: Wie wird das Leben in Deutschland, Europa und der Welt im Jahre 2050 aussehen?“ Einsendeschluss ist der 31. März 2024 (nur digitale Einsendungen werden berücksichtigt). Die Auszeichnungen erfolgen in der Leipziger Buchmesse 2025.
  • Ausstellung über Ergreifung und Prozess Adolf Eichmanns: Im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst (SMÄK) in München ist bis zum 30. April 2024 die Ausstellung „Operation Finale“ unter dem Titel „How To Catch A Nazi“ zu sehen. Sie zeigt, wie der israelische Geheimdienst Mossad und der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Jahr 1960 Adolf Eichmann in Argentinien ausfindig machten, wie seine Entführung nach Israel durchgeführt und wie ihm schließlich der Prozess gemacht wurde. Es war der erste große Prozess, indem Opfer des Holocaust vor der Weltöffentlichkeit Zeugnis von den Verbrechen der Nazis ablegten. Die Ausstellung ist eine Multimedia-Ausstellung. Sie stammt aus Israel und den USA und wurde von der Adolf Rosenberger gGmbH und dem SMÄK erstmalig nach Deutschland gebracht. Der Film „Operation Finale“ ist auch bei Netflix im Programm.

Hintergrundinformationen und Leseempfehlungen:

  • Wie schwer es ist zu sprechen: Mit dem 7. Oktober 2023 hat sich alles verändert, alles, und dennoch schweigen viele, viel zu viele. Sicherlich ist es schwer, die richtigen Worte zu finden. Aber dies bedeutet nicht, dass wir schweigen dürfen. Beeindruckend daher die offenen Worte von Edgar Selge in seinem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung vom 1. Dezember 2023: „Jetzt, mit diesem kleinen Text hier, versuche ich erneut, mein Schweigen zu überwinden, ungeschickt und hölzern: Wenn jüdisches Leben hier nicht sicher ist, dann bin ich auch nicht sicher, dann ist kein Satz, kein Wort von mir etwas wert.“ Wer seinen autobiographischen Roman „Hast du uns endlich gefunden“ (Hamburg, Rowohlt, 2021) noch nicht entdeckt hat, sollte das jetzt tun. Es ist eines der besten Bücher zum Thema der so oft beschwiegenen Auseinandersetzung zwischen erster und zweiter Tätergeneration. Hier eine Rezension von Michael Krüger.
  • Übersetzen: Das Wort „übersetzen“ wechselt im Deutschen seine Bedeutung je nachdem, ob man es auf der ersten oder der zweiten Silbe betont. Ruth Margalit schreibt in der New York Review of Books über die Erzählung „Arabesques“ von Anton Schammas, übersetzt aus dem Hebräischen ins Englische von Vivian Iden. Eine grundlegende Frage lautet: Wie kann man auf Hebräisch über die Nakba schreiben? Und ist ein solches Buch überhaupt übersetzbar? Wer wird es wie lesen (können), was bedeutet es für die Lektüre, wenn Leser:innen die Sprache des Originals nicht beherrschen? Ganz im Sinne des Plädaoyers von Gilles Deleuze und Félix Guattari „Für eine kleine Literatur“. Ruth Margalit zitiert einen Kritiker, der gesagt haben soll, es handele sich bei „Arabesques“ um die israelischste Erzählung, die jemals geschrieben worden sei. Sie nennt Beispiele, wie sie das ein oder andere auch treffender, weniger ökonomisch, hätte übersetzen wollen, es bleibt das Grundproblem: „Still, to read Shammas solely in English is akin to staring at a postcard of a landscape one cannot travel to.“ Dazu passt das Motto, das Shammas der Erzählung gab und mit dem Ruth Margalit ihren Text einleitet, Verse von Yehuda Amichai. „Dresses of beautiful women, in blue and white. / And everything in three languages: / Hebrew, Arabic and Death.”
  • Klare Worte: Zur Kölner Demonstration des Bündnisses „Arsch huh“ am 3. Dezember 2023 sagte Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, seine Teilnahme ab, weil die „überzeugende Solidarität mit Israel“ Gerhart R. Baum sprach auf der Demonstration und erklärte sein Verständnis für die Absage: „Der Aufruf, den ich erst seit kurzem vollständig kenne, distanziert sich zwar von dem mörderischen Überfall, aber er setzt Angreifer und Opfer auf eine gleiche Stufe. Es ist nicht zu akzeptieren, wenn in ihm von den ‚beiden Kriegsparteien‘ die Rede ist. Es geht nicht an, die Soldaten und Soldatinnen Israels, die ihr Land verteidigen, mit einer terroristischen Verbrecherbande gleichzusetzen. Die Hamas setzt sich in ihrer Charta zum Ziel, den Staat Israel und die Juden in aller Welt zu vernichten. Israel – das sollten wir nicht vergessen – ist eine Demokratie. Die einzige in dieser Region. Ich habe vor einigen Monaten dort tausende von Demonstranten erlebt, die immer wieder für die Verteidigung des Rechtsstaates in Israel auf die Straße gegangen sind. Israel ist auch keine Kolonialmacht. Nach dem Holocaust hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Juden einen eigenen Staat als geschützten Raum zugewiesen.“ Gerhart Baum benannte auch die Fehler der israelischen Regierung und formulierte seine Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung, die den Palästinenser:innen Freiheit und Selbstbestimmung sowie Israel Sicherheit ermögliche. „Die Palästinenser haben Konflikte mit Israel – aber sie führen keinen Krieg. Eine solche Gleichsetzung mit einer Terrororganisation haben sie nicht verdient.“ Die vollständige Rede hat der Beueler Extradienst veröffentlicht.
  • Muslimische Akademie Heidelberg: Heidelberg ist ein Ort gelebter Vielfalt. Neben der Hochschule für Jüdische Studien und dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma gibt es jetzt auch die Muslimische Akademie i.G. Heidelberg. Die Akademie ist Mitglied des Arbeitskreises Deutscher Bildungsstätten (ADB). In ihrer Selbstdarstellung schreibt sie: „Als ein Ort der Demokratieförderung und Begegnung richten sich unsere Angebote an alle Interessierten unserer Gesellschaft. Wir wollen Antworten auf die Frage finden, wie wir in unserer vielfältigen Gesellschaft gemeinsam leben wollen und gestalten unsere Gesellschaft proaktiv aus muslimischen und postmigrantischen Perspektiven mit.“ Unter den Angeboten finden sich ein Argumentationstraining gegen Hass und Hetze, Workshops gegen Antisemitismus sowie eine Bestandsaufnahme mit Selbstportraits zur muslimischen Zivilgesellschaft.
  • Jerusalemer Gespräche in Bonn: Die bisherigen Gespräche fanden in der Bonner Bundeskunsthalle statt und sind alle auf youtube dokumentiert. Leider hat die Bundeskunsthalle die Gespräche eingestellt. Die Initiator:innen sind auf der Suche nach einer neuen Partnerschaft. Bisherige Themen waren unter anderem: „Trauma ist Trauma ist Trauma“, „Flüchtlinge – Avantgarde ihrer Völker“, „Zwei Staaten. Ein Staat. Kein Staat“.
  • Muslimisch-Jüdisches Abendbrot: Dies ist der Titel einer Reihe der FAZ mit Meron Mendel und Saba-Nur Cheema. Bisherige Themen waren unter anderem: „Vorsicht vor dem Hetero-Cis-Mann“ (in Reaktion auf einen „Polizeiruf 110“), „Das ungeschriebene Gesetz der Identitätspolitik“, „Was sagen Islam und Judentum zum Suizid?“. Angesichts des Aufstiegs der AfD fragen die beiden Autor:innen: „Werden die Menschen in Deutschland auf die Straße gehen?“ In diesem Text berichten sie von einer kleinen Urlaubsreise nach Thüringen. Die Frage, ob man als Jude:Jüdin, Muslim:in in Deutschland die Koffer packen müsse, ist präsent, aber wohin könnte man gehen? „Dabei ist es weit mehr als Alternativlosigkeit, die uns bleiben lässt. Denn wir glauben fest daran, dass die Demokratie gewinnen wird. In Israel gehen dafür seit einem halben Jahr Hunderttausende Bürger auf die Straße. Vorige Woche wurde unser Schwager dabei von einem Wasserstrahl der Polizei im Gesicht getroffen. Als wir im Krankenhaus mit ihm telefonierten, konnte er kaum sprechen. Später schickte er eine Nachricht: Die Verletzung könne er gut aushalten. Den Gedanken, dass Israel von Rechtsradikalen regiert wird, hingegen niemals. Wie viele Menschen werden in Deutschland auf die Straße gehen, sollte das Szenario auch bei uns Realität werden?“
  • Religion und Rechtsextremismus: Neu erschienen ist die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche + Rechtsextremismus herausgegebene vierte Ausgabe der Reihe „Einsprüche“, Thema: „Studien zur Vereinnahmung von Theologie durch die extreme Rechte“. Autor:innen sind Ruth Heß und Rolf Schieder. Gegenstand ihrer Essays sind die Frage nach einer „natürlichen Geschlechterordnung“ sowie die Bedeutung von „Apokalypse und Ausnahmezustand“ in Programmatik und Auftreten der extremen Rechten. Ruth Heß spricht von einer „theologischen Entkernung“ im rechten Anti-Gender-Diskurs, weil das eigentliche Problem wohl eher ein befürchteter Kontrollverlust sein dürfte, sodass sich kirchliche Verlautbarungen, beispielsweise von Papst Benedikt XVI., der den Begriff der „Natur“ bewusst im Singular verwendete, um ein „Naturrecht“ theologisch zu begründen und rechtspopulistische und rechtsextreme Rezeption treffen. Rolf Schieder beschreibt das „Radikalisierungspotenzial“ in apokalyptischen Erzählungen. Eine zentrale Rolle spiele die Rezeption von Carl Schmitt. Religion sei – so auch Olivier Roy – nicht der Kern der rechten Erzählungen. Hauptfeind sind die „liberalen Eliten“, die Neue Rechte inszeniert sich als die gesellschaftliche Bewegung, die darüber „aufkläre“. Rolf Schieders Fazit: „Das liberale Credo ist nun einmal die Inklusion. Den Liberalismus zeichnet aber auch ein starkes Vertrauen in die Kraft rechtsstaatlicher Institutionen und Verfahren aus. Die neuen rechten Bewegungen versuchen, mit Hilfe apokalyptischer Rhetorik einen Ausnahmezustand zu kreieren, der ihnen erlauben würde, eben jene Regeln und Verfahren auszuhebeln.“ Der Rechten gehe es darum, „die gegenwärtige politische Lage überhaupt als Ausnahmezustand zu deuten.“ Damit wären wir wieder bei Carl Schmitt, Religionen spielen in der Argumentation der Neuen Rechten nur eine Nebenrolle, aber die Gefahr besteht, dass sich Kirchen und Religionsgemeinschaften vereinnahmen lassen, wie dies nach 1933 die „Deutschen Christen“ taten.
  • Kriegsverbrechen der Hamas: Mena-Watch hat in seinem Nahost-Lexikon Dokumentation und völkerrechtliche Bewertung der Verbrechen der Hamas veröffentlicht. Das Lexikon enthält eine Fülle von Hintergrundinformationen, die helfen sollten, manche Irrungen der aktuellen Berichterstattung zu korrigieren. Sicherlich ist es wert und erforderlich, das Vorgehen der israelischen Armee und Regierung kritisch zu begleiten, es ist jedoch nicht hinnehmbar, dass in vielen Medien und Verlautbarungen fast ausschließlich über die Opfer der palästinensischen Zivilbevölkerung berichtet wird, kaum jedoch über die Opfer der israelischen Seite. Die ZEIT dokumentierte am 14. Dezember 2023 die „Arbeit“ von drei Spezialist:innen, deren Aufgabe es ist, die Toten zu identifizieren. Über die Opfer auf der israelischen Seite berichtet regelmäßig Anastasia Tikhomirova, beispielsweise in der ZEIT und im Demokratischen Salon.
  • Wer sind die Huthi? Die Huthi sind eine Terrororganisation im Jemen, die vom Iran unterstützt und ausgerüstet wird und zurzeit große Teile des Westens beherrscht, sodass sie die Meerenge am Roten Meer gut überwachen kann. Inzwischen gibt es Ansätze einer Koalition zum Schutz der Durchfahrt für Handelsschiffe, angeregt und angeführt von den USA. Dies erinnert an frühere Aktivitäten am Horn von Afrika gegen die Piraterie aus somalischen Gebieten. MENA-Watch hat Informationen über die Huthi zusammengestellt. Für den Tagesspiegel hat Christian Neumann mit der Leiterin einer EU-Delegation, die Abgeordnete Hannah Neumann, gesprochen. Sie stellte fest, dass in der Bevölkerung des Jemen unabhängig von ihrer bisherigen Stellung zu den Huthi angesichts des israelischen Vorgehens in Gaza die Unterstützung der Huthi zunehme. Das Vorgehen der Huthi erinnere sie an das Vorgehen der Taliban. Zum Jemen gibt es auch eine Ausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“. Mündliche Berichte von Menschen im Jemen dokumentierte Bushra al_Maqtari, die methodisch wie Svetlana Alexievich vorging. Samanth Subramanian stellte das Buch und die Autorin in der Ausgabe vom Dezember 2023 der New York Review of Books vor. Das Buch erschien in London (UK) bei Fitzcarraldo.
  • Massaker der Hamas: Alexandra Föderl-Schmidt hat am 5. Dezember 2023 in der Süddeutschen Zeitung über das Vorgehen der Hamas geschrieben, Titel: „Ihre Mission war, möglichst viele zu vergewaltigen“. Grundlage ist der 45-minütige Film, den die israelischen Behörden für Journalist:innen und Politiker:innen aus Videos des Massakers zusammengestellt hatten. Alexandra Föderl-Schmidt nennt Details, die ich nicht wiederholen möchte. Sie schreibt auch über die noch laufenden forensischen Untersuchungen und die Empörung in Israel über die verspätete Reaktion der Vereinten Nationen. Trotz solcher Dokumentation gibt es immer wieder in den sozialen Medien Menschen, die die Gräueltaten der Hamas leugnen.
  • Die Geiseln der Hamas: Nach ihren Freilassungen berichten mehrere Zeitungen über die Geschichte der von der Hamas entführten Menschen. Amir Teicher berichtete über die Rückkehr von Yarden Roman, Hagit und Ruby Chen über die 19jährige Soldatin Itay Chen, die noch in der Gewalt der Hamas ist. Sabine Brandes schreibt über die schwer zu ertragenden Erlebnisberichte der freigelassenen Geiseln. In einem anderen Bericht schreibt sie über die befreite neunjährige Emily, die nach ihrer Befreiung nur noch flüstert. Gili Roman, Bruder von Yarden Roman, war am 6. Dezember 2023 aus Tel Aviv bei Markus Lanz Die Süddeutsche Zeitung berichtete: Er „hat als Pädagoge eine Friedensschule in der Nähe von Tel Aviv geleitet, in der Juden, Muslime und Christen zusammen lernten. In der es Ziel war, einander zuzuhören, wenn palästinensische und israelische Sichtweisen aufeinanderprallten.“ In der Sendung sagte er: „Wir sprechen von einer Terrororganisation, die uns auslöschen will – einen Kompromiss kann ich mit denen nicht eingehen. (…) Die Hamas muss aufgeben, muss sich ergeben. In der Region gibt es mit ihr keine Hoffnung.“
  • Sprachlosigkeit: Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 5. Dezember 2023 einen Gastbeitrag von Alena Jabarine unter dem Titel „Ich möchte schreien, aber ich kann nicht“. „Denn schon Sprechen ist seit dem 7. Oktober, seit dem Anschlag der Hamas, zu einem Drahtseilakt geworden. Bevor ich reden darf, muss ich mich durch Schichten über Schichten von Vorurteilen und Desinformationen arbeiten. Erst einmal beweisen, dass ich ein Mensch bin. Aber wie sollen wir dann reden? Wenn mir auferlegt wird, mich zunächst von grausamen Taten zu distanzieren – als gäbe es einen Grund zur Annahme, ich würde diese gutheißen? Und wenn es so wäre: Wie viel Wert hätte dann die von mir verlangte Distanzierung? Geht es um aufrichtige Empathie oder lediglich um Selbstpositionierung?“ Sie spricht aber auch von der Hoffnung, die ihr Menschen machten, die „miteinander statt übereinander reden“.
  • Proteste gegen die Hamas in Gaza: Die Jüdische Allgemeine berichtet am 25. Dezember 2023 über Proteste von Palästinenser:innen gegen die Hamas. Samiha Shafy referiert in der ZEIT eine Studie von Amaney Jamal, Dekanin der Princeton School of Public and International Affairs, über die politischen Haltungen der Menschen in Gaza, die allerdings am 6. Oktober 2023 endete, „die Daten widerlegen so manches Vorurteil über die Bevölkerung von Gaza, die seit 2007 von den Terroristen der Hamas regiert wird.“ Die Studie kommt zu dem Ergebnis: „Eine Mehrheit der Befragten befürwortete bis zum 6. Oktober immer noch die lange totgesagte Zweistaatenlösung – und erkannte, anders als die Hamas, das Existenzrecht des Staates Israel an.“ Andererseits gibt es inzwischen Hinweise, dass das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza sowie die Übergriffe der Siedler im Westjordanland solche Einstellungen verändern.
  • Free Palestine? From Hamas! Die Bundeszentrale für politische Bildung hat am 1. Dezember 2023 eine Seite mit Texten von Wolf Biermann nicht nur zu Israel und Palästina eingestellt, auch zur Biographie Wolf Biermanns, zur Geschichte seines von den Nazis ermordeten Vaters und zu einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, auf der unter anderem Kinderzeichnungen zu sehen waren. Eine davon war der Anlass des Titels der Seite.
  • Standing Together: Für die taz sprach Dinah Riese mit Rula Dalood und Alon-Lee Green, Co-Direktor:innen von „Standing Together“. Das Gespräch zeigt, warum Alternativen zur Gewalt so wichtig sind, warum die Geiseln befreit werden müssen, warum Verhandlungen erforderlich sind. Rula Dalood ist Palästinenserin aus Galiläa, Alon-Lee Green jüdischer Israeli. „Wir müssen den Menschen zeigen, dass es einen anderen Weg gibt als den, den Premierminister Netanjahu seit Jahren als den einzig möglichen vorgibt. Dass Frieden möglich und nötig ist.“ Es werde unterschätzt, dass die Hamas nicht nur eine Terrororganisation sei, sondern auch für „eine Idee“ stehe, die durch das Vorgehen der israelischen Regierung gestärkt wird. Rula Dalood ist „wütend“ auf diejenigen, die das Vorgehen der Hamas als „legitimen Widerstand“ Alon-Lee Green ergänzt: „Auch die Reaktionen mancher internationaler Linker haben uns entsetzt. Unschuldige Menschen werden umgebracht, und Menschen sagen dazu ernsthaft: ‚Gaza breaks free‘, oder: ‚Was dachtet ihr, wie Dekolonisierung aussieht?‘ Sind das wirklich die Werte, für die wir stehen? All diese Begriffe wie Siedlerkolonialismus verschleiern, dass in Israel Menschen leben. Ja, wir haben die rechteste Regierung in der israelischen Geschichte. Aber wir sind nicht identisch mit ihr, wir haben monatelang gegen diese Regierung protestiert. Ich bin gegen die Besatzung, aber ich bin auch Israeli.“
  • Provenienzforschung: Die Zeitung Politik & Kultur präsentiert in ihrer Ausgabe für Dezember 2023 und Januar 2024 ein ausführliches Dossier zum 25jährigen Jubiläum der Washingtoner Konferenz zur Restitution von NS-Raubkunst. Das Dossier enthält eine Zeittafel, beginnend im Jahr 1933, eine Übersicht von Gilbert Lupfer, Vorstand des Deutschen Zentrums Kulturverluste, zur Entwicklung der Provenienzforschung, Debattenbeiträge von Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference, Hans-Jürgen Papier, Vorsitzender der Beratenden Kommission NS-Kulturgut, Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Shelly Kupferberg stellt in einem Gespräch mit Theresa Brüheim fest: „Restituiert wurde ein Krümel und nicht mehr. Und das ist ein Zustand, der schwer auszuhalten ist.“ Grundlage dieses Gesprächs ist Shelly Kupferbergs 2022 bei Diogenes erschienener autofiktionaler Roman „Isidor – Ein jüdisches Leben“. Ebenso skeptisch argumentiert Daniel Sheffer, Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge. Er sagt in einem Gespräch mit Ludwig Greven: „Die Restitution jüdischen Vermögens hat nie richtig stattgefunden.“ Schwierigkeiten einer „lückenlosen Rückverfolgung“ beschreibt Christina Berking, Anwältin der Interessengemeinschaft Deutscher Kunsthandel. Weitere Themen sind die Beiträge des Antiquariatshandels, auch im Rahmen des Zentralantiquariats der DDR, unterschlagene Urheberschaften in der Buchbranche und ein konkretes Beispiel der Berliner Staatsbibliothek. Staatsministerin Claudia Roth spricht über Absichten der Bundesregierung, sagt aber auch: „Deutschland hat in dieser Frage noch einen weiten Weg zu gehen.“ Olaf Zimmermann formuliert ein Fazit: „Viele jüdische Opfer der Entrechtung im Nationalsozialismus haben immer noch nicht ihr Eigentum zurückerhalten. Das ist für unser Land zutiefst beschämend.“
  • Goethe-Institute: Europa hat viele Möchte-Gern-Totengräber:innen, aber dass eine deutsche Außenministerin mitschaufelt, ist schon eine besondere Geschichte. Ebenso wie die für die politische Bildung zuständigen Ministerinnen im Innen- und Familienministerium. In den Newslettern von Oktober und November hat der Demokratische Salon Der Deutsche Kulturrat führt die Goethe-Institute inzwischen auf seiner Roten Liste der durch die Sparpolitik der Regierungen des Bundes und der Länder bedrohten Kultureinrichtungen. Gerhard Polt hat einen offenen Brief an Annalena Baerbock geschrieben, den die Süddeutsche Zeitung am 7. Dezember 2023 veröffentlichte. Er erinnert an eine Schließung des Goethe-Instituts in Island im Jahr 1992, gegen die dort heftig demonstriert wurde: „Ein ganzes Volk demonstrierte dagegen.“ In der Tat stellt sich die Frage, welchen Gewinn Europa hätte, wenn statt der Goethe-Institute in Frankreich und Italien jetzt eines auf Fidschi eingerichtet wird. Und warum geht nicht beides?
  • Erfolgsmodell Hoyerswerda: Für den Tagesspiegel berichtet Daniel Erk aus Hoyerswerda, einem der Orte der Pogrome gegen Geflüchtete zu Beginn der 1990er Jahre. Bürgermeister ist der Sozialdemokrat Thorsten Ruban-Zeh. Er erhielt 44,3 Prozent der Stimmen, die von Linken, Grünen und einer Bürgerinitiative unterstützte Dorit Baumeister erhielt 33,4 Prozent. Auch bei den Bundestagswahlen erhielt die SPD in Hoyerswerda 2021 immerhin 24,7 Prozent. „Heute, nach zweieinhalb Jahrzehnten Strukturwandel, gibt es Baumeister zufolge in Hoyerswerda eine ganz neue Generation an Leuten, die sich selbst organisieren und etwas auf die Beine stellen ‚Selbstwirksamkeit ist Demokratieerfahrung.‘ Der Populismus der Rechtsextremen lebe letztlich davon, dass die Menschen unzufrieden, aber apathisch seien. ‚Eine aktive, kritische Bevölkerung, die selber macht und die nicht passiv bleibt, ist das Wertvollste, was eine Gemeinschaft haben kann.‘“ Die AfD spielt keine Rolle bei der Mehrheitsbildung im Rat, ungeachtet ihrer acht Ratsmitglieder (von 30). Sie spielte auch keine Rolle bei den kommunalen Projekten, die auf den Weg gebracht wurden, darunter eine Unterkunft für Asylbewerber, die als „offenes Haus“ konzipiert und umgesetzt wurde. 2024 wird in Hoyerswerda wieder gewählt.
  • Alternative für Russland: Correctiv hat in der Debatte, wie mit der AfD umzugehen sei, einen Aspekt untersucht, der in der politischen Kommunikation an Bedeutung gewinnen sollte, nicht zuletzt im Hinblick auf die anstehenden Europawahlen. Die AfD wandelte sich seit ihrem zehnjährigen Bestehen immer mehr zu einer Partei, die sich von der Westbindung verabschiedet und nach Russland orientiert. Correctiv hat diese Wendung anhand von Reden, Reisen und Programmen nachgezeichnet. Die Recherche zeigt, wie Kampfbegriffe der russischen Nationalisten in Reden der AfD-Politiker und Programme der AfD vordringen. Verschiedene Medien vom Deutschlandfunk bis zu Lokalzeitungen nahmen die Auswertung der AfD-Wendung nach Russland auf, auch führende Politiker und Politikerinnen griffen die Recherche auf.
  • Faschismus in Indien? Welche Auswüchse die muslimfeindliche Politik der herrschenden hindustisch-nationalistischen Partei von Narendra Modi hat, fasst die indische Autorin Arundhati Roy in dem Satz zusammen: „Wir sind zu Nazis geworden“. Dies ist auch der Titel der von den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ in ihrer Novemberausgabe 2023 veröffentlichten Dankesrede zur Verleihung des europäischen Essay-Preises 2023 durch die Charles-Veillon-Stiftung am 12. September 2023, Untertitel: „Indiens Weg in den Faschismus“ (Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Greven). Die Diagnose: „Die Banalität des Bösen, die Normalisierung des Bösen zeigt sich jetzt in unseren Straßen, in unseren Klassenzimmern, an sehr vielen öffentlichen Orten. Die Mainstream-Medien, die hunderte von 24-Stunden-Nachrichtensendern, werden für die Sache der faschistischen Tyrannei der Mehrheit eingespannt. Die indische Verfassung ist faktisch außer Kraft gesetzt worden.“ Indien kann aus ihrer Sicht „keinesfalls mehr als eine Demokratie bezeichnet werden.“ Arundhati Roy äußerte sich zu diesem Thema bereits vor 15 Jahren in der Herbstausgabe 1998 von „Lettre International“ mit ihrem Essay „Das Ende der Phantasie“ (englisch: „The End of Imagination“, Übersetzung von Martin Pfeiffer), Untertitel: „Die indische Bombe und die Gefahr des Faschismus“. In der Dezemberausgabe 2023 der „Blätter“ schrieb Amadeus Marzai unter dem Titel „Modis Vision, Indiens Verhängnis“ zu diesem Thema: „Ein zentrales Motiv der Hindutva-Geschichtsschreibung ist also die Beschwörung einheimischer Tugendhaftigkeit und auswärtiger Aggression, wobei die Jahrhunderte vor dem Kolonialzeitalter fast ausschließlich als fortwährender Konflikt zwischen Hinduismus und Islam gelesen werden.“ Betroffen sind nicht nur Muslim:innen, auch Christ:innen, Amadeus Marzai schreibt, das Land „ist drauf und dran, sich in eine faschistoide Tyrannei der Mehrheit zu entwickeln.“ Der „Westen“ hingegen scheint diese Entwicklungen zu ignorieren.
  • Die Wahrheit der Diktaturen: Die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlichten in ihrer Dezember-Ausgabe die Rede von Golineh Atai, Autorin von „Iran – Die Freiheit ist weiblich“, die sie am 9. Oktober 2023 aus Kairo in der Leipziger Nikolaikirche als „Rede zur Demokratie“ hielt, Titel: „‚Die Wahrheit muss an den Tag‘ – Was die 89er Revolution mit Iran und Nahost verbindet.“ Sie hielt diese Rede zum 34. Jahrestag der weitreichenden Entscheidung der damaligen DDR-Regierung, am 9. Oktober 1989 nicht dem Beispiel Chinas vom 4. Juni 1989 zu folgen und nicht auf die Demonstrant:innen schießen zu lassen. Auf der einen Seite stellt Golineh Atai die Botschaften von Schulbüchern und Presse gegenüber: „Im deutschen Schulbuch lernte ich etwas über Aufklärung, über Aufarbeitung von Schuld. In meinem Persisch-Lehrbuch zuhause ging es um den ‚Feind‘, den ‚Obersten Führer‘ und ‚den heiligen Widerstand‘, Schuld hatten immer nur die ‚Feinde‘, – immer wenn ich die politischen Lektionen vorlas, baten meine Eltern, den Text doch zu überspringen.“ Ein anderes Thema ist die Tragödie der Opposition, „wenn der Kampf gegen den politischen Rivalen in der Opposition wichtiger ist, als gemeinsam einen Albtraum zu beenden. (…) Wenn politische Identität wichtiger wird als der gemeinsame Kampf um die Demokratie – dann haben wir alle verloren.“ Und der Westen? Er „verfolgt ein Stabilitätsdogma – aus Angst, dass politischer Wandel weitere Unruhen bringen könnte.“ Damit nimmt sich der Westen jede Einflussmöglichkeit. In ihrer Zeit in Moskau hat Golineh Atai das Ergebnis aus nächster Nähe gesehen: „Je rigider die Repression im Innern durchgesetzt wurde, umso aggressiver trat Wladimir Putins Regime im Ausland auf.“ Fazit: „Wenn ich heute in Deutschland höre: ‚Lieber in einer Diktatur leben, als für Demokratie zu sterben‘, dann schäme ich mich zutiefst vor diesen Opfern der Diktatur.“
  • Pasdaran auf die Terrorliste? Für die taz widerlegt Jean-Philipp Baeck die Aussage des Auswärtigen Amtes, Irans Revolutionsgarden, die Pasdaran, könnten nicht auf die Terrorliste gesetzt werden. Es fehlten – so das AA – „die rechtlichen Voraussetzungen“. Die taz hat drei Juristen gebeten, die ihr vorliegende Verschlusssache zu bewerten. Es drängt sich der Eindruck auf, es gehe nicht um juristische, sondern um politische Fragen. Befürchtet würden beispielsweise Nachteile für im Iran inhaftierte Bürger:innen der Bundesrepublik Deutschland, für die Atomgespräche und nicht zuletzt eine Beeinträchtigung der engen wirtschaftlichen Verknüpfungen. Eine ausführliche Analyse direkten und indirekten Engagements des Irans in Konflikten der Region bietet Mathis Gann auf ZEIT Online.
  • Widerstand in Auschwitz: Im Tagesspiegel empfahl Konstantin Sakkas die Lektüre der von Barbara Beuys verfassten Biographie von Mala Zimetbaum, die am 15. September 1944 hingerichtet wurde. Das Buch erschien im Inselverlag und beschreibt die Geschichte einer jüdischen Widerstandskämpferin.
  • Postfaschismus in Italien: In der Januarausgabe 2024 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ schreibt Steffen Vogel über „Giorgia Meloni und der schleichende Weg in den autoritären Staat“. Gegenstand ist der Vorschlag Giorgia Melonis, den Ministerpräsidenten (sie gendert nicht), demnächst direkt wählen zu lassen. Die Partei, die er verträte, erhielte dann automatisch 55 Prozent der Sitze im Parlament, bei einem Rücktritt könne nur eine Person aus derselben Liste in das Amt gewählt werden (die Fratelli d’Italia hatten bei der letzten Wahl 29 Prozent der Stimmen erhalten). Die Opposition hat sich dagegen ausgesprochen, müsse aber angesichts der Erfahrungen der Vergangenheit in Italien darauf achten, dass sie der Regierungschefin nicht die Argumente liefere, die diese brauche. „Damit steht Giorgia Meloni allerdings gerade nicht für eine zur demokratischen Rechten geläuterte ehemalige Neofaschistin. Vielmehr könnte sie einen neuen gefährlichen Prototyp einer ultrarechten Politikerin etablieren: seriös im Auftreten, diplomatisch versierter als ihre oft polternden Vorgänger, aber im Kern nicht weniger nationalistisch und autoritär. Marine Le Pen versucht sich in Frankreich schon länger an einer ähnlichen Strategie, noch aber aus der Opposition.“
  • Republik Moldau: Nur wenige Fußballfans wissen, dass der Fußballclub Sheriff Tiraspol, moldawischer Rekordmeister, dem es in der Champions League sogar einmal gelang, Real Madrid zu schlagen, sein Zuhause auf der transnistrischen Seite des Landes hat, Sheriff das Unternehmen ist, das diese Seite beherrscht und dass dort seit 1992 russländische Truppen stationiert sind. Immer wieder droht Russland der Republik Moldau mit dem „Schicksal der Ukraine“, die moldawische Präsidentin Maia Sandu, seit 2020 im Amt, lässt sich jedoch nicht einschüchtern und verfolgt beharrlich ihren prowestlichen Kurs mit dem Ziel eines Beitritts zu EU und NATO. Das Land hat in der EU seit Juni 2022 den Status eines Beitrittskandidaten, eine Folge des russländischen Überfalls auf die Ukraine. Die Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit hat im Dezember 2023 ein ausführliches Portrait des Landes veröffentlicht. Autoren sind Alexandru Gabor und Randu Wagner. Wesentliche politische Themen sind der Kampf gegen die Korruption, die Rolle von Minderheiten (einschließlich von Geflüchteten aus der Ukraine), der eingefrorene Konflikt um Transnistrien (durchaus vergleichbar mit dem Konflikt in Zypern, das bis heute nur mit einem Teil des Landes EU-Mitglied ist), Energieabhängigkeit von Russland, russischer Einfluss in Politik und Medien. Der Text der beiden Autoren enthält eine ausführliche Liste weiterer im Internet zugänglicher Quellen und Hintergrundberichte.
  • Schlüsselrolle Chinas in Nahost: Am 1. Dezember 2023 schrieb der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer im Tagesspiegel in einem Gastbeitrag China eine Schlüsselrolle in der Lösung des Nahost-Konflikts zu. Die USA (mit der EU) und China könnten partnerschaftlich ihren Einfluss geltend machen und dabei den Einfluss des Haupttreibers einer anti-israelischen, sprich die Vernichtung Israels betreibenden Koalition unter Führung des Iran einschränken. Die Oslo-Abkommen hätten eine Zwei-Staatenlösung befördern können, wurden jedoch von Extremisten auf beiden Seiten bekämpft (Jigal Amir, der Mörder Jizchak Rabins, wird von den rechtsextremen Koalitionspartnern Netanjahus verehrt.) Eine Zwei-Staaten-Lösung bedarf auch einer Beendigung der „schleichenden Landnahme im Westjordanland durch israelische Siedler“ und einer „Reform der palästinensischen Verwaltung“. Die Einbindung Chinas – so Joschka Fischer – entspreche „den machtpolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts“. Russland erwähnt Joschka Fischer in seinem Beitrag nicht.
  • Israels Dilemma und die europäische Abschreckungsfähigkeit: Am 3. Dezember 2023 äußerte sich Joschka Fischer auf ZEIT Online. Das Interview führten Fabian Reinhold und Georg Löwisch. Joschka Fischer datiert den Niedergang einer israelisch-palästinensischen Friedenspolitik auf den Mord an Jizchak Rabin. Den Rückzug Ariel Scharons aus dem Gaza-Streifen habe er für einen Fehler gehalten, weil es kein verhandeltes Ergebnis gab. Er konstatiert, dass sich diese die Palästinenser ignorierende Linie mit den Abraham-Abkommen fortgesetzt habe. Über den 7. Oktober sagt er, er „hätte es einer Terrorgruppe wie der Hamas nie zugetraut, einen solchen Plan zu entwickeln. Sie hat das Trauma der Shoah reaktiviert, und zwar im vollen Tageslicht. Genau das war der Plan – so wie die Hamas auch ganz bewusst die israelische Regierung in eine Situation bringen wollte, in der sie hart zurückschlagen muss, weil Israel es sich nicht erlauben kann, schwach zu sein. Auch dass die Führungen der arabischen Staaten unter Druck geraten, ist kalkuliert. All das war geplant, so perfekt wie perfide. Die Hamas sei besiegbar, es sei aber offen, wer an die Stelle treten könne. Der Iran sei „das größte Hindernis für den Frieden.“ In Bezug auf die Ukraine fordert Joschka Fischer: „Wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen.“ Atomare Bewaffnung gehöre dazu, nicht in deutschem Besitz, aber eingebettet in eine europäische Strategie. Denn: „Die Putinsche Ideologie lautet: Die Macht entscheidet, nicht das Recht. Wenn sich dieses Denken durchsetzt, dann können Sie Europa vergessen. Insofern geht es um verflucht viel.“ Er sei aber „optimistisch“, dass man Lösungen finde.
  • Traumaland Deutschland: Annette Dowideit und Gabriela Keller haben für Correctiv zum Thema der Traumaerfahrungen Geflüchteter recherchiert. Sie haben das Ergebnis unter dem Titel „Traum(a)land“ Betroffene können zur Gefahr für sich selbst und für andere werden. Therapien gibt es kaum, Diagnosen gibt es oft gar nicht oder erst sehr spät. Aufmerksamkeit entsteht erst, wenn ein traumatisierter Geflüchteter jemanden tötet, eine Tat, die hätte verhindert werden können. Bei ihren Recherchen haben die beiden Autorinnen festgestellt, dass es sich um etwa 1,1 Millionen Betroffener handeln muss. Andere Forschungen sprechen von 40 Prozent, die an Depressionen litten, 30 Prozent an posttraumatischen Belastungsstörungen, manche an beiden. Keine neuen Erkenntnisse: Die beiden Autorinnen verweisen auf eine Stellungnahme der Leopoldina, die bereits im Jahr 2018 auf das Problem hingewiesen hatte.
  • Abschiebungen: Wer sind die Polizist:innen, die Abschiebungen oder „Rückführungen“ wie sie in euphemistischem Amtsdeutsch genannt werden durchführen? Trisha Balster und Kim Lucia Ruoff haben am 9. Dezember 2023 ihre Recherche in der ZEIT veröffentlicht. Sie dokumentieren ihre Gespräche mit Polizist:innen, von denen manche diesen „Job“ nicht mehr machen wollen, die wissen, dass manchmal die Falschen abgeschoben werden, die bei Abschiebungen angegriffen werden und den hohen bürokratischen Aufwand jeder Abschiebung kennen. Es war ausgesprochen schwer, überhaupt die Genehmigung für die Gespräche zu erhalten, die meisten Beamt:innen wollten anonym bleiben. In dem Text verlinkt ist ein Video von zwei jungen Frauen, die in Deutschland blieben, während der Rest der Familie, der vor dem IS aus dem Irak geflohen ist, wieder dorthin zurückgeschickt wurde.
  • Doppelte Staatsbürgerschaft: In einem Gastbeitrag im Tagesspiegel hat die Berliner Sozial- und Integrationssenatorin Canzel Kiziltepe (SPD) die vom Bundestag beschlossene Regelung zur Staatsbürgerschaft begrüßt. Sie beschreibt die Bedeutung dieses Beschlusses am Beispiel ihrer Familiengeschichte. Er sei eine „Würdigung der Gastarbeiter“. Sie haben maßgeblich zum Aufbau des Wirtschaftsstandorts der Bundesrepublik Deutschland beigetragen, mussten aber bisher bei Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft den Pass ihres Herkunftslandes abgeben (was im Übrigen in manchen Ländern nicht einmal möglich ist). Doppelte Staatsbürgerschaft – das ist ein Bekenntnis der Mehrheit im Deutschen Bundestag für all diese Menschen, die gerne in Deutschland leben, aber auch ihre Herkunft pflegen möchten. Canzel Kiziltepe setzt sich mit den Stimmen auseinander, die die doppelte Staatsbürgerschaft als „Entwertung“ der deutschen Staatsbürgerschaft missverstehen, damit aber auch Menschen entwerten. Meine Eltern haben sich noch nicht entschieden, ob sie die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen. Aber sie freuen sich über die Möglichkeit. Denn es ist eine Anerkennung für ihre geleistete Arbeit. Vielleicht kommt es zu spät für sie, mein Vater ist jetzt über 80 Jahre alt, er hat sein ganzes Leben gearbeitet, war nie arbeitslos. Aber das wäre doch was, wenn sie noch einmal mutig sind und sagen: Wir dürfen wählen und mitentscheiden, wer dieses Land regiert. Denn: Wir sind ein Teil von Deutschland. Endlich.“ Ergänzend empfehle ich einen Blick in die beiden Beiträge im Demokratischen Salon zum Kölner Migrationsmuseum DOMiD („Konkrete Vielfalt Migration“ und „DOMiD – ein Museum neuen Typs“) sowie die Gespräche mit der Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan („Feministisch, türkisch, deutsch“) und dem Journalisten und Filmemacher Manuel Gogos („In den besten Familien“).
  • Umgang mit Autokraten: Am 2. Dezember 2023 schrieb Can Dündar in der ZEIT über „Die Sprache der Autokratie“ (übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe). Es handele sich um „Straßenjargon“, auch im Umgang verschiedener Autokraten untereinander. Westliche Politiker:innen unterschätzen die Bereitschaft von Autokraten, jede Gelegenheit zu nutzen, um ihre Sicht der Dinge zu platzieren, so Erdoǧan, dem es gelang, bei einem deutlich reduzierten Besuch in Berlin seine Pro-Hamas-Propaganda offen zu verkünden. Die türkischen Zeitungen lobten ihn für seine deutlichen Worte. Erdoğan sprach nicht an sein Gegenüber (d.i. Olaf Scholz), sondern an die Tribünen gerichtet, und kehrte, wenn auch ohne greifbare Ergebnisse, mit dem Habitus eines siegreichen Feldherrn heim. Das könnte ausreichen, seine Anhänger glücklich zu machen und die näher rückenden Kommunalwahlen in der Türkei zu gewinnen. / Es sieht danach aus, dass die Autokraten mit ihrem Straßenjargon weiter herrschen werden. Solange die demokratischen Regierungen Europas nicht lernen, mit dieser Sprache umzugehen, die sich in aller Welt rasant ausbreitet und immer mehr Abnehmer findet.“ Can Dündar nennt weitere Beispiele aus dem Sprachschatz von Orbán, Trump und Putin.
  • Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Ergänzend zu ihrem Tagungsprogramm bietet die Akademie Tutzing den Podcast „Akademie fürs Ohr“. Beate Winterer, Ursula Münch und weitere Mitglieder des wissenschaftlichen Kollegiums unterhalten sich über aktuelle Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Podcast ist kostenlos und unter anderem auf Spotify, iTunes, Deezer, Google Podcasts und YouTube verfügbar. In der neuesten Podcast-Episode „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ spricht Gero Kellermann, Dozent für Staats- und Verfassungsrecht sowie Rechtspolitik der Akademie über die Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, ihre heutige Bedeutung, auch im Hinblick auf den russischen Angriff auf die Ukraine. Zum 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat auch „Aus Politik und Zeitgeschichte“ eine eigene Ausgabe veröffentlicht, in der unter anderem Zusammenhänge zur Klimakrise, zu den Debatten um den sogenannten Postkolonialismus und zur oft umstrittenen Rolle des UN-Menschenrechtsrates thematisiert werden.
  • Polen: Nach langem Warten hat Polen eine neue Regierung, zum dritten Mal unter Premierminister Donald Tusk. Was von der Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten zu halten und von seinem Kabinett zu erwarten ist, haben Agnieszka Łada-Konefał, Peter Oliver Loew und Bastian Sendhardt in der dritten Folge von „Alles über Polen“, dem Podcast des Deutschen Polen-Instituts, diskutiert.
  • Falschmeldungen: Correctiv hat zum Jahresende die zehn hartnäckigsten Falschmeldungen des Jahres 2023 zusammengestellt. Darüber hinaus bietet Correctiv Anleitungen, wie man Falschmeldungen erkennen könne. Dazu gehören Videos mit dem Politologen Philipp Adorf zu den Fragen Wie können populistische Argumente entkräftet werden?“, Wie viel Aufwand lohnt sich?, Wie kann der Diskurs aufrechterhalten werden?, Was tun, wenn im engsten Familien- und Freundeskreis populistische Aussagen fallen?
  • Antifaschismus: In der Jubiläumsausgabe „Ein Jahr neuer Tagesspiegel“ wurde Hedwig Richter gefragt, wie sich die AfD erfolgreich bekämpfen ließe. Sie schrieb, dass die Formel des Antifaschismus nicht helfe, da sie noch aus der DDR-Zeit als „Hohlformel“ verstanden werde. Es gelinge der AfD mit einfachen Mitteln, Klimawandel und Artensterben als Erfindungen der Regierung und der sie tragenden Parteien zu diffamieren. Die AfD verdanke ihre Erfolge einem „Gefühlsangebot“, es gäbe für alles eine einfache Lösung. Beispielsweise helfen in der Migrationspolitik die Regierungsformeln von „Rückführung“ und „sichere Herkunftsländer“ (oder der Verweis auf Asylprüfungen jenseits der EU-Außengrenzen) nicht weiter, da sie sich immer wieder als undurchführbar erwiesen. Die Verantwortung liegt bei den demokratischen Politikerinnen und Politikern: „Kurz: Indem die demokratischen Politikerinnen und Politiker eine ehrliche Diagnose verweigern und schon gar keine Antworten geben, dienen sie geradezu als Verstärker der AfD-Lügen und des AfD-Hasses. Mehr Ehrlichkeit, mehr Zumutungen im Angesicht der immer mehr und immer größeren Krisen, mehr Mut, mehr Realismus, mehr Idealismus, mehr Güte – auch ohne AfD wäre eine solche Politik das Gebot der Stunde.“
  • Kinderbetreuung, Kinderarmut, Elternstreiks: Kindertageseinrichtungen reduzieren die Öffnungszeiten, der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in Schulen soll ab 2026 umgesetzt werden, aber auch hier fehlt an allen Ecken und Enden (qualifiziertes) Personal. Frida Thurm schlug am 28. November 2023 in ZEIT Online vor, Eltern sollten jedes Mal, wenn die Betreuung ihrer Kinder fehle, ihre Arbeitgeber bestreiken, bis diese der Politik in Bund und Ländern so viel Druck machen, dass diese eine angemessene Betreuung sicherstellen. Nur am Rande: der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Schulkinder erstreckt sich auf acht Stunden incl. Unterricht. Für eine Vollzeittätigkeit reicht das nicht aus. Ein weiteres Argument für eine Viertagewoche (beziehungsweise auf fünf Tage verteilte 35 Stunden Arbeitszeit). Davon dürften nicht nur die Eltern, sondern auch die Betriebe profitieren. Die gängigen Vorstellungen von Arbeitszeiten gehen leider immer noch von der sogenannten Normalfamilie der 1970er Jahre aus, Vater arbeitet ganztägig und mehr, Mutter vielleicht in einem Teilzeitjob und in der häuslichen Kinderbetreuung. Und die sogenannte „Kindergrundsicherung“ droht zu einem Bürokratiemonster zu werden, ähnlich wie es seinerzeit vor etwa zwölf Jahren das sogenannte „Bildungs- und Teilhabepaket“ (BuT) wurde. Die Kritik der Kommunen verhallte bisher unerhört. Kinderarmut hat durchaus auch etwas mit fehlender Kinderbetreuung zu tun. Ebenso ließe sich die ständig wiederholte Annahme, die Deutschen arbeiteten im Wesentlich weniger als die Bürger:innen fast aller anderen Staaten. Dies trifft zwar im Grundsatz zu, unterschlägt allerdings, dass überdurchschnittlich viele Menschen in Deutschland in Teilzeit arbeiten. David Gutensohn und Hannah Scherkamp analysierten diese Zusammenhänge für die ZEIT. Der Zusammenhang mit fehlender Kinderbetreuung ließe sich ergänzen. Ronja Merkel interviewte für den Tagesspiegel den Armutsforscher Christoph Butterwegge, der ebenso wie die Diakonie für eine wirksame Kindergrundsicherung einen Bedarf von 20 Mrd. EUR errechnet hatte. Sein Buch „Die polarisierende Pandemie – Deutschland nach Corona“ (erschien 2017 bei Beltz Juventa) wurde im Demokratischen Salon vorgestellt.
  • Streit um das Bürgergeld: Der Streit um die Berechtigung und um die Höhe des Bürgergelds wird ausgesprochen emotional geführt. Während die einen es für die entscheidende Lösung im Kampf gegen Armut verstehen, behaupten andere, dass das Bürgergeld anrege, sich auf die faule Haut zu legen. Beides ist Unsinn. Roland Preuß beschrieb am 5. Dezember 2023 in der Süddeutschen Zeitung die Ergebnisse einer im Koalitionsvertrag der Ampel verabredeten Studie, die die finanziellen Auswirkungen des Bürgergeldes untersuchen sollte. Dem bestehenden System wird eine hohe „Komplexität“ bescheinigt, die man auch „Unübersichtlichkeit“ nennen könnte. Diese führt dazu, dass eine Alleinerziehende, die bisher Bürgergeld bezog, aber eine um etwa 500 EUR besser entlohnte Tätigkeit aufnimmt, lediglich 84 EUR mehr zur Verfügung hat. Zugespitzt: „Wer mehr arbeitet, hat weniger Geld.“ Das derzeitige System ist ineffizient. „Die Forschenden schlagen vor, den Beschäftigten in diesen Konstellationen deutlich mehr von ihrem Lohn zu belassen als bisher, indem ihnen weniger Sozialleistungen gestrichen werden.“ Das wäre eine Möglichkeit. Andere Möglichkeiten wären ein auskömmlicher Mindestlohn, der deutlich höher liegen müsste als derzeit vorgesehen, eine ausreichende Kinderbetreuung, die es vor allem Müttern ermöglicht, eine ganztägige Arbeit anzunehmen, sowie ein Abbau der bürokratischen Hürden, die Zugewanderte hindern, eine Arbeit anzunehmen.
  • Schlecht zu Fuß: Manchmal könnte man meinen, es kandidieren für politische Ämter zurzeit nur zwei Parteien, die Autofahrer- und die Radfahrendenpartei (gegendert nach Vorlieben der jeweiligen Parteien). Aber so langsam organisieren sich Menschen, die gerne zu Fuß gehen (ich selbst gehöre zu diesen Menschen und erledigen meine Einkäufe alle zu Fuß oder mit dem ÖPNV). Für den Tagesspiegel sprach Stefan Jacobs mit Roland Stimpel, Vorstand von FUSS e.V. „Stellen wir uns mal vor, wie Bullerbü heute aussähe: Drei Höfe, vor jedem Hof ein Carport mit zwei bis drei Autos. Die Kinder von Bullerbü erleben draußen keine Abenteuer mehr, weil der Verkehr zu gefährlich ist. Manche Leute sagen: Wer keine Autos mag, soll aufs Land ziehen. Dabei ist man in den Bullerbüs von heute zum Autofahren gezwungen. In der Stadt ist man viel freier in der Wahl der Verkehrsmittel.“ In der ZEIT berichtete Kerstin Schweighöfer über Entwicklungen in Utrecht. Auch dort hat sich eine Fußgängervereinigung gegründet, weniger wegen der Autofahrer, sondern wegen der Radfahrer, die sich inzwischen für „die Könige“ der Straße zu halten scheinen und auch entsprechend benehmen (ich empfehle zu diesem Thema, einmal nach Münster zu fahren, in Bonn herrschen inzwischen ähnliche Zustände). Straßenkindheiten gibt es so gut wie kaum noch in den Städten. Radfahrende passen sich auch in ihren Geschwindigkeiten zunehmend der Autokonkurrenz an. Noch einmal Roland Stimpel: „Daraus folgen zwei Optionen: Entweder wir sperren die alten Leute ein, wie wir es faktisch mit den Kindern gemacht haben, die nicht mehr allein rausdürfen. Oder wir passen endlich den Verkehr den Menschen an. Entschleunigung ist der Schlüssel; außerdem bessere Querungsmöglichkeiten. Wer schlecht zu Fuß ist und zur Apotheke auf der anderen Straßenseite will, läuft nicht 300 Meter bis zur nächsten Ampel.“ Der Flâneur, von dem Walter Benjamin in seinem Passagenwerk schrieb, dürfte eine ausgestorbene Spezies sein. Roland Stimpel wirbt für mehr Gelassenheit: „Was tut uns besser? 20 Minuten Stress oder eine halbe Stunde gutes Leben?“
  • Ein streitbarer Demokrat: Seine letzte Rede hielt im Deutschen Bundestag Jürgen Trittin am 14. Dezember 2024. Er war im besten Sinne streitbar, bereit, sich offensiv mit Menschen, die anders dachten oder andere Schlüsse aus den vorliegenden Fakten und Entwicklungen zogen, auseinanderzusetzen. Er sagte: „Gutes Regieren erweist sich in solchen Krisen. Gutes Regieren ist auch die Fähigkeit zur Umkehr.“ Die Fähigkeit zur „Umkehr“ bewiesen unterschiedliche Regierungen, in den jugoslawischen Zerfallskriegen, nach Fukushima, nach Putins Überfall auf die Ukraine. Vielleicht sollten wir, die wir die Politik kommentieren, innehalten und genauer hinschauen, wenn wir nur das Schlechte sehen wollen. Vielleicht ist das Schlechte nur einfach das Schwierige. Für diejenigen, die sich auf das Schwierige einlassen statt es zu leugnen, gilt bei allem Streit: „Gutes Regieren schafft nachhaltige Veränderungen.“ Und das, was manche für eine Schwäche halten, ist eine Stärke der deutschen Demokratie: „Anders als in den USA sind in Deutschland auch lagerübergreifende Koalitionen möglich. (…) Das ist kein Ausdruck von Beliebigkeit, das ist Ausdruck von Verantwortung.“ Auch der Demokratische Salon dankt Jürgen Trittin für sein Engagement, seine klaren Worte und hofft auf Nachfolger:innen, die sich innen- wie außenpolitisch pointiert zu äußern verstehen und vor allem eines vertreten: die Sicherheit und den Wert unserer liberalen und streitbaren Demokratie. Ein letzter Satz: „Man darf Antidemokraten keine Macht übertragen. Nie wieder.“

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Mit den besten Grüßen verbleibe ich

Ihr Norbert Reichel

(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 22. und 28. Dezember 2023.)

P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen dieses Newsletters nicht interessiert sein, bitte Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.