Polen in der DDR – eine Fallstudie
Paweł Zajas über Literaturbeziehungen im ehemaligen „Ostblock“
„Was ich sagen wollte: die vielen bedeutenden Leseeindrücke, die ich seit fünfunddreißig Jahren durch die Lektüre guter Literatur habe – wo sind die Konsequenzen, was ist von den vielen klugen Gedanken wirklich in mich eingegangen, hat sich mein Denken dadurch verändert?“ (Henryk Bereska, Kolberger Hefte, in: Die Verschwiegene Bibliothek, herausgegeben von Ines Geipel und Joachim Walther, Frankfurt am Main / Wien / Zürich, Büchergilde Gutenberg, 2007)
Dies schrieb Henryk Bereska (1926-2005), renommierter Übersetzer vom Deutschen ins Polnische und vom Polnischen ins Deutsche, am 8. Januar 1986 in sein Tagebuch, das er über Jahrzehnte führte. Die Originale sind in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur einsehbar. Ines Geipel charakterisiert seine Tagebücher in „Gesperrte Ablage“ mit den Worten: „In seinen Tagebüchern etablierte sich – ähnlich wie bei Eveline Kuffel – eine bestimmende Figur, das Säufer-Ich als Anti-Helden. (…) Der Tagebuch-Trinker entlastet sich von jedweder Konformität und wird darin zwangsläufig zum Konterpart des im Land ausgerufenen Arbeiterhelden.“
Henryk Bereska war ein wichtiger Mittler zwischen den Literaturen der DDR und Polen, obwohl manche seiner Übersetzungen in der DDR – so Ines Geipel und Joachim Walther in „Gesperrte Ablage“ (Düsseldorf, Lilienfeld Verlag, Neuauflage 2024) – durch die Stasi „blockiert“ wurden. Er schrieb Gedichte, die jedoch erstmals im Jahr 1980 veröffentlicht werden konnten, allerdings nicht in der DDR, sondern in Westberlin (amBEATion – randlage). Sein 60 Seiten umfassender Gedichtband „Lautloser Tag“ ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Kampfgebiet Literatur
Die Biographie von Henryk Bereska darf durchaus als Beispiel für die Spanne und die Spannungen gelesen werden, die in der DDR zwischen der behaupteten „Internationalisierung“ und einer dort nie gelebten „Weltoffenheit“ liegen mögen. Paweł Zajas, Professor für Literaturwissenschaft an der Fakultät für Anglistik der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, ist den Hintergründen dieser Spanne und Spannungen in seiner Studie „Sozialistische Transnationalisierung – Literarische Verflechtungen im europäischen ‚Ostblock‘“ nachgegangen. Der Band wurde im Jahr 2025 in der vom Deutschen Polen Institut beim Wiesbadener Harassowitz Verlag herausgegebenen Reihe veröffentlicht. Paweł Zajas bezeichnet seine Studie als „literatursoziologische Arbeit“, doch ist sie viel mehr als das. Sie bewegt sich im weiten Feld von „Kulturtransferforschung“ und „Politikwissenschaft“, das der Autor im Anschluss an Volker Rittbergers Buch „Internationale Organisationen – Politik und Geschichte“ (Opladen, Leske + Budrich, 2/1995) wie folgt charakterisiert: „Während sich die Kulturtransferforschung also vorwiegend auf die Funktion informeller und privater Akteure konzentrierte, analysierte die Politikwissenschaft institutionalisierte Akteure wie supranationale Einrichtungen als ‚Instrumente staatlicher Diplomatie‘ oder ‚konferenzdiplomatische Dauereinrichtungen bzw. intergouvernementale Verhandlungssysteme‘, welche den Staaten dazu dienen, ihre partikularen Interessen zu verfolgen.“
Die Studie füllt eine gravierende Forschungslücke und regt weitere Forschungen und Auseinandersetzungen an. Beeindruckend sind die ausführliche Literaturliste und das umfangreiche Personenregister. Die Studie analysiert die kulturellen Entwicklungen in der DDR und verschiedenen Phasen der DDR-Kulturpolitik auf der Grundlage der Positionierungen staatlicher Institutionen und von Schriftstellerverbänden, der Verfahren der Zensur sowie der mit der Rezeption und Veröffentlichung ausländischer Literaturen verbundenen transnationalen Kontakte.
Es geht in der Studie von Paweł Zajas einerseits um die internen Verflechtungen des Umgangs mit Literatur im Land der SED-Diktatur, andererseits um Verflechtungen mit dem Ausland, die mitunter Freiräume eröffneten, die innerhalb der DDR nicht zulässig waren. Eben dies spiegelt sich nicht zuletzt im Umgang mit Übersetzern und Übersetzerinnen. Aber Lektorinnen und selbst SED-Kader nutzten solche Spielräume, beispielsweise die Lektorin Jutta Janke, unter anderem mit ihrer Unterstützung des Übersetzers Henryk Bereska, oder auch der SED-Kader Klaus Höpcke. Welche Spielräume Autorinnen und Autoren hatten, beschrieb der Science-Fiction-Autor und Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller beispielswiese in seinem Beitrag „Die zensierte Zukunft“ (in: Demokratischer Salon, Juli 2025). Steinmüller berichtet, wie er als Autor etwas Argumentationsgeschick brauchte, um den Lektor zu überzeugen, sich aber auch die Druckfahnen sehr genau ansehen musste, weil manch eifriger Setzer eigene Korrekturen anbrachte, von denen er dachte, dass diese die Parteilinie besser wiedergäben.
In der Kulturpolitik der sozialistischen Staaten im sogenannten „Ostblock“ folgten in kurzen Abständen „Tauwetter“-Phasen (den Begriff „Tauwetter“ prägte Ilja Ehrenburg mit einem 1954 erschienenen Roman) und neuerliche Repression aufeinander. Die polnische Praxis war in der Regel liberaler als die Praxis in der DDR. Dies ist Thema des ersten Teils der Studie von Zajas: „‚Vom Blühen aller Blumen, oder von der Elbe bis zum gelben Meer‘ Mobilität und sozialistische Literaturplanung“. Der Titel des Kapitels folgt der Überschrift der Abschlussrede des damaligen DDR-Kulturministers Johannes Robert Becher (1891-1958), die dieser am 14. April 1957 in der Konferenz des Verlagswesens der sozialistischen Länder in Leipzig Markkleeberg hielt.
Kultur war Kampfgebiet. Becher sagte: „Während die kapitalistische Buchproduktion mit wenigen Ausnahmen als Geschäft betrieben wird und damit von der Tendenz des Marktes abhängig ist, plant das sozialistische Verlagswesen seine Tätigkeit in ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Funktion.“ Die somit implizit dem „kapitalistischen“ Westen vorgeworfene Kulturlosigkeit umfasste im Grunde alles, was die DDR und die Sowjetunion als selbsternannte Speerspitzen des Fortschritts – und der Kultur – in Frage stellte. Diese Rede machte Eindruck. Zajas berichtet: „Bechers Abschlussrede musste den mehr liberal eingestellten Teilnehmern aus Polen oder der Tschechoslowakei anschaulich gemacht haben, dass die in der DDR einsetzende Kampagne gegen den ‚Revisionismus‘ – welche im Dezember 1956 die Verhaftung des Leiters des Aufbau-Verlags Walter Janka und seines Cheflektors Wolfgang Harich sowie beider Redakteure der Zeitschrift SONNTAG, Gustav Just und Heinz Zöger, unter Anklage der konterrevolutionären Verschwörung zur Folge hatte – das antistalinistische Tauwetter in Ostdeutschland beendete.“ Im Folgenden nennt Zajas mehrere Beispiele für die „kulturpolitische Abschottung des DDR-Literaturbetriebs“ wie die Debatte um Franz Kafka nach der Kafka-Konferenz des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes vom Mai 1963 oder das legendäre „Kahlschlagplenum“ des ZK der SED im Dezember 1965, als nur Christa Wolf versuchte, der neuen Linie zu widersprechen.
Paweł Zajas verweist auf Alexey Tashinskiy (er forscht am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim), der eine „Verflechtungsgeschichte zwischen Ideologie und Idiosynkrasie“ diagnostiziert (in: Alexey Tashinskiy, Julija Boguna, Andreas F. Kelletat, Hg., Übersetzer und Übersetzen in der DDR – Translationshistorische Studien, Berlin, Frank & Timme 2020). Gemeint ist eine Art kollektives Literaturbewusstsein im Sinne einer ideologisch-literarischen Gemeinschaft zwischen den Akteuren in Partei und Staat auf der einen Seite und denjenigen auf der anderen Seite, die Literatur bewerten und die Entscheidungen über eine Veröffentlichung oder Nicht-Veröffentlichung vorbereiten. Lektorinnen und Lektoren arbeiten nach Vorgaben, Staat und Partei können sich wiederum auf deren Ideologiefestigkeit verlassen.
Unter solchen Bedingungen läuft die Unterdrückung unliebsamer Literatur so gut wie reibungslos. Ideologische Argumente müssen dafür gar nicht mehr benannt werden. Stattdessen reicht es, die Qualität des Manuskripts herabzusetzen und die Autorin beziehungsweise den Autor schlichtweg für literarisch unfähig zu erklären. Dies erlebte beispielsweise Sylvia Kabus. Ines Geipel berichtet im Nachwort des Romans „Weißer als Schnee“ (in: Die Verschwiegene Bibliothek 2008), wie die Lektoratsleiterin des Aufbau-Verlags Sigrid Töpelmann, „der unter den Schreibenden des Landes der Ruf ihrer scharfen ideologischen Klinge vorauseilte“, Sylvia Kabus einfach jede „Sprachbegabung“ absprach: „Das wird auch nichts werden. Dafür habe ich genug Erfahrung in dem Beruf. Sie sind keine ursprüngliche Erzählerin.“ Schwierig wird es für Staat und Partei, wenn sich diese Ideologiefestigkeit lockert, beispielsweise durch Kontakt mit ausländischen Autorinnen und Autoren.
Eine „Entkoppelung“ von Macht und Medien gab es in der DDR nie, eine grundlegende Folie war das „deutsch-deutsche Konkurrenzverhältnis“. Bei den Übersetzungen dominierte russischsprachige Literatur, obwohl es selbst in der Sowjetunion in einer Konferenz der Schriftstellerverbände im August 1963 in Leningrad Signale gab, die man als Öffnungssignale hätte deuten können. Unter den Teilnehmern waren aus Westdeutschland beispielsweise Hans Werner Richter und Hans Magnus Enzensberger, aus Frankreich Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet, aus Italien Giuseppe Ungaretti. Robbe-Grillet wandte sich – so Zajas – „gegen den fortgesetzten Druck auf die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, ihre Arbeit politisch zu rechtfertigen“. Immerhin erschienen Romane von Nathalie Sarraute und Michel Butor im Verlag Volk & Welt beziehungsweise im Aufbau-Verlag. „Nach der Zerschlagung des Prager Frühlings im August 1968 sowie dem Ausschluss Solschenizyns aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband im November 1969 geriet die gemeinsame Mitarbeit der ‚Ostblock‘-Länder ins Stocken.“
Gratwanderungen
Der zweite Teil trägt den programmatischen Titel „‚Helsinki sind wir‘ Internationale DDR-Literatur“. Hintergrund ist der Helsinki-Prozess, insbesondere Korb 3, dessen Wirkung Sowjetunion und DDR unterschätzt haben (näheres zu diesem Thema im Themenheft von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 12. Juli 2025, insbesondere im Beitrag von Sarah B. Snyder). Das Kapitel beginnt mit Briefen an den damaligen Kulturminister der DDR Hans-Joachim Hoffmann (1929-1994), um die dieser selbst gebeten hatte, um mehr über „Lesegewohnheiten und -erfahrungen“ mehr oder weniger prominenter Persönlichkeiten zu erfahren. Die Briefe können inzwischen im Deutschen Literaturarchiv Marbach eingesehen werden.
Stellvertretender Minister für Kultur war damals Klaus Höpcke, der diese Briefe auszuwerten hatte. In seiner Auswertung verwies er auf den in den Briefen benannten „Vorbildcharakter der Sowjetunion“. Allerdings gab es auch Vorschläge „zu einer liberaleren und inklusiveren Editionspolitik“. Diese von oben angestoßene Briefkampagne – so erlaube ich mir dies zu nennen – spielte möglicherweise ihre Rolle im Repressionsapparat einer Diktatur. Scheinbar liberale Aufforderungen lassen Regimegegner viel schneller erkennen als dies die Bespitzelung durch Sicherheitsbehörden könnte. Und der Staat greift zu. Das bekannteste Modell für dieses Vorgehen lieferte Mao in seiner Hundert-Blumen-Kampagne 1957 und 1958. Der DDR-Führung war schon sehr früh klar, dass es nicht ausreiche, eine sozialistische Kulturpolitik beziehungsweise den „sozialistischen Realismus“ als Staatsdoktrin zu verordnen, sondern dass es einer „Umerziehung“ bedürft. So war es schon in den Anfangsjahren der Sowjetunion. „Die als ‚demokratisch‘ und ‚antifaschistisch‘ deklarierte Übergangsperiode betrug in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR sechs Jahre.“
In diesem Kapitel beschreibt Paweł Zajas das Auf und Ab am Beispiel von verschiedenen Anthologien polnischer Literatur in der DDR, mit polnischen Erzählungen und Dramen, mit polnischer Lyrik. „Die analysierten Anthologien polnischer Literatur erwiesen sich als ein relativ unbehelligter, schützender Ort, in dem die schwierigsten Publikationsprojekte heranwachsen und ihre Zeit abwarten konnten“. Nachworte gaben die Chance, Texte, die als problematisch erachtet werden könnten, einzuordnen: „Für die Absicherung der Texte war daher ein geschickter Gebrauch bestimmter Codewörter wichtig.“
Die Lektorin Jutta Janke (1932-2004), im Verlag Volk & Welt zuständig für polnische Literatur, beherrschte dieses Geschäft, auch wenn sie sich der vorgegebenen Parteilinie nie entzog. Zajas beschreibt ihre Gratwanderungen an mehreren Beispielen. Ein Verdienst von Jutta Janke war die Veröffentlichung der Anthologie „Moderne polnische Prosa“ im Jahr 1964, die auch Texte von Tadeusz Borowski (1922-1951) und Kazimierz Brandys (1916-2000) enthielt. „Dass es überhaupt so weit kommen konnte, war nicht zuletzt dem Vorwort der Herausgeberin zu verdanken. Der Text sowie die an ihm geübte Kritik veranschaulichen, dass die Herausgabe polnischer Literatur Mitte der 1960er Jahre stets ein Vabanquespiel war. Potenziell problematische Erzählungen aus der Zwischenkriegszeit, etwa Pan von Bruno Schulz, versuchte Janke den kulturpolitischen Wächtern mundgerecht zu machen, indem sie den Autor als Schriftsteller darstellte, dessen nach der nationalen Befreiung entstandene ‚Wunschbilder in der grauen Wirklichkeit des bürgerlich-kapitalistischen Staates zerrannen, als sich 1929 Piłsudski zum Diktator aufwarf und alle fortschrittlichen Bestrebungen mit Terror zu unterdrücken begann‘.“
Ein weiteres Verdienst ist die von Henryk Bereska seit 1957 betriebene Herausgabe des ersten Erzählbands von Marek Hłasko (1934-1969) „Pierwszy krok w chumurach“ („Der erste Schritt in den Wolken“). Jutta Janke unterstützte dies, benannte aber auch das Problem: „Die ‚Entwertung der Dinge durch den Alltag‘ zwinge den Autor zum Protest. In seiner Neigung, Negatives aufzudecken, ‚schießt er oft eruptiv über das Ziel hinaus‘, der ‚Drang nach der Auffindung der Wahrheit‘ bleibe aber das Geheimnis seiner großen Aussagekraft.“ Es fehlte sozusagen die parteiliche Perspektive mit dem Ausblick auf die großartige sozialistische Zukunft. Ähnlich argumentierte Jutta Janke zu der von Henryk Bereska übersetzten Erzählung „Bei uns in Auschwitz“ von Tadeusz Borowski. Sie kritisierte entsprechend der Linie von Partei und Staatsführung, dass Borowski sich „nicht einer hoffnungsvollen Beschreibung der heldenhaften Kommunisten“ befleißigt habe, sondern „von der moralischen Degradierung des Menschen“. Tadeusz Borowski, ohnehin ein kritischer Autor im Kontext des sogenannten „Lagerdiskurses“, der sich insbesondere um das Lager Buchenwald entspann, ist geradezu ein Paradebeispiel für die ideologische Einordnung von Literatur in der DDR, die Paweł Zajas im Detail beschreibt.
Ein ebenso bedeutender Streitpunkt war die Bewertung des Warschauer Aufstands als Gegenstand von Literatur. Der SED-Kader Klaus Höpcke hatte überraschenderweise das Buch „Kolumbus Jahrgang 20“ von Roman Bratny (1921-2017) empfohlen. Hier folgte Jutta Janke der sowjetischen Linie. Zajas schreibt: „Für Janke stellte der Aufstand ein angeblich von den Westmächten gefördertes oder gar von ihnen initiiertes ‚reaktionäres‘ und unausweichlich zum Scheitern verurteiltes Unterfangen dar. Die von Stalin angeordnete Tatenlosigkeit der Roten Armee hingegen, die einsatzbereit östlich von Warschau abgewartet hatte, galt für Janke erinnerungspolitisch als tabu.“
Gutachten spielten eine wichtige Rolle in den Entscheidungsprozessen. Marianne Dreifuß, unter anderem Leiterin des Lyrik-Aktivs im Schriftstellerverband, setzte sich in ihrem Gutachten für die Veröffentlichung von Bruno Schulz, Die Zimtläden, ein. In einem anderen Gutachten schrieb sie, es sei, „auf die Dauer untragbar, daß wir der polnischen Literatur gegenüber eine ablehnende oder zumindest ausschließlich abwartende Haltung einnehmen.“ Sie verwies auf „Bemühungen von westdeutscher Seite“, triggerte damit die deutsch-deutsche Konkurrenz und fuhr fort, „wir müssen uns mit dem Gesamtcharakter der polnischen Gegenwartsliteratur abfinden (dem Überwiegen der kritischen Züge, der Experimentierleidenschaft, dem Intellektualismus) und versuchen, aus dem Vorhandenen die Aussagen auszuwählen, die durch ihren Ernst, ihre Ehrlichkeit und ihr literarisches Niveau überzeugen.“
Die Buchmessen
Im dritten Teil seiner Studie befasst sich Paweł Zajas mit den internationalen Buchmessen in Ost und West, ein „Politikum ersten Ranges“. Buchmessen und Kunstmessen spielten eine Rolle beim Austausch beziehungsweise auch beim verhinderten Austausch zwischen Ost und West. Für die documenta hat die Kunsthistorikerin Alexia Pooth dies in einer Studie ausführlich analysiert und ihre Ergebnisse kurz und prägnant im Demokratischen Salon vorgestellt. Es gibt durchaus Parallelen zwischen dem Verfahren der Kulturbehörden gegenüber Literatur und bildender Kunst.
Im Hinblick auf die Leipziger Buchmesse gab es Überlegungen, wie diese – im Kontrast zur Warschauer Buchmesse – „‚im stärkeren Maße zu einer ‚kulturellen Manifestation des sozialistischen Lagers‘ werden sollte.“ Wichtiger wurde jedoch die Frankfurter Buchmesse, die durchaus im Sinne des in der Hallstein-Doktrin formulierten Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik Deutschland konzipiert wurde, aber auch Öffnungen nach Osten zeigte. Bis in das Jahr 1990 förderte das Auswärtige Amt Buchexporte nach Osteuropa. Außerdem führte die Frankfurter Buchmesse Länderschwerpunkte ein. Dies waren allerdings zunächst außereuropäische Literaturen, 1976 Lateinamerika, dann 1980 Afrika. Bemerkenswert war die von Zajas beschriebene Rede der damaligen Staatsministerin im Auswärtigen Amt Hildegard Hamm-Brücher, die schon damals die „Aufarbeitung des Schocks der Kolonisierung“ und die „Bewältigung der Enttäuschungen der Entkolonialisierung“ anmahnte.“
Witold Wirpsza (1918-1985) war 1968 der erste Autor aus den sogenannten „Ostblock-Staaten“, der in Frankfurt die Eröffnungsrede hielt. Ein Jahr zuvor war er der erste polnische Stipendiat im Berliner Künstlerprogramm des DAAD. Im Hanser-Verlag erschien „Orangen im Stacheldraht“. Der SED-Führung gefiel dies nicht und der Leiter der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED Johannes Hörnig (1921-2001) nannte in seinem Bericht an Kurt Hager Wirpszas Vortrag „moderne Spielart des Formalismus“, rief somit die zu Beginn der 1950er Jahre betriebene Formalismusdebatte ins Gedächtnis. Ebenso kritisch sah die DDR-Führung mehrfach die Verleihung des Friedenspreises, zum Beispiel an Leszek Kolakowski, Lew Kopelew und Manès Sperber.
Eine schwierige Rolle spielten auf der Frankfurter Buchmesse Parallelverlage in Ost und West, zum Beispiel Insel, Reclam, Brockhaus und Kiepenheuer. Es gab von Seiten des Westens mehrere Initiativen, die Ostverlage zu verbieten. Erfolg hatten sie nicht. Paweł Zajas verweist auf die gegenüber der DDR in Frankfurt gepflegte liberalere polnische Ausstellungspraxis. Die Bedeutung der Frankfurter Buchmesse fasst Zajas wie folgt zusammen: „Die Frankfurter Buchmesse war somit nicht nur das Fenster zur fremden Welt. Paradoxerweise bot sie auch infrastrukturelle Möglichkeiten für den Export des heimischen politischen Dissens sowie den Import von polnischen ‚Exilnarrationen und -topoi“.“
Die Warschauer Buchmesse hatte für das Auswärtige Amt in Bonn „eine bedeutende kulturpolitische Funktion“. Entsprechend sah die DDR-Botschaft in Warschau „politische Propaganda im Vordergrund“ und vermutete „eine ideologische Offensive gegen die DDR“. Zajas resümiert: „Die DDR-Präsenz in Warschau hing von der jeweiligen politischen Großwetterlage in Ostberlin ab. Die inszenierte Liberalität der Buchmesse wurde zwar mit gebührendem Argwohn betrachtet, die Offenheit der Veranstalterinnen und Veranstalter gegenüber den westlichen Ausstellerinnen und Ausstelllern bot aber auch für die DDR-Vertreterinnen und Vertreter genügend Raum für Gespräche über Exportmöglichkeiten in das kapitalistische Ausland.“ Petra Kipphoff schrieb in der ZEIT vom 27. Mai 1966: „Große Geschäfte gibt es nicht, dafür kleine Kontakte“. Die Warschauer Buchmesse verlor Ende der 1970er Jahre an Bedeutung, weil es seit 1977 in Moskau eine „unmittelbare Konkurrenz“ gab. Eine stärkere Präsenz hatten in Moskau die sogenannten „Entwicklungsländer“.
Neugier in der Paranoia
Das Auf und Ab in den Literaturbeziehungen der DDR zu östlichen wie zu westlichen Staaten belegt nicht nur einen Hauch von Paranoia. Dennoch gab es immer wieder zaghafte Öffnungen, sei es durch geschickte Lektorate, sei es durch staatliche Lockerungen, die durchaus vorhandene Neugier anstachelten. Insbesondere die Buchmessen belegen zweierlei: Einerseits hatten sie das Potenzial eines Fensters zur Welt, andererseits wurden sie in Ost und West gleichermaßen mehr oder weniger politisiert und im Sinne der jeweiligen Doktrin auch instrumentalisiert, im Osten wie im Westen. Es lohnt sich nicht nur der Blick in die Interna der DDR-Nomenklatura, sondern auch in diverse Empfindlichkeiten im Westen. Paweł Zajas verweist auf einen Vorfall aus dem Jahr 1959, als Hans-Joachim Kulenkampff (1921-1998) bei der Eröffnung einer neuen Quizreihe ausdrücklich die „lieben Fernsehfreunde in Österreich, in der Schweiz und in der Bundesrepublik, in der DDR und alle Kiebitze in den Zonen- und anderen Grenzgebieten“ begrüßte. Politiker aus CDU und SPD verlangten eine Untersuchung, der Intendant des Hessischen Rundfunks distanzierte sich: „Die Untersuchung ergab, dass der Vorwurf, Hans-Joachim Kulenkampff stehe im Solde Walter Ulbrichts, solider Grundlagen entbehrte.“
Im Gedenken an Henryk Bereska sollte das Buch von Paweł Zajas auch im Kontext der Literatur gelesen werden können, die in der DDR nicht veröffentlicht werden durfte, deren Autorinnen und Autoren schikaniert, verhaftet, in den Westen abgeschoben oder gar in den Selbstmord getrieben wurden. Dies haben Ines Geipel und Joachim Walther in „Gesperrte Ablage“, anderen Studien und Veröffentlichungen und der Herausgabe der Verschwiegenen Bibliothek ausführlich dokumentiert. In der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur lagern noch über 70.000 Seiten von etwa 100 Autorinnen und Autoren, die bisher niemand ausgewertet hat. Der Umgang mit den eigenen Leuten zeigt die Brutalität einer Diktatur, der Umgang mit Autorinnen und Autoren aus anderen Ländern, gerade aus Nachbarländern, entlarvt ihre in ihrer Paranoia verborgene Hilflosigkeit.
Paweł Zajas hat mit seiner Studie ein wichtiges Kapitel zur Präsenz und Vermittlung polnischer Literatur in deutschen Verlagen, Buchhandel und Buchmessen niedergeschrieben. Er tat dies in bester Tradition des Deutschen Polen-Instituts, das von Karl Dedecius insbesondere mit dem Ziel der Vermittlung polnischer Literatur gegründet wurde. Die Studie vermittelt jedoch nicht zuletzt eins: Sie zeigt, dass letztlich alle Versuche, Literatur und Kultur zu regulieren, zu unterdrücken, die Bürgerinnen und Bürger eines Landes davon abzuhalten, etwas zu lesen, das der jeweiligen Staatsdoktrin widerspricht, letztlich scheitern müssen. Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag haben dies in dem von ihnen herausgegebenen Band „Heimliche Leser in der DDR – Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur“ ausführlich dokumentiert. Ein Kapitel trägt den vielsagenden Titel: „Kontrollierte Kontrolleure und widerspenstige Leser“. Tadeusz Borowski schrieb in seiner Erzählung „Wir waren in Auschwitz“ („Bylyśmy w Oświęcimiu“, zitiert nach der deutschen Übersetzung von Friedrich Griese, Frankfurt am Main, Schöffling, 2006): „Ich weiß nicht, ob wir es überleben werden, aber ich wünschte, wir würden einmal die Dinge beim Namen nennen können, wie es mutige Menschen tun.“ Es ist vielleicht – hoffentlich – einfach doch nur eine Frage der Zeit, der Geduld und des Durchhaltevermögens, allen Flashbacks und Rollbacks zum Trotz, bis Diktaturen fallen. Nicht alle überleben, unsere Aufgabe ist es, die Namen zu nennen und die Verhältnisse, in denen Unterdrückung geschah. Auch dazu trägt die Studie von Paweł Zajas bei.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2025, Internetzugriffe zuletzt am 15. September 2025, Titelbild: Gelände der Leipziger Buchmesse 2025, Foto: NoRei.)
Die zensierte Zukunft
Ein schwieriges Kapitel der Science Fiction in der DDR
„Die Zensur ist eine Einrichtung Utopiens. Sie entspringt dem Wunsch nach Einheitlichkeit und Stabilität, und sie ordnet die Kunst dem Gesamtkunstwerk Staat unter. Ihre Wurzeln gehen bis auf Platon zurück, der in dem Dialog Der Staat Zimbelspieler und Märchendichter vor die Mauern seines Staates verweist, denn den Gründern der Stadt obliege es, ‚das Gepräge zu kennen, das für die Darstellungen der Dichter maßgebend sein muss, wenn sie überhaupt zugelassen sein wollen, selbst aber brauchen sie keine Erzählungen zu dichten.‘“ (Angela & Karlheinz Steinmüller, Die befohlene Zukunft, in: Rückblick auf das lichte Morgen – Essays zu SF und Phantastik in der DDR, Berlin, Memoranda, 2025)
Jeder weiß, dass es in der DDR ein entwickeltes Zensursystem gab. Es betraf die Science Fiction, aber nicht nur die Science Fiction. Interessant ist, dass die Zensur alle Zeithorizonte durchlief. Es gab erstens eine Zensur der Vergangenheit, beispielsweise bezogen auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung oder Stalins Terror und das Gulag-System. Über das Gulag-System durfte nicht berichtet werden. Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung hatte sich nach den jeweiligen Machtkonstellationen im Politbüro und dessen Sicht auf die Arbeiterbewegung zu richten. Hinzu kam zweitens eine Zensur der Gegenwart. Diese betraf sämtliche Kritik an der Partei, an der Staatsführung, an dem Repressionsapparat, aber auch an sozialen Problemen und in der Zeit, in der ich das erlebt habe, an Umweltproblemen. Einzelne Autorinnen und Autoren berichteten dennoch über Umweltprobleme und thematisierten diese in ihren Romanen und Erzählungen . Eine verdienstvolle Leistung!
Klassenauftrag, Perspektivbewusstsein und Parteilichkeit
Neben der Zensur der Vergangenheit und der Gegenwart gab es drittens auch eine Zensur der Zukunft, die man unter den Begriff des Perspektivbewusstseins bringen kann. Abweichungen vom offiziellen optimistischen Zukunftsbild wurden unterdrückt. Die Autoren hatten sich in gewissem Sinn an diesen positiven Ausblick auf eine kommunistische Zukunft zu halten. Im Prinzip hatte die Science-Fiction-Literatur in der DDR mehrere Funktionen, um ihren „Klassenauftrag“ zu erfüllen. Sie hatte zunächst eine Art didaktischer Funktion. Science Fiction sollte durchaus der Wissensvermittlung dienen oder auch der Lernmotivation. Sie sollte auch – vor allem im ökonomischen Interesse der Verlage – eine Unterhaltungsfunktion erfüllen, beispielsweise eine spannende Handlung haben. Im Rahmen der Unterhaltungsfunktion hatte die Science Fiction so wie andere Literatur auch „typische“ Charaktere und Situationen darzustellen.
An dem Wort „typisch“ hing eine ganze Theorie: Das „Typische“ war nicht das Normale, das man ständig auf der Straße antraf, sondern nach der Lehre des sozialistischen Realismus das, was die sozialistische Gesellschaft auszeichnet beziehungsweise auszeichnen sollte. Parteifunktionäre sollten daher ausschließlich positiv dargestellt werden, weil das eben „typisch“ für einen Parteisekretär wäre. Parteisekretäre kamen in der Science Fiction nur selten vor, aber auch Wissenschaftler hatten sich in dieses Bild zu fügen. Wissenschaftler, die in den sozialistischen Ländern tätig waren, waren dann eben auch überzeugte sozialistische Persönlichkeiten, vielleicht mit kleinen Schwächen, aber erst einmal positive Gestalten, während man Wissenschaftler, die in den traditionellen kapitalistischen Gesellschaften tätig waren, auch charakterlich deformiert darstellte. Diese Sicht veränderte sich mit der Zeit. Ein Beispiel sind außereheliche Liebesverhältnisse. In den 1950er Jahren waren sie verpönt. Man hatte den „Zehn Geboten der sozialistischen Moral“ zu folgen, die sehr kleinbürgerlich und puritanisch gestrickt waren. Damals konnte es einem Parteifunktionär zum Verhängnis werden, wenn er ein außereheliches Verhältnis hatte. Die utopischen Betriebsromane der Science Fiction dieser Zeit waren prüde. Aber westliche Agentinnen wurden regelmäßig als verführerische femme fatale dargestellt.
Zur ideologischen Funktion der Science Fiction gehörte insbesondere, dass „Wissenschaftlichkeit“ im Vordergrund zu stehen hatte. „Wissenschaftlichkeit“ bedeutete auch: Die Werke hatten den Maßgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft zu entsprechen. Die Sicht auf Geschichte und Gegenwart hatte sich nach den Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus zu richten. Dann galt es als geschichtlich konkret und korrekt. Außerdem hatte Pseudowissenschaft nichts in den Werken zu suchen. Bis auf die letzten Jahre der DDR, in denen sich manches veränderte, gab es in der DDR-Science-Fiction beispielsweise keine parapsychologischen Phänomene. Auch die Psychoanalyse nach Freud war lange verpönt; sie wurde erst in den späten 1970er und in den 1980er Jahren hoffähig. Auch das Wort „Kybernetik“ konnte man zunächst nicht verwenden. Dies änderte sich jedoch gegen Ende der 1950er Jahre, als die Kybernetik in der DDR sozusagen rehabilitiert wurde und für kurze Zeit beinahe zu einer Leitwissenschaft aufstieg. Insofern hat der Anspruch der „Wissenschaftlichkeit“ der DDR-SF lange Zeit einen engen Rahmen gesetzt, je nach dem, was sich die Partei darunter jeweils vorstellte.
Einen zentralen Punkt in der ideologischen Funktion bildete das sogenannte „Perspektivbewusstsein“. Das hieß erstens, dass man davon überzeugt zu sein und in den Romanen zu vermitteln hatte, dass die Zukunft dem Kommunismus gehört, dass das Jahr 2000 das Jahr des Kommunismus sein würde. Science Fiction hatte die kommunistische Zukunft zu imaginieren. Das war das eine, es hieß aber zweitens, dass man die Gegenwart aus der Perspektive der kommunistischen Zukunft betrachten sollte, somit die Position der Künftigen einnimmt. Aus dieser Sicht sollten die positiven Entwicklungen der sozialistischen Gegenwart herausgestellt werden, allenfalls konnte man schreiben, dass es noch gewisse Relikte bürgerlichen Denkens gab, die jedoch bald überwunden würden. Das betraf vor allem einige Werke des utopischen Betriebsromans in den 1950er Jahren, die relativ nahe an der Gegenwart spielten. Diese Werke mussten sich dann mit dem Blick auf die Gegenwart dem „Perspektivbewusstsein“ unterordnen. Oder man schummelte sich ein wenig heraus und hing die gesellschaftlichen Fragen nicht allzu hoch. Es gab immer auch Auswege.
Schließlich kam das Prinzip der „Parteilichkeit“ hinzu. Die Autoren hatten „Partei“ zu ergreifen. Sie sollten einen Beitrag zum „Friedenskampf“ leisten, in ihrer Auseinandersetzung mit dem Imperialismus, dem Militarismus und dem Revanchismus in Westdeutschland.
Eine Abfolge von Eiszeiten und Tauwettern
Vom Ansatz her war die Science Fiction in der DDR erst einmal utopisch. Man nannte sie zunächst auch „utopische Literatur“, man sprach auch vom „utopischen Betriebsroman“. Das „Perspektivbewusstsein“ hat zumindest keine Dystopie für die Gesamt-Menschheit zugelassen. Insofern steht einerseits die Science Fiction in der DDR wie die DDR-Literatur insgesamt eher auf der Seite der Utopie. Andererseits ist auch immer mehr Realität eingedrungen. Speziell sind in den 1980er Jahren dystopische Elemente eingeflossen, die zeigten, dass es auch in weiterentwickelten Gesellschaften zu Exzessen oder zu Rückfällen kommen kann.
Dezidierte, umfänglich ausgeführte Utopien brachte die DDR-SF jedoch kaum hervor. Neben unserem Roman „Andymon“ könnte ich noch „Weltbesteigung“ von Gottfried Meinhold nennen. Aber Meinholds Werk schildert bereits eine Utopie der Überforderung. Es passt gut zu einer Informationsgesellschaft, wo Menschen sich selbst immer höher takten, um einer hochtechnischen utopisch-perfekten Welt gerecht zu werden. Wir normalen Menschen mit unseren langsamen Denkprozessen passen eigentlich in Meinholds Utopia nicht mehr hinein. In den 1980er Jahren mischten sich immer wieder dystopische Elemente in die positiven Zukunftsbilder, sodass sich Ambivalenzen ergaben. Karsten Kruschel hat dies einmal sehr genau beschrieben. Für die DDR-Science-Fiction kann man einen langen Abschied von der Utopie konstatieren. Sie ist aber nie voll dystopisch geworden. Auch der Kampf gegen die amerikanische Science Fiction lief lange unter dem Stichwort, dass das, was dort beschrieben wurde, nicht nur imperialistisch und kapitalistisch, sondern auch dystopisch war: „Das ist nicht die Zukunft, die wir haben wollen!“
Im Verlauf der DDR-Geschichte wandelte sich die Kulturpolitik und mit ihr die Zensur immer wieder; das Korsett, das der Literatur vorgegeben wurde, war bald enger, bald weiter. Eiszeiten und Tauwetter wechselten einander ab. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 gab es zunächst einige Lockerungen, die aber bereits durch den 17. Juni 1953 in Frage gestellt und durch die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 unterminiert wurden. Gegen Ende der 1950er Jahre setzte eine ideologische Offensive der Parteiführung ein, in der auch innerhalb der SED bestimmte Kader kaltgestellt wurden und Wissenschaftler wie Ernst Bloch, die ursprünglich noch auf der Parteilinie waren, nach Westdeutschland auswanderten. Die Verlage bekamen damals viel engere Restriktionen. Nachdem die Zensur etwa um 1955 beinahe völlig abgeschafft worden wäre, ist sie gegen Ende der 1950er Jahre wieder verstärkt eingeführt worden, durch Umgruppierung der Behörde und auch dadurch, dass man Verlagsleitungen wieder enger in die Verantwortung genommen hat. Die Prozesse gegen Wolfgang Harich, Walter Janka und andere waren für alle eine Warnung. Es gab wieder eine Eiszeit.
Nach dem Mauerbau hatten viele Funktionäre den Eindruck, jetzt gibt es die Chance, den Sozialismus im eigenen Land aufzubauen, ungestört von diesen westdeutschen Agenten, Saboteuren, Diversanten und anderen, ohne dass uns die Leute davonlaufen. Unter diesen Umständen könnte man in der Literatur und der Kultur insgesamt mehr Freiheiten nutzen. Das war jedoch nur eine kurze Illusion. Ende 1965 zog die Parteiführung mit dem später so genannten „Kahlschlagplenum“ die Daumenschrauben wieder an; Verbote zeigten, wie eng die Grenzen gesetzt wurden. Gleichzeitig entwickelte sich in der Tschechoslowakei der „Prager Frühling“; der 1968 durch die sowjetische Invasion auf brutale Weise zerschlagen wurde. Die DDR-Führung fühlte sich in ihrem Kurs eines verschärften ideologischen „Klassenkampfes“ bestätigt.
Die nächsten Hoffnungen kamen mit dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker im Mai 1971. Erich Honecker sagte damals, man kenne „keine Tabus“, Literatur und Kunst sollten sich frei entwickeln können. Interessanterweise erlebte die DDR-SF genau jetzt einen Entwicklungsschub. Insbesondere blühte die kurze Form auf: viel mehr Erzählungen wurden geschrieben, publiziert und verbreitet als zuvor. Das ging gut bis zur Biermann-Affäre im Jahr 1976. Literatur rückte wieder stärker in das Augenmerk der Funktionäre. Viele Autorinnen und Autoren wanderten aus oder sie mussten sich ein Stück zurücknehmen, wenn sie in der DDR bleiben wollten.
In den 1980er Jahren wurde das Zensursystem nicht abgeschafft, aber es zerfiel. Es operierte willkürlicher und es wurde nicht mehr so rigide durchgegriffen. Wir konnten uns viel mehr erlauben. In den 1950er Jahren landete man für einen Witz noch im Gefängnis. Es gab Fälle, dass Science-Fiction-Fans, die sich Bücher aus dem Westen hatten mitbringen lassen, wegen des Besitzes und der Verbreitung von „staatsfeindlichem Schrifttum“ verurteilt wurden. Das wäre in den 1980er Jahren nicht mehr möglich gewesen. Die Atmosphäre war viel offener geworden. Das Schlimmste, was uns, Angela und mir, damals hätte geschehen können, war, dass wir in den Westen abgeschoben worden wären. Viel mehr konnte uns eigentlich nicht passieren. Gegen Ende der DDR haben Schriftsteller immer mehr gegen Zensur und allgemein gegen staatliche Bevormundung opponiert. Die Zensur kam auf Schriftstellerkongressen immer wieder zur Sprache, beispielsweise 1987 in einer Rede von Christoph Hein.
Offiziell wurde die Zensur zum 1. Januar 1989 abgeschafft. Man hat den Verlagen die Abschaffung mitgeteilt, aber paradoxerweise hat der Chefideologe im Politbüro, Kurt Hager, zugleich die Bedingung gestellt, dass niemand von der Abschaffung der Zensur erfahren dürfe, denn offiziell habe es ja gar keine Zensur gegeben, sondern nur einen Genehmigungsprozess. Die Verlage haben sich nicht unbedingt darüber gefreut, denn sie waren jetzt selbst in vollem Umfang verantwortlich für das, was sie veröffentlichten, völlig auf sich selbst gestellt. Es war die typische sozialistische Delegation der Verantwortung an andere Stellen. Niemand wusste, welche Risiken er mit einer Veröffentlichung einging.
Die Instanzen der Zensur
Als Autor in der DDR wusste man, dass jedes Manuskript durch verschiedene Instanzen ging. Die erste und schlimmste Instanz war bei manchen Autoren die Selbstzensur. Man wusste, was man schreiben durfte, welche Wörter, welche Perspektiven tabuisiert waren. Je nachdem, welche Erfahrungen man bereits gemacht hatte und wieviel Mut oder Hartnäckigkeit man aufbrachte, hat man sich an die Vorgaben gehalten oder versucht, sie zu unterlaufen. Es war die berühmte Schere im Kopf.
Die zweite Instanz war der Verlag. Als Autor hatte man es dort zunächst mit einem Lektor zu tun. Die Manuskripte wurden gut betreut. Hans Frey hat in „Vision und Verfall – Deutsche Science Fiction in der DDR“ (Berlin, Memoranda) von dem „gepflegten Mischwald der DDR-Science-Fiction“ geschrieben. Der Verlag übernahm so etwas wie eine staatliche Pflege dieses Mischwaldes. Der Lektor hat darauf geachtet, was der Autor schreibt. Gibt es vielleicht problematische Stellen? Im Verlag gab es dann noch den Cheflektor, den Verlagsleiter und meistens noch eine Parteigruppe – eine Hierarchie der Verantwortlichkeiten.
Zum Teil wurden die Verantwortlichkeiten wieder delegiert, vor allem bei „kitzligen“ Texten. Im Verlag wurde zu jedem Manuskript ein Gutachten erstellt und begründet, dass und warum das Buch gedruckt werden sollte. Zusätzlich hat man Außengutachter einbezogen, oft Literaturwissenschaftler, mitunter aber auch Akteure aus der Kulturpolitik. Sie waren insbesondere dann notwendig, wenn der Verlag für ein Buch, das nicht ganz unheikel war, von außen Argumente und Rückendeckung finden wollte. Mit beiden Gutachten wurde dann das Manuskript an die nächste Instanz, die eigentliche Zensurbehörde, weitergeleitet, die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Dort saßen Mitarbeiter, die verantwortlich waren, ihr Placet für das Buch zu erteilen. Ohne das Imprimatur der HV – wie wir sagten – ist kein Buch gedruckt worden.
In einigen speziellen Fällen (nicht in der Science Fiction) gab es sogar noch nach Druckbeginn oder Auslieferung Einwände und das Buch wurde wieder zurückgezogen. Gegen alle kulturpolitischen Wechselfälle sicherten sich die Verlage vertraglich ab. In den Verträgen war stets ein Passus enthalten, dass das Buch nicht fertiggedruckt und veröffentlicht werden müsste, wenn es „in der Zwischenzeit seine gesellschaftliche Wirkung verloren“ hätte.
Das war ein Gummiparagraf, der meist dann angewandt wurde, wenn der Autor in Ungnade fiel. Gelegentlich schauten sich auch unabhängig vom offiziellen Instanzenweg andere Personen ein Manuskript an. In den 1950er Jahren war – dem Vernehmen nach – das Schlimmste, was einem Buch passieren konnte, dass Lotte Ulbricht es vorab in die Hände bekam.
Wir selbst haben dergleichen bei der Science Fiction nicht erlebt, aber uns haben Krimiautoren berichtet, dass natürlich die Volkspolizei die Manuskripte daraufhin ansah, ob das Verhalten der Volkspolizisten im Roman auch den Dienstvorschriften entsprach. Man kann sich vorstellen, dass viele Tatort-Filme nicht mehr gezeigt werden könnten, wenn solche Maßnahmen angewandt würden.
Zwei Beispiele: Einer unserer Kollegen hatte einen Krimi geschrieben gegen den der Generalstaatsanwalt der DDR Einspruch einlegte. Denn in dem Krimi trat ein Generalstaatsanwalt auf, aber das war nicht er! Da es aber in der DDR nur einen Generalstaatsanwalt gab, musste das Buch überarbeitet werden. Gegenwartsautoren, die Romane über das Arbeitsleben, „Produktionsromane“, schrieben, hatten mitunter Probleme mit dem sozialistischen Kombinat, dem VEB, in dem der Roman spielte. Die Werksleitung opponierte und kritisierte, dass die Verhältnisse im Betrieb nicht korrekt dargestellt seien. Also musste der Autor das Manuskript anpassen oder den Handlungsort verlegen.
Bei all diesen Einflüssen und Befindlichkeiten hing es letztlich doch von den Menschen ab, von denen, die Einspruch erhoben, oder die wohlwollend auch Bedenkliches abnickten. Verlagsmitarbeiter erkannten bisweilen die ein oder andere „kitzlige“ Stelle, aber sie sagten sich: Wir sind ja zurzeit in einer Phase, in der es etwas lockerer wird, also probieren wir es einmal. Dagegen standen immer wieder Beckmesser, die Freiräume rechthaberisch oder aus Angst einschränkten. Und es gab in allen Instanzen und Institutionen immer wieder engagierte Menschen, die versuchten, die Freiräume auszuweiten.
In den 1970er Jahren fragte beispielsweise ein Mitarbeiter der Hauptverwaltung einen Verlag, warum man nicht endlich „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley druckte, das sei doch nicht antisozialistisch, sondern eher antikapitalistisch. Auch „1984“ von George Orwell wäre am Ende beinahe veröffentlicht worden. Wolfgang Both hat diesen denkwürdigen Vorgang ausführlich erforscht, dokumentiert und beschrieben.
Spielräume für das Unmögliche
Man kann die Geschichte der Zensur in der Science Fiction als kleine Erfolgsgeschichte der subjektiven Ausweitung der Spielräume für Imagination und Fantasie darstellen. Während in den 1950er Jahren eigentlich nur der sozialistische Betriebsroman möglich war, kam dann die Weltraumthematik auf, wobei auf die korrekte Zusammensetzung der Raumschiffbesatzungen geachtet werden musste. Der Raumschiffkommandant hatte aus der Sowjetunion zu kommen.
In den 1970er Jahren schlichen sich dann erste wissenschaftskritische und technikkritische Ideen ein. In den 1980er Jahren durfte die Science Fiction auch schon einmal Umweltprobleme kritisieren oder gesellschaftliche Überwachung ansprechen. Die DDR-SF wurde nicht nur vielfältiger, kreativ-kritische Sichtweisen nahmen zu. Angela und ich hatten das Glück, dass wir in den 1980er Jahren geschrieben haben, in denen viel mehr möglich war. Wir wurden allerdings auch mit der Zensur konfrontiert. Unser Lektor sagte mitunter: „Das geht nicht“. Das war so eine Floskel, die bedeutete, dass irgendwelche Instanzen etwas dagegen haben könnten. Es war objektivierter Zwang.
Wir haben in unserem Roman „Andymon“ darüber spekuliert, dass sich die Menschheit auf der Erde selbst ihr Grab geschaufelt haben könnte, durch Umweltzerstörung, einen Atomkrieg oder wodurch auch immer. „Das geht nicht“, sagte unser Lektor. Das widerspräche der sozialistischen Perspektive der Menschheit. Insofern waren wir gezwungen, etwas an dem Buch zu ändern. Wir haben einen einzigen Satz ergänzt. Wir haben eingefügt, dass eine Menschheit, die so wunderbare Raumschiffe gebaut hat, eigentlich ihre gröbsten Probleme überwunden haben müsste. Ein einziger Satz hat genügt, um das Werk Anfang der 1980er Jahre möglich zu machen. Wir haben es uns aber nicht verkneifen können, unseren Helden einige Absätze weiter sagen zu lassen, dass ihm noch nie jemand ein solches Bekenntnis abgerungen habe. Wir haben werksintern die Kritik an der durch die Zensur erzwungene Formulierung eingebaut. Allerdings, das muss ich gestehen, recht unauffällig. Unser Lektor sagte nachher, der eine Satz, den wir eingefügt hätten, habe das Buch „gerettet“.
Ähnliches haben wir bei der Biographie erlebt, die wir über Charles Darwin geschrieben haben. Dort hatten wir auch geschildert, wie sich Darwins Lehre in verschiedenen Ländern weiterentwickelt hat. Wir haben formuliert, dass in der Sowjetunion der „wissenschaftliche Scharlatan Lyssenko“ die Entwicklung der Biologie aufgehalten habe, weil er sich gegen die Genetik aussprach. Unser Lektor wollte das streichen. Schließlich habe Lyssenko den Stalinpreis bekommen. Wir haben geantwortet, wir hätten eigentlich schreiben müssen „der Mörder Lyssenko“, denn er hat veranlasst, dass Kollegen von ihm in den Gulag geschickt und umgebracht wurden. Wir hätten ihn lediglich einen „wissenschaftlichen Scharlatan“ genannt und wollten unbedingt, dass diese Formulierung nicht gestrichen wird. Wir haben den Lektor überzeugen können. Er hat die Streichung ausradiert. Irgendwann bekamen wir den Umbruch und die Wörter fehlten. Wir haben den Lektor sofort angerufen und beschimpft, doch er war nicht verantwortlich. Es war der Setzer: In der Druckerei hatte ein „klassenbewusster“ und wachsamer Mitarbeiter die Schlussfolgerung gezogen, dass das Ausradieren der Streichung besser zu übersehen sei. Wir haben uns letztlich durchgesetzt.
Man konnte also durchaus einen Kampf gegen bestimmte Arten von Zensur führen. Man brauchte dazu meist Verbündete. Das konnte durchaus der Lektor sein, jemand in der Hauptverwaltung oder auch jemand im Schriftstellerverband. Gerade der Schriftstellerverband hat sich bisweilen dafür eingesetzt, dass ein bestimmtes Buch gedruckt werden konnte. Beispielsweise hatte der Hinstorff Verlag, Rostock, mehrere Jahre lang das Manuskript einer Anthologie „Blitz aus heiterem Himmel“ liegen, in der es um Geschlechtertausch ging. Vor allem Frauen hatten Geschichten über Männer- und Frauenbilder und über das, was heute gender swap heißt, geschrieben. Der Verlag bekam kalte Füße, spielte auf Zeit. Die Autoren und Autorinnen haben mit Hilfe des Schriftstellerverbandes prozessiert und das Buch durchgesetzt.
Es gab immer Möglichkeiten, aber man musste sehr genau die Umstände kennen und ausnutzen, um das Mögliche möglich zu machen. Das „Perspektivbewusstsein“ war lange ein entscheidendes Kriterium. Rezensenten fragten gern: Das soll unsere Zukunft sein? Ein befreundeter Lektor, Ekkehard Redlin, hat uns von einem Erlebnis mit dieser nur allmählich überwundenen Sicht auf die SF berichtet. Er hatte ein Buch von Heiner Rank herausgebracht: „Die Ohnmacht der Allmächtigen“. Der Roman schildert eine Art Konsumgesellschaft, die von Künstlichen Intelligenzen beherrscht wird, während die Menschen ihre Fähigkeit zu eigenständiger Selbstverwirklichung verloren haben. Das Buch ist 1973 erschienen und fand großen Anklang. Der Lektor wurde bei einem Besuch bei Kulturfunktionären mit der Frage konfrontiert, wie man nur einen so verstörenden Roman herausbringen könne! Er sagte, er habe ihn herausgebracht. Und musste den fast schon klassischen Anwurf hören: „Und das soll unsere Zukunft sein?“
Diese Anekdote drückt auch einen Umschwung aus. Man hat relativ lange in den 1950er und den 1960er Jahren Science Fiction als Literatur über die Zukunft verstanden. Zu Beginn der 1970er Jahren begann man sich davon zu lösen. Der Lektor, der das Buch von Heiner Rank herausgebracht hat, hat damals einen Essay mit dem Titel „Entpflichtung im Nirgendwo“ verfasst. Science-Fiction-Literatur, so Redlin, soll aus der Pflicht genommen werden, sie soll frei spekulieren dürfen, fiktive Welten entwickeln, mit Fantasie spielen können und nicht dem engen Diktat der Kulturpolitik unterworfen werden, natürlich innerhalb bestimmter Grenzen; antikommunistische oder ähnliche Ansichten dürfe sie natürlich nicht verbreiten, sie sollte aber einen bestimmten Freiheitspielraum erhalten. Die Kollegen aus diesem Verlag – es war der Verlag „Das Neue Berlin“ – haben sich mitunter deshalb mit den Kollegen in der Hauptverwaltung auseinandersetzen müssen. Bei zwei Büchern, Wolfgang Kellners Roman „Der Rückfall“ und Michael Szameits „Alarm im Tunnel Transterra“ hatte die Hauptverwaltung ernsthafte Bedenken. Die in den Büchern geschilderten Verhaltensweisen entsprächen so gar nicht „unserem“ Zukunftsbild. Doch die Kollegen vom Verlag ließen sich nicht überzeugen und konnten die Bücher schließlich publizieren. Sie haben es geschafft, die Hürde der Zensur zu überwinden. Auch das war möglich.
Oft machte sich die Kritik an einzelnen bedenklichen Stellen fest, bei Wolfgang Kellner etwa, weil die Hauptperson an ein Automobil ein Hirschgeweih montierte. Das war ein Rückfall in alte Verhaltensweisen und für die Hauptverwaltung eine bedenkliche Stelle. Gutachter konnten hier durchaus einen großen Einfluss haben, wenn sie die betreffenden Stellen beispielsweise in den Gesamtzusammenhang einordneten und darauf verwiesen, dass diese Stelle als Kontrast zum Gesamtbild gebraucht würde, das damit deutlicher würde. In manchen Fällen sprach sich aber auch ein Gutachter gegen die Publikation aus oder forderte weitgehende Änderungen.
Ich bin selbst einige Male eingeladen worden, ein Gutachten zu verfassen. Ich lernte also beide Seiten kennen: die des Autors und die des Gutachters, der Stellung zu Werken von anderen nimmt. Mein Hauptgedanke war stets, die Veröffentlichung möglich zu machen. Es ging beispielsweise um ein Buch von Olaf Stapledon, das in der DDR in deutscher Übersetzung erscheinen sollte. Ich habe in meinem Gutachten herausgestrichen, dass Olaf Stapledon humanistische Positionen vertritt und als Lektor an einer Abendschule gute Verbindungen zur Arbeiterklasse hatte. Ich musste allerdings auch aufpassen, dass ich es als Gutachter mit den positiven Äußerungen nicht übertrieb und unglaubwürdig wurde oder bei einem vielleicht als zwielichtig geltenden Autor selbst ins Zwielicht geriet. Ich musste im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten und im Rahmen der eingeschliffenen Terminologie begutachten. Es war oft eine Gratwanderung. Andere haben es ähnlich gemacht, und wir haben so auch Bücher auf ihren Weg geholfen, die vielleicht auf den ersten Blick von manchen abgelehnt worden wären. Es war ein beständiger Kampf darum, wie man Bücher durchbekommt und was überhaupt nicht geht.
Der äußere und der innere Auftrag
Günter und Johanna Braun haben sehr intensiv die Frage der Selbstzensur thematisiert. Im Schriftstellerverband gab es dazu in den 1960er und den 1970er Jahren Debatten um den „inneren“ und den „äußeren Auftrag“. Der Autor hat den unbedingten inneren Auftrag, ein bestimmtes Buch, dessen Thema ihn bewegt, schreiben zu müssen. Außerdem wird an den Autor der äußere, „gesellschaftliche“ Auftrag herangetragen, mit dem Buch zum Aufbau des Sozialismus beizutragen. Die Kulturfunktionäre haben argumentiert, dass sich Autoren den äußeren Auftrag aneignen und zu ihrem inneren Auftrag machen sollten. Dann ginge alles gut und es entstünden auch die richtigen Bücher.
Die Brauns haben sich gegen dieses Ansinnen positioniert. Sie haben das in Franz Rottensteiners Quarber Merkur getan, also in einer Publikation im Westen. Ihr Fazit war, dass jemand, der sich selbst in Übereinstimmung bringt, sich selbst als Autor abtötet. Das war eine Erfahrung, die man auch aus der Geschichte der DDR-Literatur und – im Fall der Brauns – auch aus der Geschichte der Science Fiction in der DDR ziehen konnte.
Als Fazit kann man festhalten, dass die Praxis der Druckgenehmigung den Kontrollanspruch des Staates und damit auch der Sozialistischen Einheitspartei ausgedrückt hat. Der Genehmigungsprozess über die Hauptverwaltung jedoch, gegebenenfalls mit inhaltlichen Auflagen oder mit der Aufforderung, das Buch möglicherweise neu zu schreiben, war nur ein Teil des Weges von der Idee des Autors zum Buch. Dieser Weg lief in der DDR unter der Rubrik „Literaturentwicklungsprozesse“, ein Unterfangen, bei dem der Autor nur eine Rolle hatte und andere Akteure in diesen Prozess hineinkamen.
Die Science Fiction als solche hatte keinen besonderen Freiraum. Sie wurde nicht als spinnerte Literatur behandelt, die man nicht besonders hätte beachten müssen. Wie bei jedem anderen literarischen Werk wurde geprüft, ob da irgendwo falsche Ideologie, Relikte falschen bürgerlichen Bewusstseins, nicht genügend „Perspektivbewusstsein“ zu finden wären. Die SF wurde immer auf entsprechende Stellen hin durchleuchtet, in den 1980er Jahren aber schon viel weniger. Ein Freund von uns hat einmal eine Anthologie mit dem Titel „Jedes Buch ein Abenteuer“ veröffentlicht. Genau so war es.
Dadurch, dass so viele Akteure an den „Literaturentwicklungsprozessen“ beteiligt waren, wurde die eigentlich plangemäße Buchproduktion zu einem chaotischen Vorgang und zu einem Abenteuer mit nicht voraussehbaren Verzögerungen und Wendungen, etwa mit dem plötzlichen Vorziehen von anderen Titeln. Auch für die Verlage war es mit den Büchern immer eine Fahrt ins Ungewisse. Auf allen Ebenen konnte man Akteure beobachten, die versucht haben, mutig die Spielräume im Sinne dessen, was sie selbst als Freiheit begriffen hatten, in der Literatur auszuweiten, und andere, die sich strikt an irgendwelche Vorgaben gehalten haben, die mit bürokratischen Augen auf die Literatur geschaut haben. Von Dekade zu Dekade wurde in der DDR mehr möglich. Duckmäusertum, Beckmesserei und vorauseilender Gehorsam standen immer gegen Eigensinn bis hin zu Sturheit bei den Autoren sowie Mut und wahrgenommene Verantwortung bei Lektoren, Gutachtern und manchen Akteuren selbst in der Hauptverwaltung.
Karlheinz Steinmüller, Berlin
Zum Weiterlesen:
Die Romane und Essaybände von Angela & Karlheinz Steinmüller sind im Memoranda-Verlag erhältlich.
Karlheinz Steinmüller im Demokratischen Salon:
- Der optimistische Skeptiker, Juni 2023.
- Utopische Literatur Made in GDR, Mai 2023.
(Anmerkungen: Der Essay beruht auf einem Vortrag, den Karlheinz Steinmüller am 10. April 2025 unter dem Titel „Die befohlene Zukunft“ in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gehalten hat. Anlass war eine Ergänzung von mehreren Tafeln zur Wanderausstellung „Leseland DDR“ der Stiftung. Erstveröffentlichung als Essay im Demokratischen Salon im Juli 2025, Internetzugriffe zuletzt am 14. Juli 2025. Das Titelbild wurde von Thomas Franke zur Verfügung gestellt, der eine große Zahl von Science-Fiction-Literatur illustriert hat. Es zeigt einen Ausschnitt aus der von Thomas Franke illustrierten Neuausgabe von Arno Schmidts „Die Gelehrtenrepublik“. Die Rechte für dieses Bild liegen beim Illustrator. Siehe hierzu auch das im Demokratischen Salon erschienene Interview mit dem Titel „Parallele Welten – Synergetisch gebrochen“.)